Seit Astrid ihr die Wahrheit über die Eltern von Karola und Katja erzählte hatte, war Johanna gehemmt gegenüber den Zwillingen, obwohl Astrid ihr gesagt hatte, dass Katja normal sei, nur Karola hätte es getroffen. Karola würde eine Schwachsinnige werden. Das sei das Gesetz der Vererbung. Astrid hatte gesagt, es sei die Strafe dafür, wenn Schwester und Bruder miteinander vögelten und Kinder bekamen. Im Dorf wüsste jeder davon, aber niemand würde darüber reden, zumindest nicht offen. Astrid hatte ihre Ohren überall und im Friseurladen ihrer Mutter bekam sie mehr mit als die Erwachsenen ahnten. Johanna war schockiert gewesen.
Nein, mit dieser Karola wollte sie nicht allein sein, also winkte Johanna Astrid zu, die daraufhin zum Ufer schwamm.
„Na, hat Pummelchen keine Lust mit dir zu spielen?“
Mist, vor Astrid ließ sich nichts verbergen. Johanna wurde rot; sie hatte Astrid belogen und behauptet, sie müsse dem Opa helfen und könne deswegen nicht mit zum See kommen. Sie verstand selbst nicht, warum sie ein schlechtes Gewissen bekam, wenn sie sich mit Pummelchen treffen wollte. Es war dieser Blick, den Astrid beherrschte, der Johanna einschüchterte, dem sie sich nicht entziehen konnte. Selbst wenn Johanna auf Astrid wütend war, schaffte es Astrid, ihren Willen durchzusetzen.
Um von ihrer Lüge abzulenken, zog sie sich schnell bis auf die Unterhose aus und sprang ins Wasser. Johanna war eine Schwimmerin, die es gerade schaffte, ihren Kopf über Wasser zu halten. Gegenüber den drei Mädchen wirkte sie wie eine Fußkranke bei der Wassergymnastik. Nach ein paar Minuten glaubte sie, genug Buße getan zu haben und wollte zurück zum Ufer. Astrid entschied jedoch dagegen, indem sie den Freundinnen zurief, Johanna hätte noch keine Wassertaufe erhalten. Plötzlich tauchten Hände auf ihren Schultern Johanna unter.
„Im Namen des Vaters“, rief Astrid.
Johanna kämpfte sich nach oben, schnappte nach Luft, wurde erneut heruntergedrückt von Claudia.
„Des Sohnes.“
Dann war Katja an der Reihe.
„Und des Heiligen Geistes.“
Nun war der Spaß zu Ende, glaubte Johanna. Wieder spürte sie Astrids Hände.
„Und der Heiligen Lügnerin.“
Johanna hörte unter Wasser das Lachen, allmählich bekam sie Panik. Dann waren da wieder Claudias Hände.
„Und der Heiligen Pisse.“
Katjas Hände.
„Und des Heiligen Kuhfladens.“
Ein Fuß traf Johanna am Oberschenkel. Vor Schmerz schluckte sie noch mehr Wasser. Sie strampelte, versuchte an die Oberfläche zu kommen. Kaum konnte sie nach ein bisschen Luft schnappen, wurde sie wieder gepackt und untergetaucht. Sie hörte nicht mehr, was die Mädchen sagten. Nur ihr Gurgeln rauschte ihr in den Ohren. Nach einer Weile ließen sie von ihr ab, als Astrid ausrief, dass es nun reiche. Sofort schwamm Johanna ans Land. Sie zitterte, ließ sich auf den Boden fallen. Ihr war übel von dem vielen Wasser im Bauch und von der Anstrengung. Claudia war ihr gefolgt und holte einen Ball aus ihrer Tasche.
„He, Bohnenstange, kannst du wenigstens mit einem Ball umgehen?“, fragte sie. „Eher nicht. Was sind das für hässliche Sandalen?“ Claudia drehte einen von Johannas Schuhen in der Hand und schleuderte ihn dann ins Gebüsch. „Wo kauft deine Mutter ein, beim Lumpensammler?“
Der andere Schuh und das Kleid folgten im hohen Bogen. Johanna konnte sich nicht wehren, war damit beschäftigt, nicht in Tränen auszubrechen. Aber der Druck hinter der Stirn verstärkte sich. Sie konnte es nicht verhindern, Tränen quollen hervor. Claudia baute sich vor Johanna auf und ditschte den Ball gegen ihren Kopf. Geschickt fing sie ihn wieder.
„Jetzt kriegt sie auch noch Doofheitspickel.“
Johanna wischte sich über das Gesicht; sie bekam immer Flecken vom Weinen. Claudia tippte Johanna mit dem Fuß an, doch als sie nicht reagierte, befand sie wohl, dass es sich nicht mehr lohnte und ging ins Wasser.
Johanna wollte nach Hause, nach Frankfurt. Sie wollte, dass ihre Mutter kam und sie mitnahm, dass ihre Mutter sie nie wieder hierher schicken würde. Sie würde ihre Mutter anrufen. Langsam rappelte Johanna sich auf, sah kurz hinüber zu Karola, die weiterhin die Wasserratten anglotzte. Diese Missgeburt, diese blöde Karola. Johanna sammelte ihre Sachen ein und ging. Sie weinte noch immer, ihre Mutter würde sie nicht holen, ihre Mutter würde sich nicht die Mühe machen. An der Abzweigung schlug Johanna nicht den Weg zum Opa ein, sie wählte die Straße zu Maria.
Vor dem Haus sprangen Maria und Beatrice Seil. Maria merkte sofort, dass etwas nicht stimmte.
„Was ist mit dir?“ Ihre besorgte, sanfte Stimme war Balsam für Johanna. Wäre Maria doch nicht in der Clique, dann könnte Johanna öfters bei ihr sein, ohne Claudia und Astrid, doch Maria war gerne in der Clique.
„Ich Dussel“, Johanna zeigte ihren Ellenbogen und verdrehte die Augen, “habe mir den Musikantenknochen gestoßen.“ Sie grinste Beatrice an, die ein „Autsch“ erwiderte.
Froh, dass die beiden ihr glaubten, hellte sich ihre Stimmung auf, auch Maria, die ihr über den Arm strich und ihr Erdbeerpudding versprach, trug dazu bei. Selbst Beatrice, die sich selten für jemand anderen interessierte, gab Johanna das Seil in die Hand und band das andere Ende vom Zaun ab. Henriette, goldene Kette, goldener Schuh, wie alt bist du?, sangen sie, während Maria hüpfte. Fast vergaß Johanna darüber den Kummer, den sie verspürte. Eine halbe Stunde später holte Maria einen Teller Erdbeerpudding aus dem Kühlschrank.
Die Mädchen gruppierten sich auf dem Boden um den Teller. Sie knufften sich in die Seiten, lachten und verschmierten die Hälfte des Puddings, als sie versuchten, sich mit dem Löffelstiel im Mund gegenseitig zu füttern. Das war ein Spaß. Jemanden untertauchen, das war kein Spaß. Johanna musste an die Zwillinge denken und dann entschlüpfte ihr: „Komisch, die Zwillinge.“
Maria senkte ihren Kopf und leckte einmal über den Teller. „Och, an Katjas Stelle wäre ich auch sauer auf Karola“, sagte sie, „aber nur eine Woche.“
Beatrice zog ihren Finger akkurat um den Tellerrand. „Ich wäre total stinkig und ich finde es schäbig, wie feige Karola war“, Beatrice lutschte am Finger, „und sie gibt es einfach nicht zu.“
Johanna zog die Brauen hoch, sie wusste nicht wovon die beiden redeten. Maria klärte sie auf.
In der Schule waren Frau Baukötter, der Lehrerin, während der kurzen Pause fünf Mark abhanden gekommen. Sie hatte bereits den Aufgabenzettel für den Mathetest verteilt und die Schüler rechneten eifrig, als sie das Fehlen des Geldes bemerkte. Sofort mussten alle ihre Stifte aus der Hand legen und niemand durfte weiterschreiben bis der oder die Schuldige sich melden würde. Es war mucksmäuschenstill in der Klasse gewesen und Frau Baukötter hatte hinter ihrem Pult gesessen, ihre Armbanduhr abgebunden und gewartet. Die Zeit rückte vor. Der Köter, wie Astrid die Lehrerin nannte, schaute Maria immer wieder an. Fast hätte Maria die Anspannung nicht ausgehalten, glaubte sich erbrechen zu müssen, denn sie fürchtete, der Köter würde mit dem Finger auf sie zeigen. Der Köter mochte Maria nicht, sagte Gemeinheiten zu ihr. Erst letztens hatte er vor der Klasse gemeint, Maria müsse beim Diktat gemogelt haben, weil es nur zwei Fehler aufwies.
Frau Baukötter trommelte mit den Fingern aufs Pult und nahm Maria ins Visier. Schließlich stand sie auf und forderte Maria auf, die Schultasche zu leeren. Maria gehorchte. Mit zittrigen Händen breitete sie ihre Hefte und Bücher auf den Tisch aus. Das ging Frau Baukötter viel zu langsam, daher schritt sie auf Maria zu und durchsuchte die Sachen. Der Köter fand nichts und fletschte die Zähne. Kein gutes Zeichen. Denn das, was als Lächeln verstanden werden sollte, war eine Warnung. Die Stimme der Baukötter wurde höher und forderte alle Schüler auf, ihre Taschen zu leeren. Nur Astrid rührte sich nicht.
Der Köter kläffte sie an, ob sie eine Extraeinladung brauche. Doch Astrid kümmerte das nicht, sie zog sogar mit dem Fuß ihre Tasche zu sich, als die Lehrerin