Das Erwachen der Raben. Anke Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anke Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783741802850
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bis das Knacken aufhörte. Ja, sie würde ganz einfach einen Termin mit Sara ausmachen, keine Ausflüchte, kein Verstecken.

      Sie ging zum Wohnzimmer, blieb jedoch im Türrahmen stehen. Sara schnitt ihrem Vater gerade die Frikadelle zurecht, spießte ein Stück auf und drückte ihm die Gabel in die Hand. Während er in Zeitlupe kaute, berichtete sie ihm von ihrer letzten Ballettstunde, auch wenn er sich nur für die Fleischstücke auf dem Teller zu interessieren schien. Früher hatte Johanna bei dem Stichwort Ballett nur an Schwanensee und Tänzerinnen in Tutus gedacht. Nicht gerade prickelnd. Nun bewunderte sie Sara bei Auftritten, ihre Kraft, ihre Geschmeidigkeit, ihren Ausdruck. Sie schien den Boden gar nicht zu berühren. Ihr Tanz war wunderschön.

      Johanna musste an Beatrice denken, sie hatte Talent gehabt, den großen Durchbruch aber nicht geschafft und Maria, die von Goldmedaillen und Weltrekorden geträumt hatte, sie hatte es auch nicht geschafft. Trotz all des harten Schwimmtrainings. Es gibt keine Sicherheit, irgendetwas kann einem immer in die Quere kommen. War es allein Karola, die ihnen in die Quere gekommen war? Johanna wünschte sich für Sara die Erfüllung ihrer Träume, ihres Strebens. Sie wollte ihr eine Mutter sein, die ihr Rückhalt gab, die sie ermutigte. Im Moment fühlte sich Johanna aber nicht als solch eine Mutter.

      Sammy war ein guter Vater gewesen. Ihr lieber Sammy mit den Knopfaugen, dem pechschwarzen Schopf, der schokobraunen Samthaut, war immer für die Kinder da gewesen. Johanna sah noch das Bild vor sich. Sammy mit der kleinen Sara in den Armen, damit seine von Alpträumen geplagte Tochter schlafen konnte. Welche Frau würde einen solchen Mann nicht lieben, der zärtlich den Schlaf seines Kindes behütet, welche Frau würde einen solchen Mann nicht begehren? Sie tat es noch immer und das machte sie verrückt, weil sie sich so sehr nach etwas sehnte, was sie nie wieder bekommen würde. Seine Stirn gegen ihre Stirn gedrückt, hieß, ich bin für dich da, ihre Wange auf seinem Bauch, hier bin ich zu Hause. Seine Finger auf ihren Lippen, den Geschmack seiner Zunge, seine Hand zwischen ihren Schenkeln. Für sie auf ewig verloren.

      Johanna hatte öfter den Spruch gehört, Töchter suchten sich einen Mann, der dem Vater ähnelte. Das traf für sie nicht zu. Beide Männer waren zwar schön, aber auf unterschiedliche Art. Sammy, der Familienmensch, ihr Vater, der Arbeitsmensch. Wie wenig sie von ihrem Vater wusste, war Johanna erst in den letzten Jahren klar geworden. Sie erinnerte sich an das Gefühl der Überlegenheit gegenüber Claudia, das sie als Kind gehabt hatte. Zumindest in einem Punkt. Die blöde Kuh war so eingebildet, nur weil ihr Großvater Bürgermeister im Dorf war. Wenn Claudia über ihren Großvater sprach, dann sagte sie immer „der Bürgermeister“. Alle Familienmitglieder, alle im Dorf taten das seit Jahrzehnten. Johanna hatte ihn einmal auf Fotos bei Claudia zu Hause gesehen und nur gedacht, was für ein Klops. Der Mann hatte den Nacken eines Stiers, die Augen eines Schweins, den Kopf eines Elefanten.

      Wie elegant und schön war dagegen ihr Vater. Er war ein wichtiger Mann, er leitete eine Zeitung, ohne ihn gäbe es die Zeitung gar nicht. Die Zeitung las man auf der ganzen Welt und nicht nur in einem mickrigen Dorf. Johanna hatte Verständnis dafür gehabt, dass ihr Vater selten Urlaub nahm. Er hatte immer viel Arbeit. Nur dass er, wenn er denn Urlaub machte, alleine fuhr, kränkte sie, wenigstens sie hätte er mitnehmen können.

      Von seiner Familie wusste sie damals nur, dass es schlechte Menschen waren, wie sie darauf gekommen war, wusste sie nicht mehr, irgendetwas musste sie aufgeschnappt haben. Es musste etwas sein, das viele, viele Jahre zuvor geschehen war, als der Vater noch ein Junge war. Auch der Vorfall im Park musste damit zusammenhängen.

      Ausnahmsweise hatte der Vater Johanna aus dem Kindergarten abgeholt und da es ein Sommertag war, wollte Johanna ein Eis von dem Eisverkäufer im Park. Während sie mit Vorfreude die Sorte auswählte, was gründlicher Überlegungen bedurfte, betrachtete der Vater ein Mädchen im Rollstuhl, das beim Reden den Mund aufriss und so komisch mit dem Kopf wackelte. Jetzt musste auch Johanna hinsehen. Es sah ekelig aus, wie die Begleiterin dem Mädchen den Sabber abwischte, dabei musste das Mädchen älter als Johanna sein. Plötzlich raunzte die Frau den Vater an, was es da zu gucken gäbe. Das fand Johanna nicht in Ordnung. Doch der Vater entschuldigte sich. Warum nur? Er setzte zu einer Erklärung an, sagte „meine Schwester“ und brach dann ab, entschuldigte sich nochmals und ging mit Johanna nach Hause. Das war gemein, wegen dieser Frau bekam sie kein Eis, dabei war sie den ganzen Tag so artig gewesen.

      Ihre Laune hob sich dann aber, als die Mutter sie mit einem Gipsarm begrüßte. Sogleich hatte Johanna eine Idee, was sie darauf malen könnte. Gras, Schmetterlinge und ein Reh. Darunter würde sie ihren Namen schreiben, genauso wie es der Künstler gemacht hatte, auf dem Bild, das der Vater gekauft hatte. Doch die Mutter wollte davon nichts hören und schickte Johanna auf ihr Zimmer. Für heute hatte sie genug von den Erwachsenen und sie hörte noch von unten ihre Mutter sagen, „ich könnte tot sein, ihr wäre das egal.“ Fast glaubte Johanna ein Schluchzen zu hören, vielleicht tat der Mutter der Arm weh.

      Außerdem war ihr Vater ein wohlhabender Mann. Kurz vor der Hochzeit hatte er Johanna ein Haus geschenkt. Er wollte, dass seine Tochter angemessen lebte, von Sammy erwartete er nicht viel. Für ihn war Sammy nicht der richtige Mann für seine Tochter. Sammy war Übersetzer und hatte sich und die Kinder mit wenig lukrativen Aufträgen über Wasser gehalten.

      Johanna hatte am Anfang bezweifelt, dass ihre Eltern geeignete Großeltern abgeben würden. Ihre Erfahrungen sprachen dagegen. Mittlerweile hatte sie ihre Meinung geändert. Menschen werden älter, verändern sich oder haben einfach nur andere Rollen. Selbstverständlich hatte ihr Vater für die Kinder in einen Aktienfond investiert, damit sie die Erträge später für ihre Ausbildung verwenden könnten. Aber da war noch mehr. Er besuchte Saras Auftritte. Es war ihm anzumerken, wie beeindruckt er von Sara war, von ihrem Willen, ihrer Leistung. Er nahm Anteil an ihrem Leben, war selbst ein Teil davon. Die Kinder fuhren gern zu ihren Großeltern. Der Vater war sogar einmal mit ihnen nach Paris geflogen, ins Disneyland. Selbst die Mutter durfte mit. Natürlich wollte sie ihren Liebling David begleiten. Endlich hatte sie ein Kind, das schmusen wollte, das ihr im Garten half, das gern mit ihr bastelte. Die Oma begeisterte sich für alle Pläne von David, egal ob Insektenforscher, Profihandballer oder nun Rockstar auf seiner Wunschliste stand.

      Wie anders war dagegen Johannas Verhältnis zur Mutter. Sie erinnerte sich an den Tag im letzten Landsommer, an dem sie geglaubt hatte, ihre Mutter wäre zum Opa gekommen, weil sie ihre Tochter vermisste. Ein Irrtum. Johanna war mit Astrid verabredet gewesen, vor dem Friseurladen. Kaum hatte Johanna sich auf die Stufen gesetzt, öffnete sich die Ladentür und eine Frau mit einem Haarturm auf dem Kopf bat sie hinein. Astrids Mutter erklärte, Astrid müsse noch eine Besorgung für sie erledigen und käme später. Die Frau nahm sie mit nach hinten in die Küche und bot ihr Limonade an. Johanna war unwohl zumute, sie war noch nie in der Wohnung gewesen und irgendwie kam es ihr vor, als dürfe sie nicht hier sein. Astrid hatte gesagt, vor dem Salon, immer trafen sie sich vor dem Salon.

      Johanna saß auf einem Stuhl, die Hände im Schoß gefaltet, vor sich ein Glas und versuchte, nicht zu viel von dem schweren Parfüm einzuatmen. Astrids Mutter fingerte eine Zigarette aus einer Schachtel und hinterließ Lippenstift auf dem Filter. Sie blies den Rauch in Johannas Richtung, nicht absichtlich, sondern weil sie den Kalender an der Wand studierte. Endlich drückte sie die Zigarette im Aschenbecher aus. Johanna war froh, den Gestank los zu sein.

      „So ein Mistkerl“, sagte die Frau. Der Kalender schien ihre volle Aufmerksamkeit zu fordern. „So ein Mistkerl“, murmelte sie, „am fünfzehnten hatten wir Verkehr und am zwanzigsten wäre ich wieder dran gewesen.“

      Johanna wagte nicht, Astrids Mutter anzusehen, das konnte nicht wahr sein. Sie verabscheute Erwachsene, die so taten, als wären Kinder Schwachköpfe, die nichts verstanden. Sie war zwölf Jahre alt. Aus lauter Peinlichkeit starrte Johanna die Tischdecke an. Was erwartete die Frau? Wollte sie Johannas Meinung zu Sex mit Mistkerlen hören? Oder glaubte sie, Johanna wüsste nicht, was Verkehr bedeutete, neben Straßenverkehr. Johannas Handflächen schwitzten, hoffentlich kam Astrid bald.

      „Du trinkst wenig, schmeckt es dir nicht?“ Auf der Stirn von Astrids Mutter erschien eine Steilfalte, als wäre sie besorgt. Johanna nahm einen großen Schluck.

      „Ist lecker“, sagte sie über das süße Zeug. Die Falte verschwand und ein Lächeln erschien. Sie sah nett aus.

      „Du