„Ich sollte mit dem Rauchen aufhören, Astrid klaut mir ständig welche.“ Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr, als würde sie das Ohr damit liebkosen wollen. „So ein Luder.“ Johanna suchte nach einer Ausrede, damit sie von hier abhauen konnte. „Ich bin zu nachsichtig, glaub mir. Ich habe deiner Mutter nicht übel nachgeredet, obwohl sie es verdient hätte.“ Jetzt verstand Johanna nur Bahnhof. Warum redete diese Frau überhaupt mit ihr? „Jede Frau musste Angst um ihren Mann haben, und meiner ...“, sie hing ihren Gedanken nach.
Johanna schob sich langsam vom Stuhl, vielleicht könnte sie verschwinden, bevor Astrids Mutter es mitbekam. Zu früh gefreut. Johanna zuckte zusammen, als sie fortfuhr.
„Da flogen die Eier gegen die Fensterscheibe, die Wäsche auf der Leine war zerschnitten, nicht schön. Das hätte sie nicht tun sollen, wo die Frau Bürgermeister erst ein paar Wochen unter der Erde war. Aber deine Mutter hätte auch ihren Bauch nicht so zeigen müssen.“ Auch die zweite Zigarette war geschafft und auf einmal hellte sich das Gesicht der Frau auf. „Ich habe ein Klassenfoto mit deiner Mutter drauf, richtig putzig.“ Sie erhob sich vom Stuhl. „Bin gleich wieder da“, flötete sie.
Nichts wie weg hier. Es war nicht das erste Mal, dass sie Andeutungen zu hören bekam. Sie konnte sich sehr wohl ein Bild daraus zusammensetzten, aber sie vermied es, daran zu denken. Was sie nicht in Sätze formte, was sie nicht aussprach, konnte sie als nicht vorhanden betrachten. Johanna eilte hinaus auf die Straße.
Auf dem Heimweg begegnete ihr Astrid, die sich darüber beschwerte, dass Johanna nicht auf sie gewartet hatte. Das stimmte zwar nicht, aber Johanna stupste sie an und rief, „fang mich doch.“ So konnte sie ihre Gedanken verscheuchen. Sofort nahm Astrid die Verfolgungsjagd auf. Es war ein Heidenspaß. Johanna kreischte, weil Astrid sie bald eingeholt haben würde. Sie umkurvte einen Traktor, einen Brunnen und schließlich einen Misthaufen. Plötzlich machte es Plumps und Astrid lag auf dem Boden. Sie fluchte über den Dreck auf ihrer Hose. Johanna versuchte zu helfen und klopfte den Schmutz von der Jeans, aber der Mist hinterließ Spuren.
„Scheiße, jetzt kriege ich Hausarrest“, sagte Astrid.
„Wegen des bisschen Schmutzes bestimmt nicht“, tröstete Johanna.
„Na, toll, du machst dich nie dreckig und ich sehe wieder wie Sau aus. Meine Mutter kriegt die Krise.“
Johanna überlegte. „Ich kann doch mitkommen und erzählen was passiert ist.“
Astrid verzog das Gesicht. „Klar, dann sieht sie, was dir nicht passiert ist.“ Sie musterte Johanna. „Aber wenn du auch dreckig wärst, dann ...“
Gerne hätte Johanna diesen Blick von Astrid auch gekonnt, der einen durchbohrte. Ein Blick, der forderte, verbot oder lauerte. Johanna ergab sich und kniete sich mit ihrer Cordhose in den Misthaufen. Freunde taten so etwas füreinander. An dem unveränderten Gesichtsausdruck von Astrid erkannte sie, dass es nicht reichte, also rutschte sie hin und her. Astrids Augenfarbe wurde von einem Grubenschwarz zu einem Seidenschwarz. Sie half ihr beim Aufstehen, doch als Johanna die Richtung zum Friseurladen einschlug, winkte Astrid ab, das sei nicht nötig, ihre Mutter würde ihr schon glauben.
Das letzte Stück zum Opa rannte Johanna und stoppte vor dem Renault ihrer Mutter. Es war das erste Mal, dass ihre Mutter sie besuchte. Sie befürchtete nichts Schlimmes, weil sie sich freute und spähte daher durchs Fenster ins Haus. In der guten Stube saß der Opa vor dem Sekretär. Ein paar Meter hinter ihm stand die Mutter, die Arme vor der Brust gekreuzt, die Hände zu Fäusten geballt und starrte auf den Rücken ihres Vaters. Sie konnte ihre Mutter nicht verstehen, aber den Ton ihrer Stimme. Genauso hatte sie gesprochen, als Johanna ihren Opa kennengelernt hatte. Im ersten Sommer.
„Das ist deine Enkeltochter“, hatte die Mutter damals gesagt, „ob du willst oder nicht.“
Der alte Mann hatte sich nicht vom Sofa gerührt, hatte nicht widersprochen, als die Mutter seine Enkelin hinter sich herzog und ins Schlafzimmer brachte, das einmal ihr gehört hatte. Sie hatte den Koffer aufs Bett gelegt und ausgepackt.
„Du bleibst hier und du benimmst dich.“ Johanna hatte den Zorn hinunter geschluckt, weil sie die Tränen kommen spürte. Das durfte auf keinen Fall passieren. „Die Landluft wird dir gut tun, blass wie du bist.“ Die Mutter hatte sie zum Abschied umarmen wollen, aber Johanna hatte sich weggedreht und getan, als würde das Stofftier auf dem Bett ihre ganze Aufmerksamkeit beanspruchen. So war die Mutter ohne ein weiteres Wort davongefahren. Allein. Ohne sie.
Johanna ging nun ins Haus und wollte hören, was los war. Auf Hals und Wangen der Mutter waren rote Flecken. Die bekam sie, wenn sie sich aufregte. Die Mutter erblickte Johanna und schritt auf sie zu, packte sie am Handgelenk und schimpfte sie aus: „Schau dich nur an, wohnst du im Schweinstall? Wir fahren nach Hause!“ Das war doch nur ein bisschen Dreck auf der Hose.
Wieder einmal überrumpelte die Mutter Johanna, die sich mitziehen ließ. Oben auf dem Flur begann Johanna sich zu wehren. Sie wollte bleiben, schließlich trafen sich heute alle Rabenkinder am Lagerfeuer, um Mais und Kartoffeln zu grillen und Gruselgeschichten zu erzählen. Wie oft hatte Johanna sich gewünscht, ihre Mutter würde kommen und sie holen, aber sie kam immer erst am Ende der Ferien, wenn die Schulpflicht wieder begann. Die Mutter wollte sie jetzt nur mitnehmen, weil sie sich mit dem Großvater gestritten hatte. Also stemmte sich Johanna gegen die Mutter, schrie, sie werde nicht mitkommen. Eine Art Tauziehen begann und da trat Johanna der Mutter vors Schienbein. Das Gesicht der Mutter verfärbte sich flammenrot. Sie griff nach dem erstbesten Gegenstand auf der Kommode, schlug zu. Das Bügeleisen traf Johanna an Hals und Schlüsselbein. Es krachte auf die Dielen und die Schritte der Mutter entfernten sich.
Johanna war schwarz vor Augen, fast wäre sie umgekippt, wenn sie nicht die Wand entlang auf den Boden gerutscht wäre. Nachdem die ersten Schmerzwellen abgeklungen waren, fiel ihr das Atmen wieder leichter. Sie musste eine Weile dort gekauert haben bis sie wieder Schritte hörte. Ob es der Mutter leid tat? Doch es war Astrid.
Sie schob die Hand weg, die sich Johanna vor den Hals hielt.
„Was hast du gemacht?“ In der Stimme lag Neugier. Was sollte Johanna erzählen? Niemals die Wahrheit.
„Die Missgeburt ist mit einem Stock auf mich losgegangen“, sagte Johanna und hoffte, ihr würde geglaubt. „Ich habe Karola gesagt, sie soll uns nicht dauernd hinterherlaufen.“ Eine Notlüge war keine Lüge, oder?
Astrid hockte sich hin und strich über das Metall des Bügeleisens. „Deine Mutter hat euch besucht. Die kommt doch sonst nicht.“ Mist, Astrid glaubte ihr nicht. Woher wusste sie von dem Besuch ihrer Mutter? Scheiße. Nun schaute sich Astrid wieder die Verletzung an und dann ihr direkt in die Augen. „Karola braucht eine Lektion. Oder was meinst du?“
Jetzt war der Zeitpunkt, die Wahrheit zu sagen. Doch Johanna konnte die Hürde nicht überspringen, denn Astrid wartete nur darauf, dass Johanna sich als Lügnerin preisgab. Das war mal wieder ihre Art sie zu demütigen. Johanna nickte.
Am Abend saßen die Mädchen um das Lagerfeuer am See. Es war Astrid, die von der Attacke berichtete, worauf Katja ihre Schwester verfluchte, die eine Plage sei. Johanna beeilte sich, die Sache herunterzuspielen und meinte, sie hätte die Sache schon vergessen und hätte Karola nicht provozieren dürfen. Dennoch war Katja einer Meinung mit den anderen Mädchen, sie wollte Karola ein für allemal verscheuchen. Johanna versuchte noch, Maria auf ihre Seite zu ziehen, setzte ihre Hoffnung auf sie, doch Maria war nicht weniger empört als Katja.
„Wie wäre es, wenn wir die Landratte ins Wasser werfen?“, schlug Astrid vor und blickte Johanna in die Augen. Spott las Johanna in ihnen.
„Die dumme Nuss ersäuft uns dann. Nein, sie soll denken, wir würden sie umbringen wollen.“ Katja leckte sich über die Oberlippe. „Ich habe eine Idee.“
Die Mädchen entwickelten einen Plan nach dem anderen, schmückten sie begeistert aus. Für den Rest des Abends schwieg Johanna. Astrid hielt sich zurück, beobachtete stattdessen Johanna, die nicht wusste, was sie tun sollte. Sie konnte nicht zurück. Die Worte kamen einfach nicht über ihre Lippen, egal wie sehr sie sich anstrengte,