Das Erwachen der Raben. Anke Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anke Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783741802850
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Johanna sich im Sommer nach dem Unglück weigerte, zum Opa zu fahren, beharrte ihre Mutter zunächst darauf. Sie packte sogar den Koffer, woraufhin Johanna ihn den Müllmännern übergab. Nie im Leben wollte sie mehr ins Dorf fahren. Schon allein der Gedanke daran verursachte ihr Übelkeit. Die Schuldgefühle ließen sie nicht aus dem Würgegriff.

      Der Schreck, als Karola sich nicht mehr bewegte, das verzweifelte lieber, lieber Gott, lass alles gut werden, und dann die Gewissheit, dass alles Hoffen vergebens war. Sie war ein schlechter Mensch, das wusste sie nun bis in ihr Innerstes. Sie konnte den Freundinnen nicht mehr gegenübertreten, denn sie wollte keine Geister heraufbeschwören. Es war ein Unfall, es war ein Unfall. Das hatten sie nicht gewollt. Doch Karola lag jetzt in einem Grab. In einem weißen Spitzenkleid, auf einem weißen Kissen, in einem Kindersarg.

      Anfangs sah Johanna, wenn sie abends im Dunkeln lag, Karola vor sich. Weiß wie Kreide und die Hände über der Brust gefaltet in der tiefen, feuchten Erde. Johanna wusste nun, sie hatte es verdient, dass ihre Mutter sie nicht liebte. Sie konnte es jetzt akzeptieren. So wie sie es auch hinnehmen musste, dass Maria nicht mehr ihre Freundin war. Maria, bei der sie immer Trost gefunden hatte, wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben.

      Nach dem Unfall hatte Johanna das Gewissen geplagt, doch auch die Angst. Die Angst, dass die Freundinnen ihr die Schuld geben würden und die Angst vor Claudia, die ausrasten würde und die Angst vor Astrid, die sie jederzeit verraten könnte. Mit wem hätte Johanna darüber sprechen können? Natürlich mit Maria. Maria würde Johannas Lüge nicht gut finden, doch sie würde ihre Hand nehmen. Sie tadeln und sie trösten. Also hatte Johanna sich auf zu Marias Haus gemacht. Sie ging sogleich nach hinten in den Gemüsegarten, wo sie Maria auch antraf.

      Maria zupfte Unkraut aus dem Beet und hob kaum den Kopf, als Johanna an ihre Seite trat. Auf ihre Begrüßung erhielt Johanna keine Antwort, stattdessen konzentrierte sich Maria auf das Unkraut als sei es eine Aufgabe, die keine Unterbrechung erlaubte. Johanna wusste nicht, wie sie anfangen sollte, also fragte sie, ob sie helfen könne, doch Maria schüttelte nur den Kopf. Dann nahm sie allen Mut zusammen und versuchte die Worte zu sprechen, die ihr im Kopf schwirrten. Sie wollte Maria alles gestehen. Doch da war kein Lächeln, nur Marias Rücken und kein Wort wollte ihr über die Lippen kommen, so sehr sie es auch versuchte. Ihr Mund öffnete und schloss sich wieder. Die Worte steckten im Hals fest, waren widerspenstig wie Köderhaken. Würde Maria sie doch nur anschauen. Johanna holte tief Luft, wollte reden, da stand Maria auf. Sie ging an ihr vorbei ins Haus. Kein Wort, kein Blick. Als wäre Johanna ebenfalls für sie gestorben.

      Für Johanna fühlte es sich wie ein Schlag an. Schlimmer. Sie starrte auf das Haus, wartete darauf, dass Maria zurückkommen würde, aber Maria kam nicht. Maria, ihre Freundin, ließ sie stehen. Johanna spürte, wie sich ein Bleigewicht auf ihre Brust senkte. Maria wollte nichts mit ihr zu tun haben, Maria mochte sie nicht mehr. Astrid musste gepetzt haben und jetzt würde Maria nie mehr mit ihr reden. Maria verabscheute sie, da war sich Johanna sicher. Es war zu spät.

      Mit gesenktem Kopf ging Johanna nach Hause. Auf halbem Weg musste sie sich ins Gras setzten, da ihr schwindelig wurde. Sie stützte die Stirn auf die Knie und umschlang ihre Beine. Sie glaubte, nie wieder aufstehen zu können, so elend und schwach fühlte sie sich. Sie wollte nur noch weg von hier.

      Als die Mutter im Jahr danach nicht locker ließ und sie drängte, im Dorf die Ferien zu verbringen, waren die Gefühle, die sie durchlebt hatte, präsent als sei keine Zeit verstrichen. Die Mutter appellierte an ihr Herz. Wer wüsste, wie lange der Großvater noch leben würde, und er würde sich freuen seine Enkelin zu sehen. Sie blieb jedoch bei ihrem Nein, der Großvater könne sie doch mal besuchen kommen. Es gab noch einiges Hin und Her. Als Johanna die Suppenschüssel aus Meißner Porzellan fallen ließ, schickte ihre Mutter sie zu einer Ferienfreizeit nach Ameland.

      Der Tiefpunkt zwischen ihnen kam dann im Herbst. Johanna kehrte gerade zurück aus dem Kino, als sie ihre Mutter weinend vorfand, die Augen verquollen. So hatte sie ihre Mutter noch nie gesehen. Sie blieb vor dem Wohnzimmer stehen, überlegte, ob sie sich wieder rausschleichen sollte. Doch ihre Mutter sah sie. Plötzlich sprang die Mutter vom Stuhl auf und schrie sie an: „Dein Großvater ist gestorben und du amüsierst dich!“ Sie schlug ihr die Tür vor der Nase zu.

      Der arme Großvater, so allein gestorben. Gerne hätte sie ihn besucht gehabt, aber es ging doch nicht. Sie wunderte sich über die Mutter. Hatte der Großvater ihr so viel bedeutet? Es gab doch nur eine Mauer zwischen ihnen. Sie dagegen hatte sich mit dem Großvater verstanden. Alles im Haus hatte sie sich ansehen, alles anfassen dürfen. Nie hatte der Großvater sie beschimpft oder geschlagen. Sie genoss jede Freiheit. Bei ihrer Ankunft gab es stets einen Teller mit ihren Lieblingskeksen auf dem Küchentisch und im Schrank Kakao, Nutella und Cornflakes. Einmal hatte er ihr sogar gezeigt, wie man schnitzt. Am Ende hatte sie ein wunderschönes Schwert und am Tag ihrer Abreise lag sein Perlmuttmesser auf ihrem Kopfkissen. Der Mutter hatte sie es nie gezeigt, weil sie fühlte, es würde sie ärgern.

      Und nun war Johanna mit der Trauer der Mutter konfrontiert. Damit konnte sie weniger umgehen als mit der Wut, denn zu ihrer Verwunderung fühlte sie den Schmerz der Mutter, wie er sich in ihrer Brust ballte, wie er sich in den Kopf schlich und sie nur noch weinen wollte. Und gerade dieses Gefühl erfüllte Johanna mit Zorn. Sie wollte der Mutter nicht nahe sein. Sie und die Mutter hatten keine Gemeinsamkeiten und so sollte es bleiben. Armer Großvater.

      Bis zum Tag der Beerdigung hatte die Mutter sie nicht mehr beachtet und sie auch nicht gefragt, ob sie mitfahren wollte. Sie war in ihr Auto gestiegen und hatte einen Zettel am Kühlschrank zurückgelassen mit Aufgaben, die Johanna zu erledigen hatte.

      Nach der Beerdigung des Großvaters gab es nie wieder Schläge, aber die Mutter konnte ihre Tochter auch ohne Fäuste verletzten. Wie an dem Tag von Johannas Abiturball.

      Das Motto lautete: Freibeuter der sieben Meere. Die Eltern hatte Johanna nicht eingeladen, weil das ihr Abend werden sollte, was der Vater verstand, die Mutter ihr jedoch verübelte. Johanna machte sich gerade im Bad zurecht. Sie trug ein schwarzes Kopftuch, schwarze Hosen und schwarze Kniestiefel, dazu eine weiße Bluse mit breiten Ärmeln und tiefem Ausschnitt. Natürlich musste der Busen zur Geltung kommen, nicht zu groß, nicht zu klein, schön rund war er. Mit ihm hatte sie Selbstsicherheit gewonnen; sie war jetzt nicht mehr ein kleines Mädchen, das herumgeschubst wurde, sondern eine Frau. Für eine Spätentwicklerin nicht schlecht. Trotzdem hatte sie keinen Freund. Jungs schienen ihr die Aufregung und das Getue nicht wert. Außerdem waren die Jungs, die sie kannte, alle Mittelmaß. Da regte sich nichts bei ihr.

      Sie schwärzte ihre Augen mit Kajal und Wimperntusche. Perfekt. So sah sie verwegen aus, geradezu gefährlich. Gerade wollte sie Lippenstift auftragen, als ihre Mutter einen Blick ins Bad warf, den Kopf schüttelte und weiterging. Plötzlich kehrte sie um.

      „Was ist nur mit euch jungen Leuten los? Statt ein hübsches Ballkleid anzuziehen, verkleidet ihr euch, als sei Halloween. Wie willst du jemals einen Freund finden?“

      Die Mutter hätte gar nichts zu sagen brauchen, Johanna wusste auch so, was sie dachte. Vermutlich wollte sie ihr nur die Laune verderben. Erstaunlich, dass sie nichts über den Ausschnitt sagte.

      Stattdessen sagte die Mutter: „Du bist wie ich.“

      Das war ein Witz, sie war ganz und gar nicht wie ihre Mutter, nicht ein Stückchen. Warum redete diese Frau solch einen Unsinn? Doch dann kam der Hammerschlag, gekonnt wie es nur ihre Mutter beherrschte.

      „Sex wird überbewertet. Dein Vater und ich hatten nie welchen und führen trotzdem eine gute Ehe. Es gibt sicherlich einen Jungen da draußen für dich, der ebenso denkt.“ Schon rauschte sie zu ihrer Staffelei, denn sie hatte das Aquarellmalen begonnen.

      Der Lippenstift war am Kinn gelandet. Johanna nahm ein Kosmetiktuch und wischte ihn weg. Sie hatte nichts gehört, nein, sie musste es aus ihrem Kopf verbannen. Zu spät. Die Mutter hatte es ausgesprochen. Es gab keinen Weg mehr daran vorbei. All die Jahre hatte Johanna es vor ihr und sich selbst wie ein Geheimnis gehütet. Ihr Wissen, das sie sich aus Aussprüchen der Dörfler gebildet hatte. Niemals hätte sie es gegen ihre Mutter verwendet, auch nicht im härtesten Kampf. Immer hatte sie geglaubt, dass es ein dunkler Punkt im Leben ihrer Mutter war und den hatte Johanna schützen