Das Erwachen der Raben. Anke Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anke Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Сделай Сам
Год издания: 0
isbn: 9783741802850
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schließlich sei so etwas widerlich. Frau Baukötters Gesichtszüge entglitten. Fast wäre ihr das Taschentuch, das sie immer in den Händen hielt, heruntergefallen. Die Frau hatte Schwachstellen und damit kannte Astrid sich aus, auch damit, wie man sich eine Freistunde verschaffte. Die Baukötter hauchte ein „Verschwinde aus meinem Klassenzimmer“, was sich Astrid nicht zweimal sagen ließ.

      Der Köter stürzte sich auf die nächstsitzende Schülerin, die Schwäche zeigte. Karola wagte nicht aufzuschauen, als die Lehrerin ihre Bücher und Hefte schüttelte und auch nicht als der Geldschein hinausfiel. Die Baukötter war selbst dermaßen überrascht, dass sie zunächst nur starren konnte, aber dann hob sie den Schein mit gespreizten Fingern auf. Sie hatte wieder die Oberhand.

      „Ich bin sehr enttäuscht von dir, Karola“, sagte die Lehrerin und dann zu Katja gewandt, „und von dir genauso, weil du mir nichts gesagt hast.“ Sie klatschte in die Hände und befahl der Klasse, mit dem Test fortzufahren. Den Zwillingen jedoch nahm sie den Aufgabenzettel weg. „Strafe muss sein“, säuselte die Baukötter bittersüß.

      Katja hatte über Tage nicht mit ihrer Schwester gesprochen, hatte sich nicht ihre Ausreden anhören wollen.

      Jetzt verstand Johanna. Wie gemein, für das Klauen der Schwester bestraft zu werden. Beatrice schimpfte über Karola. Sie konnte nicht vergessen, dass beinahe die ganze Klasse wegen ihr bestraft worden wäre. Ihr Vater hätte das Cello für eine Woche weggesperrt, wenn sie eine sechs im Mathetest bekommen hätte, er wartete doch nur auf eine Gelegenheit. Maria warf jedoch ein, wie schlimm es für Karola gewesen sein musste. Erst der Beinbruch, wegen dem sie so lange im Krankenhaus bleiben musste und dann, kaum war sie wieder in der Schule, die viele Angst, wegen des Diebstahls bestraft zu werden. So war Maria, sie konnte nicht aus ihrer Haut.

      „Papperlapapp“, widersprach ihr Beatrice, „Karola hat sich alles selbst eingebrockt. Warum klettert sie auch auf einen Baum oder klaut Geld von der Lehrerin?“

      Johanna wollte wissen, was es mit dem Sturz vom Baum auf sich hatte. Beatrice verdrehte die Augen. Karola, der Angsthase, der Tölpel, hatte sich auf einen Baum getraut, um ihren Drachen zu holen und war runtergefallen, obwohl Astrid hinterher geklettert war, um ihr zu helfen.

      Johanna wollte plötzlich nichts mehr davon hören. Sie erklärte, ihr Opa würde warten und verabschiedete sich, während die beiden sich auf zum See machten. Astrid, dachte Johanna. Sie spürte ihr Herz pochen. Würde Astrid Karola das antun? Würde sie Karola absichtlich vom Baum stoßen? Und hatte sie etwas mit dem gestohlenen Geld zu tun? Astrid entging doch sonst nichts. Schnell verscheuchte sie den Verdacht und lief nach Hause.

      Sie hockte sich in den Sessel und las „Pippi Langstrumpf“, darüber vergaß sie alles andere bis der Opa sie zum Abendessen rief. Danach spielte sie mit ihm eine Partie Mühle. Das war ein Abendritual, das beide genossen. Kurz bevor Johanna ins Bett gehen wollte, trank sie in der Küche noch ein Glas Milch. Vor Schreck verschüttete sie ein paar Tropfen, als ihr jemand auf die Schulter klopfte. Astrid wollte mit ihr zur Scheune. Das war ihre Art der Wiedergutmachung, dass wusste Johanna. Johanna wischte die Milch weg und erklärte ärgerlich, sie müsse jetzt schlafen. Natürlich ließ Astrid nicht locker. Sie solle nicht eingeschnappt sein wegen des bisschen Wasserschluckens. Johanna schaltete das Licht aus, sie hatte keine Lust zu streiten.

      „Sei nicht immer so langweilig, du benimmst dich wie ein Baby“, nervte Astrid.

      „Ich bin halt langweilig“, antworte Johanna, wobei sie bereits die Treppe hoch ging.

      „Du weißt ganz genau, dass ich nur mit dir dort hingehe“, zischte Astrid, „du willst doch meine Freundin sein?“

      Fast hätte Johanna nein gesagt, doch sie betrachtete gerne mit Astrid die Sterne. Bei ihrem ersten Besuch der verwitterten Scheune, draußen vor dem Dorf, hatte ihr Astrid den Sternenhimmel erklärt. Sie wusste alles über die Milliarden Planeten und Galaxien. Astrid hatte auf die Sterne gezeigt; Kassiopeia, Andromeda, Herkules, den Drachen, den Adler, den Schlangenträger, den Delfin, den Großen Bären, den Kleinen Wagen, den Polarstern, und hatte ihr Geschichten erzählt. Sie war eine Geschichtenerzählerin, bei der Johanna es kaum abwarten konnte, wie alles zu Ende ging und gleichzeitig immer mehr hören wollte.

      Also folgte Johanna wieder einmal Astrid auf dem Weg. An der Scheunenseite kletterten sie die Leiter hoch und stiegen durch eine Luke ein. Nun war es stockfinster, nicht das Geringste war zu erkennen. Astrid führte Johanna an der Hand zu einer weiteren Leiter, die aufs Dach führte. Johanna musste sich auf Astrid verlassen. Was wäre, wenn Astrid sie loslassen würde, nur um sich lustig darüber zu machen, wie Johanna herumirrte und schließlich heulte? Oder wenn Astrid sie am Rand des Heubodens losließ und sie hinunterfiel, so wie Karola vom Baum gestürzt war? Nein, nein, das würde sie nicht tun. Sie erreichten die Leiter und Astrid half ihr hinauf.

      Als sie rittlings auf dem Dach der Scheune saßen, bereute Johanna nicht, Astrid gefolgt zu sein. Über ihnen die Sterne, zu viele um sie zu zählen. Johanna fühlte sich, als säße sie auf dem Dach der Welt. Den Kopf in den Nacken gelegt, sog sie das Funkeln in sich auf und ging auf Reise. Hier würde Astrid sie nicht als Langweilerin, als Baby bezeichnen, hier war Astrid selbst ein Kind des Purpurreichs. Johanna, den Blick auf den Polarstern gerichtet, spürte eine Hand auf ihrem Handrücken.

      „Draco“, sagte Johanna, „was können wir tun?“

      Seit der letzten Schlacht hatten sie viele Freunde, viele Gefährten verloren und die Häscher des Heiligen Rates waren ihnen noch nie so nahe auf den Fersen. Das Ende - ihr Ende - schien gekommen zu sein. Und Ganter, der Verräter, würde triumphieren.

      „Ank-Te-Ka“, sprach ihre Schwester, „uns bleibt nur die Wahl zwischen Tod und Schwarzer Materie“.

      Ank-Te-Ka sah keinen Unterschied zwischen den Möglichkeiten. Wenn sie den Sprung in die Schwarze Materie wagen würden, gäbe es keine Rückkehr und die völlige Ungewissheit, was sie erwarten würde. Die Wunde am Bein, die ihr die Wurmdiener geschlagen hatten, schmerzte. Draco wusste um den Schmerz, solche Wunden heilten nie.

      „Ich werde es wagen“, sagte Draco, „ich bin bereit.“

      Natürlich war Draco bereit, etwas anderes hätte Ank-Te-Ka nie erwartet, doch was war mit ihr? Sie spürte die Trauer in sich aufsteigen. So viel gekämpft, so viel gehofft, alles verloren. Sie konnte niemanden mehr retten, nicht sich selbst, auch nicht die Staubkinder, deren Todesschreie tausendfach mit jedem Atemzug zu ihr drangen. Millionen gab es einst und Ank-Te-Ka liebte jedes einzelne von ihnen. Die Trauer hüllte sie wie eine nasse Wolldecke ein, erstickte ihren Atem, ihren Willen. Sie gab Draco den Abschiedskuss auf die Stirn, jetzt würden sich die Wege der zwei letzten Kriegerinnen des Purpurreichs trennen.

      „Niemals lasse ich von dir, Schwester“, flüsterte Draco, „du gehörst zu mir und ich gehöre zu dir.“

      Nie hatte Johanna eine größere Verbundenheit zu Astrid gefühlt als dort oben auf dem Dach der Welt. Dort oben liebte sie Draco.

      Johanna legte die Karteikarten zurück auf den Schreibtisch. Es hatte keinen Sinn, heute würde sie nicht zum Arbeiten kommen. Sie ging in die Küche, um Sammys Essen in die Mikrowelle zu stellen. Sara stand am Herd und kochte einen Hirsebrei. Es herrschte Funkstille. Johanna wartete mit verschränkten Armen auf das Piepen des Geräts, warf ab und an einen Seitenblick auf Sara. Dann reichte es ihr.

      „Isst du jetzt nicht mehr, was ich koche?“, fragte sie gereizt. Sara tat so, als hätte sie nichts gehört. „Wenn du schon kochst, dann wenigsten für alle, dann spare ich mir das.“

      Nun drehte sich Sara zu ihr. „Du kochst doch so gut wie nie für uns.“

      Es war nicht Johannas Art überzureagieren, aber nun packte sie den Topf am Stiel und warf ihn in die Mülltonne. Sara öffnete den Mund. Gewitter lag in der Luft. Das Piepen ertönte. Johanna nahm den Teller heraus und drückte ihn Sara in die Hand.

      „Kümmere dich um deinen Vater“, sagte sie und ihre Miene verriet, dass sie keinen Widerspruch duldete.

      Johanna rieb sich über die Augen, was war das denn? Sie würde sich bei Sara entschuldigen müssen. Nein, auf