Die Passion Jesu im Kirchenlied. Christina Falkenroth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christina Falkenroth
Издательство: Bookwire
Серия: Mainzer Hymnologische Studien
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000157
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hussititschen Bewegung volkssprachlichen Gesang verboten. Andere vermuten aufgrund der rhythmischen Komponenten einen böhmischer Einfluß oder eine slawische Melodiebildung.

      Ich meine, daß die reiche Tradition volkssprachlicher Gemeindegesänge im MA das Primat der Strophe in deutscher Sprache unterstützt3, ebenso die Übereinstimmung von Wortakzent und musikalischem Akzent in der Strophe „Ehre sei dir, Christe“. Dagegen aber spricht für eine ursprünglich lateinische Fassung, daß sich die Existenz verschiedener deutscher ma Fassungen nur schwerlich begründen läßt, wenn sie nicht Übersetzungen aus dem lateinischen Vers sind.4 Es wird unklar bleiben müssen, welche Fassung zuerst da war, aber die Entstehungszeitpunkte können nicht weit auseinanderliegen, da die Verbreitung beider Versionen groß ist.

      Neben der Strophe „Ehre sei dir, Christe“ hat eine andere Strophe aus einer längeren Strophenreihe aus der von ihr gezeugten Tradition einen eigenen Traditionsstrang eröffnet: „O du falscher Judas, was hast du getan“, auch: „O du armer Judas“, das ursprünglich die letzte Strophe des „Eya der grossen liewe“5 bildete, das evtl aus ma Passionsspielen stammt, erstmals 1392 bezeugt ist6 und sich dann verselbständigte.

      Die breite Rezeption dieser Einzelstrophe zeigt sich in verschiedener Hinsicht: Die „Judasstrophe“ wurde seit dem 15. Jh. oft kontrafiziert und zum Spottlied auf weltliche Herren umgedichtet.7 So z.B. in Luthers Dichtung „O du arger Heintze“ gegen Herzog Heinrich von Braunschweig in seiner Schrift gegen den Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel „Wider Hans Worst“, 1541.8 Die Judasstrophe dient bis weit ins 16. Jh. als Melodieangabe über Liedern, die sich von dieser Strophe oder dem „Ehre sei dir Christe“ herleiten. Es entstand eine große Zahl von Tenorliedsätzen in der ersten Hälfte des 16. Jh. über diese Weise. Auch hierzu gab es Rückübersetzungen, so in Böhmen9 oder „o tu miser juda“10.

      Beide Einzelstrophen sind in das reformatorische Singen vielfältig aufgenommen worden:

      Als früheste reformatorische Dichtung liegt das Lied „Ach wir armen Menschen“ aus dem Gesangbuch von Königsberg 1527 vor, als dessen Verfasser Herzog Albrecht von Preußen vermutet wird.11 Der Text ist eine Paraphrase auf die Judasstrophe, in der aber nicht mehr dieser, sondern die Sünder thematisiert sind. Martin Luther nahm sie für sein Lied „Unsre große Sünde“12 zum Anlaß.

      In dieser Reihe steht schließlich auch Hermann Bonnus mit seinem Lied: „Och wy armen Sünders“ Magdeburg 1543, vermutlich auf der Basis einer vorreformatorischen Dichtung, bzw. hochdeutsch „Ach wir armen Sünder“ in „Psalmodia“ von Lucas Lossius 1561. Dabei steht es unter der Überschrift „… up de wyse, Och du arme Judas“. Auch in dieser Dichtung bildet demnach die Judasstrophe die musikalische und inhaltliche Bezugsgröße.

      Trotz seiner weltlichen Verwendung als Spottlied bleibt das Lied seiner liturgischen Herkunft verbunden. Nach 1550 werden vermehrt Texte gedichtet, die den Dankcharakter des „Ehre sei dir Christe“ aufnehmen; die Judas-Paraphrasen treten zurück.

      Zudem versuchen einzelne eine Rückführung des Liedes in seine ursprüngliche liturgische Verwendung in der Mette, indem der Zusammenhang mit dem Hymnus Rex Christe factor omnium, der sich einer ebenso breiten Rezeption erfreute wie das hier besprochene Lied, wiederherzustellen.

      Nikolaus Herman hat in seinen „Cantica sacra Evangelia Dominicalia“, Joachimsthal 1558, zu den sechs lateinischen Strophen des Rex christe einen lateinisch-deutschen Mischtext als alternierenden Gesang zugesetzt, der formal die Verwendung im römischen Gottesdienst aufnimmt, dazu auch die urspr. römische Fassung mit einem einfachen Kyrieleison wiederaufgenommen. Eine weitere Fassung mit einem deutschen Text des Rex christe ist angefügt.

      Der Kyrie-Ruf hat zwar immer in den Zusammenhang gehört, doch in wechselnder Anzahl der Rufe und in verschiedenen musikalischen Formen.

      Das urspr. Ende der Leise hatte nur ein Kyrieleison. In weltlichen Sätzen des 16. Jh. wie in ma liturgischen Versionen, z.B. Neumarkt 1480 waren fünf Rufe angefügt (Kyrieleison – Christe eleison – Kyrieleison – Christe audi nos – salva nos). So geschah es auch z.T. bei der Wiederherstellung des liturgischen Kontextes mit Rex christe. Hermann Bonnus schließlich reduzierte es auf drei Kyrie-Rufe.13

      Die vielfältige Aufnahme und Bearbeitung der Strophe weist darauf hin, daß reformatorisches Dichten Tradiertes aufnahm und umgestaltete, und stellt so vor Augen, daß wie in anderen Fragen auch im Dichten nicht das Beseitigen von Traditionen, sondern Bewahren und Umgestalten im Vordergrund stand. Die Tatsache der vielen noch belegbaren Neudichtungen läßt zudem den Schluß zu, daß eine noch größere Vielfalt vorhanden gewesen sein muß, da in der Regel sich nie alle Versuche durchsetzen.

      Zu den Fassungen in EG und der hier besprochenen im EKG

      Im EKG ist das Lied „O wir armen Sünder“ abgedruckt.

      Dieses war zunächst veröffentlicht worden in niederdeutscher Sprache in Magdeburg 1542 (Christoph Adolph) und 1543 (Hans Walther) in „Eyn schoen Geistlick Sangboeck“: „Och wy armen Sünders“, unter der Überschrift: „Van der sünde und van dem lidende Christi / up de wyse, Och du arme Judas“; EKG 57 gibt wieder die Fassung, die erstmals in hochdeutsch: „Ach, wir armen Sünder“ in Psalmodia von Lucas Lossius, Wittenberg 1561 herausgegeben wurde mit ganz entsprechender Überschrift „CANTICVM DE PECCATO et Paßione Christi, …, ad melodiam cantici ueteris: O du armer Judas“ im vierstimmigen Satz von Johannes Bertram Cellensis.

      Im EG ist es verkürzt und mit umgestellter Strophenfolge abgedruckt. Der Strophe „Ehre sei dir“ sind zwei Strophen aus dem Lied „O wir armen Sünder“ angefügt. (Reihenfolge: Str. 7-3-6). Die urspr selbständige Strophe „Ehre sei dir“ steht hier zu Beginn, wäherend sie von Bonnus an das Ende gestellt wurde. Damit wird sie zur das Lied bestimmenden Strophe (in Thema und Titel) und erhält im EG eine Position zurück, die sie als Schlußstrophe nicht hatte. Darum scheint die Weise im EG nicht unangemessen. Aber um der Aussageabsicht Bonnus’ gerecht zu werden, ist es sinnvoll, die EKG-Fassung zu besprechen.

      2.4.2 Die musikalische Gestalt

      Die Strophe

      Kennzeichnende Eigenart der Melodie ist, daß sie in einer Spannung von Gleichmaß und Bewegung gehalten wird. Der Eindruck des gleichmäßigen wird erweckt durch verschiedene Faktoren: Alle Zeilen beginnen mit dem gleichen Ton: Mit einem a’, das dreimal wiederholt wird. Alle Zeilen haben eine rhythmisch gleichbleibende Struktur: Sie bestehen aus gleichmäßigen Vierteln. Die Mitte der Zeile, gleichsam ein Ruhepunkt, wird gebildet aus zwei halben Noten1, das Ende besteht aus einer Ganzen. Dadurch wird den einzelnen Zeilen eine symmetrische Struktur verliehen, die zum Eindruck des Gleichmaßes beiträgt.

      Das viermalige Singen des gleichen Tones zu Beginn jeder Zeile hat eine doppelte Wirkung: Einerseits gibt es dem Zeilenbeginn den Charakter der unendlichen Tonwiederholungen und eines ewigen Gleichmaßes, andererseits bewirken diese eine Stauung und bauen so eine fast bis ins unerträgliche gehende Spannung auf.2 Die Tonwiederholungen geben dem Zeilenbeginn also einen drängenden Charakter; die aufgebaute Spannung ist so groß, daß sie der beiden halben Noten und zudem der zweiten Zeilenhälfte mit ihrer diatonisch absteigenden Linie bedarf, die Entspannung herbeiführen, bis in der ganzen Schlußnote ein Ruhepunkt erreicht ist.

      Die ganze Note verleiht zudem jedem Zeilenende eine Schlußwirkung, durch die jede einzelne Zeile eine eigentümliche monadische Existenz gewinnt. Diese Gestaltung verleiht jeder Zeile den Charakter von Spannung und Entspannung. In der Ununterschiedenheit der Zeilen in diesem Punkt liegt ein weiterer Faktor, der den Eindruck des Gleichmaßes unterstreicht.

      Bewegung gelangt in die Melodie durch die Intervallik der beiden Halben in der Mitte der Zeile, obwohl ihre Metrik gleichzeitig – wie oben gezeigt – das Gegenteil, Beruhigung, bewirken.

      Die halben Noten der einzelnen Zeilen betrachtend zeigen sich fallende Intervalle, die sich stetig vergrößern: Sekunde – Terz – Quart. Mit der Terz in der vierten Zeile verkleinert sich das Intervall wieder und führt so zum Ende der Vier-Zeilen-Einheit hin.