Die Passion Jesu im Kirchenlied. Christina Falkenroth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christina Falkenroth
Издательство: Bookwire
Серия: Mainzer Hymnologische Studien
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000157
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      Tonführung

      Die Melodie ist geprägt durch ihre erste Zeile: Auf dem höchsten Ton, der auch allein an dieser Stelle vorkommt, setzt sie ein, indem dieser zweifach wiederholt wird und der Melodie Eindringlichkeit verleiht. In diatonischen Schritten mit einer weiteren Tonwiederholung wird die Melodie zur Quart unter dem Einsatzton herabgeführt. Diese erste Zeile prägt das Lied in seiner Gesamtheit und gibt ihm den Charakter eines gleichmäßigen Schreitens, in dem jedem Ton sein eigenes Gewicht gegeben ist. Wie in der ersten Zeile der Ambitus einer Quarte durchschritten wird, durchlaufen auch die anderen Zeilen keine großen Tonskalen, sondern verharren in einem Tonbereich.

      Die erste Zeile taucht sequenziert nach unten in Z5 wieder auf. Z5 leitet den zweiten sonst bis auf einen Ton identischen Teil ein, der durch diesen Einsatz im unteren Tonraum einen anderen Charakter bekommt. Es stehen sich so Z1–4 und Z5–8 als zwei Liedteile gegenüber.

      Der Beginn auf dem höchsten vorkommenden Ton ist für eine geschlossene Liedform ungewöhnlich, ebenso die Beschränkung des Tonraumes der ersten Zeile auf die obere Quarte des Gesamtambitus. Der Zusammenhang mit dem Text, „Christus, der uns seligmacht“, legt nahe, in dem exaltierten Einsatz und dem Verharren auf dieser Höhe die Symbolisierung des präexistenten, im himmlischen Thronrat zur Erlösung der Menschheit bestimmten Christus zu sehen. In der Symbolik der Musiksprache bilden die Tonräume in ihrer Höhe bzw. Tiefe die Sphären von himmlischer und irdischer Wirklichkeit ab.

      Der Blick auf die Tonräume der einzelnen Zeilen innerhalb der beiden Teile zeigt insgesamt eine Bewegung nach unten (Einsatz in Z1 im Bereich der Quarte a’-d’’, Z2: Quintraum f’-c’’, Z3: Sext d’-b’, Z4: b-f’), auch der Verlauf der einzelnen Zeilen stellt zum Ende eine Bewegung nach unten dar. Dies entspricht der Deutung: Das Lied hat die Inkarnation, den Gottessohn im status exinanitionis und sein irdisches Schicksal zum Inhalt.

      Der gleichmäßige schreitende Charakter kann darin als Symbol für das δει des gewaltsamen Endes Christi, die Notwendigkeit des Leidens zur Erfüllung des göttlichen Heilsplanes verstanden werden.

      Der in der ersten Liedzeile zum Ausdruck gekommene Charakter wird also durch die verschiedenen Parameter musikalischer Liedanalyse unterstützt:

      Metrum

      Das Metrum ist von gleichmäßigen Vierteln bestimmt, die in Halben pulsieren. Jeweils am Ende einer Doppelzeile führen sie in ein Melisma, das durch eine punktierte Halbe bestimmt wird. Dieses regelmäßige Fortschreiten der Viertel hat eine intensivierende Wirkung, weil sie innerhalb der Zeilen keine Entspannung erfahren, etwa durch eine fließende oder rhythmische Figur, sondern erst in dem Melisma am Ende einer Doppelzeile. Die Gliederung in vier Doppelzeilen ergibt im Lied lange Spannungseinheiten, die durch das Ruhe und Gleichmaß verleihende Metrum bestimmt sind. Das Melisma bekommt dadurch eine herausgehobene Wirkung, wenn nach der Stauung in der punktierten Halben eine leichte Entspannung durch die folgenden beiden Noten bewirkt wird.

      Melismen haben ihre Wurzel im liturgischen Gesang der römisch-katholischen Kirche: Sie sind zu kleinen Figuren geschmolzene Reminiszenzen an den Halleluja-Tractus. Der Affekt des Jubilus, die Freude, und seine theologische Verbindung zum auferstandenen Christus, die liturgisch im Halleluja-Gesang zu Wort kommt kommt, ist symbolhaft auch im Melisma vorhanden. In diesen viermaligen Jubilus münden die Doppelzeilen und sind damit ein Hinweis in der Sprache der Musik auf das durch die Passion Jesu geschehene Heil, der über die Beschreibung des Leidens im Wortlaut des Textes hinausgeht. Auch hier ist also, wie schon im oben beschriebenen Einsatz auf dem maximalen Ton und dem Verbleiben im oberen Tonraum, symbolisch der auferweckte, erhöhte Christus dargestellt.

      Struktur

      Die Struktur der Melodie ist symmetrisch; sie läßt sich in zwei Teile untergliedern, die sich nur durch die jeweils erste Zeile unterscheiden, die dennoch durch die Sequenzierung von Z1 zu Z5 eine Entsprechung haben. Die Zeilen schließen sich zu Doppelzeilen zusammen, was nicht nur durch die Melismen, sondern auch durch die aneinander anschließenden Melodiebögen zum Ausdruck kommt. Die Doppelzeilen untereinander haben eine Strukturanalogie, indem die Notenwerte jeweils der ersten und der zweiten Hälfte in allen Doppelzeilen einander entsprechen: Die Zeilenlänge beträgt immer 4 bzw. 5 Halbe.

      Ein Zusammenhang besteht darüberhinaus noch zwischen Z2 und Z4, bzw. Z6 und Z8, also dem jeweils zweiten Teil der Doppelzeilen, indem Z4 ebenfalls eine Sequenzierung von Z2 um eine Quinte tiefer ist.

      Die Struktur der Melodie birgt also in sich selbst eine vielfältige Symmetrie, die so den Ausdruck des Gleichmaßes, der durch das Metrum entsteht, unterstützt.

      Intervallik

      Abgesehen von den Tonwiederholungen am jeweiligen Beginn der beiden Liedhälften ist das dominierende Intervall die Sekunde, die der Tonführung den Charakter des ruhigens Fortschreitens verleiht.

      Viermal leiten aufsteigende Terzen zu den melismatischen Enden der Doppelzeile hin: dieser Tonschritt bewirkt jeweils eine Steigerung der Spannung, die sich auf der langen Note weiter verdichtet, bevor sie durch die absteigende Melodielinie am Ende der Zeile eine leichte Entspannung erfährt.

      Wort-Ton-Zusammenhang

      Eine starke Bezogenheit von Wort und Ton ist zu beobachten. Es entsprechen sich Sinnakzente und musikalische Akzente besonders in der ersten Strophe, oft auch in den anderen.

      Die musikalischen Schwerpunkte, d.h. die Melismen an den Enden der Doppelzeilen, tragen die inhaltlich bedeutsamen Verben: „begangen – gefangen – verklaget – (Schrift) saget“

      Auch in den weiteren Strophen ist dies z.T. gelungen: geschlagen, tragen, mit Geysseln geschmissen, zerrissen (3), geschlagen, Wehklagen (4), verlassen, erbebet, zerklübet (5), zerbrochen, gestochen (6), Leiden, meiden, bedenken, schenken (8).

      Die Verben, die den Verlauf der Passion bestimmen, sind also an die gewichtigen musikalischen Stellen gesetzt. Nicht nur semantisch, auch theologisch vermitteln sie den Kern der Ereignisse und sind Träger der Botschaft.

      Darüberhinaus bildet der höchste Ton einer Zeile, das relative Maximum, oft musikalisch den Schwerpunkt, der gleichzeitig dem theologisch zentralen Wort entspricht: Christus auf d’’ (Z1), ward für uns (Z3).

      Die innige Verwobenheit von Textinhalt und musikalischer Aussage macht deutlich, daß Weisse die Aufgabe der Melodie als Aussageträger in seinem Dichten miteinbezogen hat. Damit steht er schon in einer Tradition: Auch der lateinische Hymnus, der ihm als Vorlage gedient hat, läßt diese Wort-Ton-Bezogenheit erkennen; auch ist der Hymnus die liturgische Form, die per se schon mit dieser Bezugnahme arbeitet, im Gegensatz zu den anderen Stücken, in denen verschiedene schon existierende Texte auf z.B. einen Psalmton oder einen Rezitationston gesungen werden; in diesen ist der Bezug nicht „miteinkomponiert“.

      Das Zusammenwirken von Text und Musik

      Der Charakter des Liedes „Christus, der uns seligmacht“ spiegelt sich in seiner musikalischen Gestalt wider. Einerseits bewegt es den Singenden zum Mitleiden, da die Geschichte des leidenden Christus ausgebreitet und in ihrer Schmerzhaftigkeit nachvollziehbar wird: Seine Marter wird ausführlich betrachtet und musikalisch ausgestaltet. Schritt für Schritt begleitet der Singende den Leidenden auf seinem Weg. Seine Erniedrigung ist abgebildet in der stetig fallenden Höhe des Tonraumes, in der Tonführung, in der Gewichtung der Stellen, an denen seine Leiden beschrieben werden.

      Aber auf der anderen Seite ist es ein gehaltenes Mitleiden und mehr noch: ein Nachvollziehen seines Schicksales, das dem Singenden vor Augen führt, daß hier der vermeintlich Schwache eigentlich derjenige ist, der das Geschehen beherrscht.

      Dies wird deutlich durch den geordneten Rahmen, innerhalb dessen das Leiden Christi beschrieben ist. Es besteht eine Struktursymmetrie, eine schreitende Intervallik, gleichmäßige Metrik, kurz: das musikalische Geschehen folgt einer gesetzten Ordnung.

      In dieser inneren