Die Passion Jesu im Kirchenlied. Christina Falkenroth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christina Falkenroth
Издательство: Bookwire
Серия: Mainzer Hymnologische Studien
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000157
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ihre Frömmigkeit einwandern.

      Das Lied konnte bei seiner Veröffentlichung durch Weisse anknüpfen an seine Zugehörigkeit zur Laienfrömmigkeit: der Hymnus war auch schon als Teil des Stundenbuches, also schon vor der Verdeutschung Weisses, in die Frömmigkeit des Volkes, d.h. der gebildeten Laien, eingegangen. Es mußte sich daher vermutlich sich nicht erst seinen Platz im Kanon gesungener Lieder erkämpfen, sondern konnte an die Stelle eines schon bekannten Gesanges treten.

      2.3.4 Ergebnis

      Das Abschreiten des Passionsweges

      Das Lied ermöglicht dem, der es singt, dem Leidensweg Christi Schritt für Schritt nachzugehen. Indem er sich vor Augen führt, was dieser alles ertragen hat, kann er ins Staunen geraten darüber, daß dies alles, wie von Weisse mehrfach betont, um seinetwillen geschehen sein soll. Das „subjektiv-emotionale Mitgehen“ mit der Passion Jesu erhält die Möglichkeit, sich zu entfalten. Es ermöglicht dem Meditierenden, anhand der Schwere des Leidens Christi seine große Liebe zum Menschen zu begreifen. Damit kann dieses Lied einen Sinn haben, wie ihn Luther in seinem Sermon beschrieben hat: Anhand der Betrachtung des Leidenden zur Erkenntnis der Liebe Gottes zu gelangen.

      Durch inneren Gehalt und musikalische Gestalt ist dem Mitgehen mit dem Leidenden eine Fassung gegeben, die von Ruhe und Gewißheit getragen ist. Sie kann bedeuten, daß man durch das Mitleiden nicht in haltlosen Schmerz ausbricht – auch dieses beschreibt Luther zu Beginn seines Sermons als fehlgeleiteten Umgang mit der Passion. Sondern das Mitgehen mündet in eine Bitte um Anteilhabe an den Tugenden Christi. Diese ist in der Gewißheit ausgesprochen, daß eben darum das Passionsgeschehen sich ereignet hat: Dankopfer sind die Antwort auf das Handeln Christi am Kreuz.

      Die Form, in der das Mitgehen erfolgt, ermöglicht ein in die Zeit ausgedehntes Nachdenken über die Passion. Anders als im Sermon Luthers ist hier ein Erkenntnisweg nicht nur innerlich, sondern auch äußerlich beschritten. Das kommt der Tiefe des zu erkennenden Inhaltes entgegen: Menschliche Erkenntnis muß reifen und bekommt im Singen des Liedes einen Raum dazu.

      Mit diesem Weg sind vorreformatorische Frömmigkeitspraxis und reformatorische Erkenntnis eine fruchtbare Symbiose eingegangen.

      Die Gewißheit über das Herrschen Christi auch im Leiden

      Durch Form und Inhalt wird dem Singenden eine dialektische Verbindung offenbar: Das wirkliche Leiden Christi am Kreuz als wehrloses Ausgeliefertsein an menschliches Handeln bedeutet wahrhaftes Herrschen Gottes in der Situation der Ohnmacht.

      Dies wird in der ordnungshaft strukturierten und schreitenden Musik deutlich, ebenso wie die in den Worten deutliche Geordnetheit des Geschehens. Das Ziel, die Seligkeit des singenden Menschen, ist dem Lied vorangestellt, so daß auch während des Bedenkens der Leiden Christi für den Meditierenden kein Zweifel an der Richtung des Geschehens bestehen kann. Am Ende ist dies wiederaufgenommen und explizit gemacht: Nicht das Nachahmen des Leidens Christi ist Aufgabe des Menschen, sondern die Zueignung der Tugend Christi, die sich hier erwiesen hat. Nicht Mitleiden, sondern Dank ist es, was der Mensch Christus entgegenbringen kann.

      Es sind somit in dem Lied nicht nur spätmittelalterliche compassio und reformatorische Erkenntnis miteinander verschmolzen, sondern auch das altkirchliche Christusbild vom „christus victor“. Am Ende des Mitgehens und der Erkenntnis dessen, daß er in seiner Passion immer noch Gott ist, steht der Zugang, der den Menschen durch das Geschehen eröffnet ist: Anteilgabe an der Tugend, d.h. dem Anerkanntsein vor Gott durch Christi Handeln und Dank.

      Das theologische Konzept

      Es scheint, daß Michael Weisse, als er den Hymnus dem deutschsprachigen Gesang zugänglich machte, zuvörderst das Anliegen hatte, ihn mit seinem Gehalt weiterzutragen, d.h. mit der darin gegebenen Möglichkeit, im Abschreiten der Passion sich dem Leiden Christi zu nähern und darin zu erkennen, daß hier der Weg in ein Gottesverhältnis liegt, das durch den Gehorsam gegenüber Christus und die Zueignung der durch ihn erworbenen Rettung bestimmt ist.

      Darin sind Aspekte einer Christologie erkennbar, die die Gottessohnschaft Christi voraussetzt, ihn als Messias begreift, die sein stellvertretendes Leiden für uns benennt. Aufgrunddessen versteht er die Passion als Handeln Gottes am Menschen, in dem Christus in seiner Ohnmacht dennoch im Leiden Herrscher bleibt.

      Eine Sündenlehre entfaltet Weisse nicht, aber er spricht unter umgekehrtem Vorzeichen von der Sünde, indem er in seinen Einschüben die Schuldlosigkeit Christi betont, ihn in seinem Gehorsam als Vorbild in der Tugend versteht. Am Ende steht die Bitte an Christus, den Singenden zu befähigen, mit dem Tod Christi auch die „Ursach“ seines Todes, d.h. die eigene Sünde, fruchtbar zu bedenken.

      Weisse thematisiert also die Sünde, aber er tut es aus der Perspektive heraus, daß Christus durch sein Leiden die Menschen aus ihrer Schuldverhaftetheit befreit hat.

      Darum ist der Dank die Haltung, mit der er dem Geschehen um das Leiden und Sterben Jesu Christi begegnet. Darum ist auch dem Mitleiden zwar Raum gegeben, aber es ist doch umfangen von der Gewißheit dessen, daß sich hier Gottes Heilsordnung verwirklicht hat.

      In diesem theologischen Konzept ist in Grundlinien die in Luthers Sermon anempfohlene Haltung gegenüber der Passion wiederzuerkennen:

      Die Grundhaltung des Dankens gegenüber dem Leiden Christi, der Weg über die Betrachtung, wenn sie auch hier noch in ihrer zeitlichen Entfaltung geschieht und nicht nur auf den Anblick des Gekreuzigten konzentriert ist, die Konsequenz von Gehorsam und Nachfolge.

      Diese allerdings ist bei Luther anders begründet: dort ist es die Gottesliebe, die geweckt wird durch die Betrachtung des Leidenden und die Erkenntnis seiner Liebe als Bild der Liebe Gottes zum Menschen. Der Weg zum Gehorsam beruht also nach Luther deutlicher allein auf dem Wirken Gottes am Menschen.

      Allerdings kann man in der Bitte um fruchtbares Bedenken des Todes Christi und seiner Ursache die seelsorgliche Anrede des Lesenden im Sermon wiederfinden, in der er das innere Erleben seines Lesers aufnimmt, der die Erfahrung macht, daß sein Betrachten keine Frucht zu bringen scheint. Luther fordert seinen Leser auf, in diesem Falle nicht davon abzulassen, Christus zu bitten, ihm das fruchtbare Bedenken der Passion zu gewähren. So ist hier wie dort deutlich, daß es Christus ist, der im Bedenken am Betrachter handelt, der die Zueignung der im Leiden erworbenen Gottesgemeinschaft wirkt. So ist auch bei Weisse das wesentliche gegeben: Im rechten Bedenken der Passion wird eine Beziehung gestiftet zwischen Gott und dem Menschen, in der dieser in Willenseinheit mit Gott leben und ihm in Dankbarkeit zugetan sein kann.

      Zueignung im Singen

      Die Idee des Liedes kann man, wie oben geschehen, so beschreiben, daß im Abschreiten der Passion ein Zugang zu ihr und darin in eine geheilte Gottesbeziehung geschaffen wird, auf der emotionalen Ebene wie auf der Ebene der Erkenntnis.

      Dieser Weg kann umso intensiver erfahren werden, als es sich um ein Lied handelt. Der Weg wird also singend abgeschritten. Im Singen wird die allein schon in der Dichtung in die Zeit hinein ausgedehnte Betrachtung wiederum in einen zeitlichen Ablauf eingebettet, der ein gemessenes Abschreiten erfordert und geschehen läßt. Indem der Mensch Strophe für Strophe singt, bildet sich vor seinem inneren Auge das Passionsgeschehen ab. Indem er selber die Ereignisse formuliert, erfährt er sie intensiver als wenn er sie nur mit den Augen läse, ohne sie hörbar erklingen zu lassen. Indem er sie zum Klingen bringt, wird dem Singenden zu jedem Zeitpunkt nur je ein Anblick zu Bewußtsein gebracht, anders als es bei einem flüchtigen Lesen passieren könnte, das Bilder auch zeitgleich nebeneinander erstehen lassen kann.

      So wird im Singen das Abschreiten des Leidensweges Christi noch weiter intensiviert und es geschieht in gemessener Ruhe.

      In diesem intensiven Nacherleben der Passion liegt in diesem Lied der Schlüssel zu ihrer Bedeutung für den Menschen: Indem er mit Christus den Weg geht, kommt er ihm nahe und kann an seinem Leiden Anteil nehmen und so auch sich das „für uns“ zusprechen lassen.

      Es ist so ein Verstehen von innen heraus möglich.

      Das