Weisse formuliert in der fünften Strophe: „klaget sich verlassen“. Er formuliert hier den im Hymnus nur als „heli clamans“ angedeuteten Schrei Jesu „Eli Eli lama asabtani“, Mt und Mk folgend, aus.
In der Theologie Luthers ist der Verlassenheitsschrei ein wesentliches Element: Anders als in der spätmittelalterlichen Theologie, die vor dem Gedanken zurückschreckte, daß Jesus wirklich verlassen gewesen sein könnte und darum betonte, daß es eine rein äußerliche Verlassenheit gewesen sei, stellt Luther heraus, daß Jesus in seiner wirklichen Verlassenheit die Verlassenheit des Sünders in der Todesstunde erlebte. An dieser Stelle kommt für ihn das soteriologische Anliegen zum Tragen, daß Christus eben diese Verlassenheit im Tode stellvertretend für den Sünder auf sich genommen habe.1
Weisse hat hier also mit dieser Ausführung des „heli clamans“ gegenüber dem Hymnus eine theologische Schärfung herbeigeführt.
Der Stich mit dem Speer, der aus der Seitenwunde Jesu Blut und Wasser hervorbrachte, ist von Weisse hinzugesetzt worden. Was Johannes wohl als Erweis dessen, daß Jesus wirklich gestorben war, einfügt, ist in der Tradition bedeutsam geworden: In der röm.-kath. Feier der Eucharistie wurde – diesem Bericht folgend – dem Wein Wasser beigemischt. Was bei Johannes als Beweis der Menschheit Jesu dient, gibt dem Glaubenden Hoffnung auf die im Mahl eröffnete Gemeinschaft mit ihm. Es ist anzunehmen, daß Weisse mit diesem Einschub einen Verweis auf das Abendmahl macht. Indem er nun noch „nur umb unsret willen“ zusetzt, ist implizit das Abendmahl mit seiner Zueignung des in der Passion gewonnenen Gutes an den Kommunikanten angesprochen. Also wird auch hier das „für uns“ als Ausdruck des reformatorischen Grundanliegens herausgestellt.
In der vierten Strophe berichtet Weisse anders als der Hymnus, der dies nicht erwähnt, über die Verspottung des Gekreuzigten aufgrund seiner Hilflosigkeit. Die Spötter verbinden ihre Verachtung mit dem Zweifel an Christi Königtum (Mt, Mk) und dem Verständnis Jesu als Christus (Mk, Lk). „Andern hat er geholfen“ bezieht sich ebenso darauf; im griechischen steht das Verb σώζω, das sich auf das messianische Retten bezieht. Mit dem Hinweis auf den Spott wird also durch Weisse auch indirekt auf den Messiasanspruch hingewiesen.
2.3.2.5 Der Rahmen und seine Aussage in der Bearbeitung durch Weisse
Besonders deutlich wird aber Weisses Aussageabsicht im von ihm neu gestalteten Rahmen des Liedes, die erste Zeile „Christus, der uns seligmacht“ mit „kein boess hat begangen“ und die letzte Strophe: „O hilf christe gotes sohn / durch dein bitter leiden / das wir dir stetz unterthan / all untugent meiden / deinen todt und sein ursach / fruchtbarlich bedencken / da fuer wie wol arm unnd schwach / dir dankopffer schenckenn.“
Ein deutender Rahmen findet sich auch in der lateinischen Vorlage. Sie beginnt mit „patris sapientia, veritas divina“ und folgt hierin der ntl Christologie, die Christus als „Gottes Weisheit“ (1Kor 1,24, vgl. v.30) verkündet oder als den, in dem Gottes Weisheit verborgen liegt (Kol 2,3). Die Rede von Christus als veritas divina schließt sich dem joh Verständnis Jesu an, mit der die Tradition gemäß der atl Weisheit aufgrund der Gegenwart der sapientia bei der Schöpfung die Präexistenz Christi verbunden hat. Durch diese Einführung in das Lied ist im folgenden Bericht das Leiden Christi als göttliches Handeln herausgestellt.
Die letzte Zeile der 7. Strophe des Hymnus leitet über in die Form eines Gebetes. Diese Zeile legt dem Singenden nahe, des Todes Jesu beständig und mit innerem Bemühen zu gedenken (jugis sit memoriae mors haec tuae curae).
Darauf folgt in der letzten Strophe die Anrede Jesu, in der der Singende Jesus versichert, seiner Leiden „cum devotione“ und „pia ratione“ zu gedenken, damit er zum „consors“ Christi werde, der durch das eigene Bemühen Anteil an der im Leiden erworbenen „corona“ habe. Dabei stehen die horae canonicae synonym für die Inhalte des Bedenkens. Der feste Rahmen der Stundengebete, d.h. des Bedenkens, aber auch das Verständnis, daß allein schon ihr Vollzug heilsstiftend ist, wird darin hörbar.
Weisse übernimmt diese den Text umschließende, deutende Rahmung, wandelt sie aber nach reformatorischem Verständnis ab:
Er setzt ein mit „Christus, der uns selig macht“ und benennt so die Wirkrichtung des Geschehens am Kreuz: um unserer Seligkeit willen hat Christus gehandelt. Wie im Hymnus wird mit dieser Überschrift dem Lied eine Deutung vorausgeschickt: alles, was berichtet werden wird, ist Teil des Heilshandelns Christi an uns.
Weisse betont aber in seiner vorausgeschickten Deutung nicht Gott den Vater in seinen absoluten Eigenschaften der Weisheit und der Wahrheit, so wie es der Hymnus tut („Patris sapientia, veritas divina“), sondern er betont den Christus „für uns“. Die Verschiebung des Schwerpunktes der scholastischen Theologie in der Gotteslehre bzw. Eigenschaftenlehre hin zum reformatorischen Ansatzpunkt bei Christus findet hier ihren Ausdruck. Sie zeigt sich in der Verschiebung der Gewichtung von den absoluten zu den auf die Welt bezogenen und in Christus offenbarten Eigenschaften.
Das in der ersten Zeile Gesagte wird im Fortgang der ersten Strophe durch den kleinen Zusatz „ward für uns … gefangen“ noch einmal verstärkt, indem er betont, daß alles nun im folgenden berichtete als ein Handeln an „uns“, den Glaubenden zu verstehen ist.
In diese Richtung lenkt Weisse auch die Aussage der letzten Strophe. Der Sänger des Hymnus erhofft sich von seiner Teilhabe an der Arbeit und Mühe Jesu am Kreuz, die er durch sein andächtiges Mitvollziehen der Horen erworben hat, auch die Mitgenossenschaft an der hier erworbenen Krone („ut sicut tu passus es poenas in agone, sic labore consonans consors sim coronae“). Weisse ist in seiner Dichtung nicht mehr auf das Zuwenden der Verdienste Christi zu uns aufgrund der verdienstlichen Meditation seiner Leiden gerichtet, sondern er kleidet diese Strophe in eine Bitte. Der Singende bittet Christus, den Gottessohn, um Zueignung seiner Tugenden, die sich im Leiden erwiesen haben. In der Rede von Tugend bzw. Untugend befindet sich Weisse inhaltlich im Denkzusammenhang des Spätmittelalters, in dem es die Tugend Christi war, die dem die Passion Meditierenden zum Vorbild diente, dem er sich im Nachvollzug der Tugenden durch das Meditieren gleichzugestalten trachtete. Die Worte „das wir dir stetz unterthan“ sind als Gehorsam gegenüber Christus zu verstehen und stellen die nach der Tradition wesentliche Ausformung der Tugend Christi, seinen Gehorsam gegenüber dem Willen des Vaters, heraus. Das aktive Erwerben dieser Tugend schwingt in der Formulierung „hilf, daß wir meiden“ mit, aber hier liegt die Betonung auf der Bitte „Hilf!“, so ist es nun Christus, der das Meiden der Untugend wirkt. Christus ist es, der dem Menschen die conformatio mit ihm verleiht
Etwas inhaltlich Neues gegenüber dem Hymnus kommt in der Bitte zum Ausdruck: „Hilf, … daß wir … deinen todt und sein ursach fruchtbarlich bedenken“. Für Weisse ist die rechte Frucht des Bedenkens, daß wir „… dir Dankopfer schenken“
Der Singende weiß in diesem Augenblick, daß er Jesus nichts zu geben vermag. Er möchte es aber gerne – aus Dankbarkeit, d.h. in der Erkenntnis, daß alles geschehen ist, dessen er zu seinem Heil bedarf.
Die Dankbarkeit als Antwort auf Jesu Handeln am Kreuz ist ganz dem reformatorischen Denken gemäß. Daß das Dankopfer das einzige ist, was wir geben können, betont auch Luther: „Ich wil dein armes pfefflin und priesterlin sein und das rechte opffer und Gottes dienst leisten, nemlich, das danck opffer und lobesang; das sol mein priester ampt, mein meygenfest odder lauberhütten sein, das ich nichts wisse zu predigen noch zu rhümen denn dich verworffen stein und gecreutzigten Gott, Da soll mirs bey bleiben, das sol das ende vom liede sein, das hab ich mit diesem Psalm gesucht und gemeinet.“1
2.3.3 Die musikalische Gestalt
2.3.3.1 Die Melodie
Zur Form
Es liegt in dem Lied die Übertragung eines Hymnus aus dem 14. Jh. vor. Die dem Hymnus eigene Form ist klar wiederzufinden: Acht Strophen, bestehend aus vier Teilen, die in jambischen Dimetern gehalten sind und mit einem Endreim gebildet sind1. Die Vierzeiligkeit ist hier ausgeweitet