Ein Verkennen dieser Ursache ist gefährlich. Luther sagt seinem Leser, er solle denken, „tibi soli haec fecerit … si non tibi sed aliis factum putas, iam negasti eum“3. Indem der Betrachter des Leidenden meint, die Ursache des Leidens läge allein bei anderen, hat er ihn schon verleugnet.
Für Luther ist von Bedeutung, beim Anblick des leidenden Christus auf die Erkenntnis seiner selbst mit dem Beweinen der eigenen Sünden zu reagieren. In seinem Sermon erwähnt er das Wort Jesu an die Frauen, die ihn auf seinem Weg zur Kreuzigungsstätte beweinten, sie sollten nicht ihn, sondern sich selbst beweinen.4 Von größerer Bedeutung ist es in seinem ersten Sermo de Passione: Er bezeichnet es als eine „Pflicht“5, die aus der Erkenntnis seines Leidens hervorgeht, zu weinen und zu wehklagen: „plangi oportet super christum, sicut ipse super nos planxit unus, et nostrum est omnes plangere“. 6
Daß Erkenntnis und Selbstbeweinung für ihn dicht zueinandergehören, formuliert er in derselben Predigt etwas später: Das Leiden Christi als Gegenstand zum Zwecke der Erkenntnis will eine bestimmte Antwort des Betrachters hervorrufen: es zeigt unsere innere Verfassung vor Gott, die uns zum endlosen Wehklagen und Weinen führt: „ostendat, quales simus intus coram Deo, ut his agnitis non cessemus plangere, dolere, flere et poenitere“7. Ohne diese Reaktion ist das Kreuzesgeschehen nicht in seiner Bedeutung erfaß. Erst, wenn einer sich selber in Christi Leiden abgemalt erkennt und daraus lernt, mit sich selber zu leiden, hat er nicht vergeblich mit Christus gelitten8. Wir sollen nicht weinen ohne das Weinen über uns selbst. Mit seiner Aufforderung an die Frauen, nicht über ihn, sondern über sich selber zu weinen (Lk 23,28), verbietet er es, ihn zu bemitleiden und ihn zu trösten zu suchen, und dabei sich selber außer Acht zu lassen und nicht über sich selbst zu weinen. Das Weinen im Blicken auf Christus ist sinnvoll: „Sed in quo possemus nos magis agnoscere et plangere quam in christo? Nusquam utique: quia hic intelligit homo miseriam suam …“ 9. In Christus können wir uns am besten erkennen und unser Elend begreifen, das unendlich und unermeßlich ist.
Selbstbeweinung gehört nach diesen Ausführungen Luthers zum Blick auf den Gekreuzigten als Ausdruck dafür, daß Erkenntnis der Sünde, daß Selbsterkenntnis stattgefunden hat. Es steht zu Beginn des Prozesses, der durch die Betrachtung des Leidenden im Menschen stattfindet. Damit ist der Betrachter weit entfernt von dem Verhalten, das Luther kritisiert, in dem das Weinen und Bemitleiden Christi oder gar des Judas als Flucht vor sich selber zu verstehen ist.
Rettung statt Todesverfallenheit
Aufgrund dieses Zugangs zum Leiden Christi kann sein Heilswerk am Betrachter Wirkung zeitigen: Wenn der Mensch in seinem Gewissen gelitten hat aufgrund der gewonnenen Erkenntnis über sich selber, kann und soll er in der Erkenntnis der Bedeutung von Christi Leiden „für uns“ sich durch Christus con der Sünde befreien lassen. Luther fordert ihn auf: „Dan wirffesttu deyn sunde von dir auff Christum, wan du festiglich gleubst, das seyne wunden und leyden seyn deine sunde“. Damit ist die Rettung geschehen, denn du „sihest itzt keyne wunden, keyne schmertzen an yhm, das ist keyner sunde anzeygung“. Christus hat sie erwürgt. 1
Ebenso formuliert er in seinem ersten Sermom über die Sünden. Im Blicken auf Christus erkennen wir: Sie sind keine mehr, sondern sind es gewesen. Denn wir finden sie nicht mehr in Christus, in dem doch alles ist.2
Daß der Betrachter sich als nicht Unbeteiligter gegenüber dem Geschehen am Kreuz erkannt hat, hat ihm großen Gewinn gebracht: Mit der Sünde gehört auch seine Todesverfallenheit der Vergangenheit an. Mit dieser Gewißheit muß auch Judas nicht mehr ewig „Lucifers Geselle“ sein.
2.4.3.2 Die Strophenreihe von Bonnus
Kommentar
Bonnus stellt konzentriert die wesentlichen Stationen seines Heilskonzeptes dar.
Die Menschen sind dem Tode verfallen aufgrund der Erbsünde, in die sie durch Empfängnis und Geburt hineingeboren sind. Wegen der Übermacht der Sünde im menschlichen Handeln kann allein der Tod des Gottessohnes den Menschen Rettung aus dieser Lage bringen.
Dieser Tod ist notwendig: „es konnt nicht anders sein“. Der einzigmögliche Heilsweg nimmt seinen Lauf: Christus kommt in die Welt, nimmt „unser arm Gestalt“ an und stirbt willentlich für unsere Sünde. Dieses Geschehen hat seinen Grund in Gottes Gnade und Gunst gegenüber der Menschheit. Sie erweist er im Sohn, der sich dahingibt. Um unserer Seligkeit willen stirbt er den Kreuzestod. In diesem Ereignis liegt unser Trost gegen Sünde, Tod und Hölle. Die Rettung ist geschehen, ein abgeschlossenes Ereignis.
Die rechte Antwort von der Seite des Menschen ist Lob, Dank, die Bitte um Bewahrung und darum, „bei seinem heilgen Wort“ zu bleiben. Das Wort, zentraler Begriff der Reformation, steht in dieser Bitte, verstanden als Parallelismus zur vorangehenden Zeile, nicht nur als Träger, sondern als Verkörperung der Gnade und Gunst des dreieinigen Gottes, von dem die Bewahrung ausgeht.
Diese Antwort mündet in einen Lobgesang „Ehre sei dir Christe“ und führt den Singenden so in eine Haltung gegenüber Christus, in der der Mensch sich auf ihn ausrichtet, sich dessen bewußt ist, sein Heil allein von ihm durch dessen Tod empfangen zu haben und in Antwort darauf sich seinem Machtbereich zu unterstellen, in dem er mit dem Vater herrscht, und ihm darin die Ehre zu geben.
In der Dichtung kommen verschiedene Kontexte zusammen:
Sie nimmt ihren Ausgang mit dem affektiven Ausruf „O wir armen Sünder“ bei der Selbstbeweinung, der Beweinung der eigenen Sünden. Darin folgt der Gedankengang Luther, wie er in seinen beiden oben dargestellten sermones ausführt und kurz auch im Sermon andeutet.
Sein Heilskonzept setzt ein bei der Sünde Adams, die durch Empfängnis und Geburt jedem Glied der Gattung Mensch weitergegeben wird und durch die alle Menschen dem Herrschaftsbereich des Todes unterworfen sind. Aufgrund des „vitium originis“ (Tertullian) bedarf die menschliche Natur der Erlösung, um dem Machtbereich von Sünde, Tod und Hölle entrissen zu werden1. Der Blick auf diesen Machtbereich bildet den Rahmen des im Lied ausgebreiteten Heilskonzeptes: Str. 1 begründet das Verhängnis, Str. 5 wirft den Blick zurück auf die Mächte, aus deren Fängen der Mensch nun gerettet ist. Das Lied entwirft so in seinen ersten Strophen ein dualistisches Konzept der widerstreitenden Mächte, die um die Herrschaft über die menschliche Natur ringen.
Die Notwendigkeit des Todes des Gottessohnes, wie sie durch das „es konnt nicht anders sein“ ausgedrückt ist, erinnert an das Konzept Anselms, in dem in gleicher Weise die Notwendigkeit des Sterbens des Gottmenschen Christus konstitutiv ist. Aber auch in ntl Aussagen ist die Rede von der Unausweichlichkeit dieses Sterbens: „Mußte nicht Christus dies erleiden …?“ (Lk 24, 26). Diese Notwendigkeit wird auch in Str. 3 formuliert: „Wäre nicht gekommen …, und hätt angenommen …, so hätten wir müssen …“. Hier wird eine unabdingbare Folge dargestellt, die in Korrespondenz mit dem „es konnt nicht anders sein“ steht.
Ebenso kongruent mit dem Anselmschen Konzept ist die explizite Benennung der Freiwilligkeit des Sterbens des Gottessohnes, wie sie in Str. 3 im „williglich“ ausgedrückt ist: Der Sünde wäre nicht genug getan, wenn nicht der Sohn trotz des Umstandes seiner Sündlosigkeit und über diesen hinausgehend den Tod auf sich genommen hätte.
Andererseits scheint Bonnus das Konzept Anselms nicht in allen Punkten in sein Lied aufzunehmen: Die verletzte Ehre Gottes, die nach Genugtuung verlangt, wird nicht explitzit formuliert, auch nicht, daß aus der Sicht Gottes Gerechtigkeit wiederhergestellt werden müsse.
„Williglich“ starb Christus für unsere Sünde, d.h. er tat es als Teil seines Heilshandelns an uns, im freiwilligen Gehorsam gegenüber dem Vater, der darin den Menschen „Gnad und Gunst“ erzeigen wollte, um damit das Ziel der Zueignung der Seligkeit an den Menschen zu erreichen (vgl. Str.4). Mit der Verwendung des Begriffes „williglich“ hebt Bonnus hervor, daß es sich bei Christi Tod am Kreuz nicht um