Auch Tonraum und harmonikaler Rahmen schließen die Zeilen zu einer Gesamtheit zusammen: Jede Zeile beginnt auf dem a’, dem Zentralton des Modus der Melodie, mixolydisch auf d’.
Die Zeilenenden werden aus dem finalis, d’, der repercussio (a’) oder aus g’ (in der Funktion einer Binnenkadenz) gebildet, so daß sie den harmonikalen Rahmen stabilisieren.
Der Ambitus und der Tonraum erhöht sich durch die Intervallik der Halbe bis hin zum Spitzenton d’’, der Oktave über der finalis, der somit Höhepunkt von Ambitus und Spannung ist. Dies umso mehr, als die Oktav der Finalis unüblich ist für den „klassischen Duktus modaler Bewegungen im Tetrardus“, der meist nur zur 7. Stufe steigt3. Dort geschieht die musikalische Peripetie, von der an der Tonraum wieder in die untere Quinte wandert und so den Spannungsabfall, der auch an dem kleiner werdenden Intervall der Halben der Zeilenmitte mitbewirkt.
Die Spannung von Gleichmaß und Bewegung innerhalb der Melodie ergibt sich also aus der Faktur: Das Gleichmaß hängt an der relativen Bewegungsarmut durch Isotonie und Isometrik und dem Verbleiben des Tonraumes im Tonzentrum a’. Die Bewegung hängt an der Intervallik der Halben und am regelmäßig stattfindenden Spannungsaufbau durch das drängende Element der Tonwiederholungen.
Der Kyrie-Ruf
Der Kyrie-Ruf am Ende jeder Zeile bildet selbst auch einen Gegenpol zu der Symmetrie und dem Gleichmaß der Bewegung in den Strophen.
Indem er im gleichen Modus bleibt und mit der Repercussio a’ das gleiche Tonzentrum und den gleichen Anfangston hat, schließt er sich organisch an die Strophe an.
Allein schon in seiner Dreizeiligkeit, d.h. dem dreimaligen Kyrie, verlebendigt er den ersten Teil, der durch seine Vierzeiligkeit in sich ruht. Er fügt der „teutschen Gravität“ (Michael Prätorius) der Vierersymmetrie den fließenden Tanzcharakter des Dreiers an.
Seine Rhythmik ist lebhaft: Die punktierten Noten in der ersten und dritten Zeile beleben die Viertel-Bewegung und geben ihr den Charakter des Vorwärtsdrängens. Das rhythmische Gleichmaß der zweiten Zeile gibt der Bewegung eine innere Mitte.
Die Tonführung ist ebenfalls lebendiger durch fallende Terzen und Quarten und durch die Wellenbewegung, die innerhalb der einzelnen Zeilen und in der Gesamtheit des Kyrie-Teiles.
deutliche Zunahme der Lebhaftigkeit, der Bewegung.
Auch dem lebhafteren Kyrie-Teil wohnt die Spannung von Gleichmaß und Bewegung inne:
Der Zeilenzusammenhang ergibt durch seine Rahmentöne a’ – d’’ – a’ – d’ eine Wellenbewegung, die aber aufgrund der Tatsache, daß es sich um die harmonikalen Zentraltöne handelt, in sich stabil ist. Auch die genannte Bewegungssymmetrie innerhalb der drei Zeilen unterstützt das Gleichmaß.
Zusammenwirken von Text und Musik
Der Text und seine metrischen und theologischen Schwerpunkte entsprechen den durch die musikalische Gestaltung der Melodie erzeugten Schwerpunkten.
Das harmonische und tonführungsbezogene Bewegungszentrum, die Halben, werden auch inhaltlich zum Zentrum: Auf ihnen liegen die Wörter Christe, Kreuzes, Vater, Sünder, die theologische Bedeutungsträger sind. „Vater“ auf dem Spitzenton ist auch als der Begriff, der für den Initiator des Heilsereignisses steht, als Hochpunkt anzusehen.
Die Spannung von Gleichmaß und Bewegung entspricht dem im Text und dem theologischen Entwurf beobachteten Miteinander von der Bewegung der Aufrichtung des in sich gekrümmten Sünders und dem das Lied gleichmäßig durchwebenden Christuslob, das im wiederkehrenden Kyrie-Ruf und dem theologischen Verständnis des im Leiden doch Herrschenden zum Ausdruck kommt.
Der Kyrie-Ruf mit seiner ihn von der Strophe unterscheidenden Lebendigkeit am Ende ist musikalisch dem Jubilus des Halleluja-Gesanges der Sequenz in der römischen Liturgie verwandt; er weist damit auf den Charakter des Lobens in der Bitte um Erbarmen hin.
Die Herkunft der Einzelstrophe „Ehre sei dir, Christe“ aus der Liturgie ist nicht nur am dreifachen Kyrie erkennbar (das dreifache entspricht der Reduzierung des Kyrierufes vom neunmaligen zum dreimaligen durch Luther in seinem Gottesdienstentwurf), sondern auch an dem wiederkehrenden Zeilenbeginn und seiner häufigen Tonwiederholung und in dem Bleiben auf einem Ton bzw. Kreisen um ein Tonzentrum : Ihr wohnt der Charakter des Rezitationstones oder der rezitativische Deklamation in der Gregorianik oder dem liturgischen Psalmengesang inne.
Die Tatsache, daß in späteren Jahrzehnten des Reformationsjahrhunderts das Lied wieder in einer der vorreformatorischen Gestaltung verwandten Art innerhalb des liturgischen Singens eingesetzt wurde, läßt sich auf diese dem Lied zueigen gebliebene musikalische Nähe zum liturgischen Gesang erklären.
2.4.3 Der Liedtext
2.4.3.1 Die Judasstrophe und Luthers Theologie
Zur Betrachtung der von Bonnus verfaßten Strophenreihe ist es sinnvoll, den Blick zunächst auf die eine der beiden Einzelstrophen zu richten, die dem Lied vorangegangen sind und es zu ihrer Zeit populär gemacht haben: die sog. „Judasstrophe“.
Die Strophenreihe des Hermann Bonnus nimmt ihren Ausgang bei der Judasstrophe. Dies ist erkennbar daran, daß sie auf deren Melodie gesungen wird; zudem hat auch die Gestaltung der ersten Strophe deutlich sichtbar die erste Zeile der Judasstrophe zum Vorbild. Darum soll hier zunächst auf deren Aussage eingegangen werden.
O du armer Judas, was hast du getan,
daß du deinen Herren also verraten hast!
Dafür mußt du leiden hellische Pein,
Lucifers Geselle mußt du ewig sein.
Kyrie eleison, Christe eleison, Kyrie eleison.
Indem ein Mensch die Judasstrophe singt, bringt er sich in eine bestimmte Position gegenüber der Person des Judas: Er blickt auf den Jünger, der Jesus seinen Verfolgern in die Hände gespielt hat. Mitleid spricht aus seiner Anrede „O du armer Judas“, denn er sieht die Konsequenz, die sein Handeln hat: auf ewig ist er in die Hölle verbannt, in der er seinen Verrat büßen muß.
Zwei Aussagen werden hier implizit vermittelt:
Die eine ist die Gewißheit, daß es keine Rettung vor dieser Strafe gibt. Die andere ist die Schuldzuweisung an Judas. Damit wird eine bestimmte Haltung des Singenden generiert: Er kann von außen auf den blicken, der schuldig geworden ist. Der Betrachter selbst steht nicht in einer inneren Verbindung zu dem Sterben Jesu; er und seine Verfaßtheit, etwa Sünde oder Schuld, spielen keine Rolle im Blick auf Jesu Tod.
Selbstbeweinung statt Schuldzuweisung
Zu Beginn seines Sermons geht Luther auf Formen der Betrachtung des Leidens Jesu ein, die er für nicht fruchtbar und unangemessen hält: Es „bedencken ettlich das leyden Christi alßo, daß sie uber die Juden tzornig werden, singen und schelten uber den armen Judas und lassen es alßo genug seynn, … andere leuth zu clagen und yhre widdersacher vordamen und vorsprechen.“1
Die Judasstrophe scheint im Hintergrund seiner Kritik zu stehen. Was er an ihr und der darin eingenommenen Haltung gegenüber dem Gekreuzigten bemängelt, ist – wie später im Sermon auch noch explizit wird – die Distanz, die der Betrachter zum Kreuzesgeschehen einnimmt: Dieser sieht sich in einer Position, in der er selber nichts damit zu tun hat, er weist Schuld zu und bemitleidet den Gekreuzigten, aber tritt in keinerlei Beziehung zum Geschehen oder zur Person Christi, er bleibt außenstehender Betrachter.
Diese