Die Passion Jesu im Kirchenlied. Christina Falkenroth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christina Falkenroth
Издательство: Bookwire
Серия: Mainzer Hymnologische Studien
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783772000157
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Daß er ein von oben gesetztes Geschehen ist, wird allein schon an der dominierenden ersten Zeile deutlich. Es ist höchst ungewöhnlich, daß eine Liedmelodie auf dem höchsten vorkommenden Ton einsetzt. Hier aber nähert sich der Singende nicht erst im Laufe des Singens dieser Höhe, sondern sie ist gegeben und verleiht dem gesamten Lied seinen Charakter: Das Beschriebene ist „oben angebunden“. Nicht aus einem unteren Blickwinkel, nicht aus menschlicher, irdischer Perspektive, sondern aus dem göttlichen Blick auf das Geschehen kann der Singende die Ereignisse betrachten, in denen deutlich wird, daß der Wehrlose gleichzeitig der Handelnde, der Leidende gleichzeitig der den Sieg erringende ist. Das Lied bildet ab, wie Gott in der Erniedrigung der Herrschende ist.

      2.3.3.2 Zur liturgischen Herkunft und ihrer Bedeutung

      Was bedeutet für das Verständnis des Liedes „Christus, der uns seligmacht“ die eingangs genannte enge Verwobenheit des zugrundeliegenden Hymnus mit den Tagzeiten, die er einerseits abbildet und deren Teil er andererseits war?

      Der liturgische Ort des Hymnus „patris sapientia“ ist – wie die Gattung des Hymnus überhaupt – das monastische Stundengebet. In den verschiedenen Horen war dem Hymnus jeweils ein fester Ort gegeben1.

      Der Hymnus „patris sapientia“ hat Gestalt und Inhalt aus der inhaltlichen Bestimmung der Tagzeitengebete empfangen: Jeweils eine Strophe gibt den Inhalt je eines Gebetes wieder; er stellt damit jeweils eine Situation aus der Erzählung vom Leiden und Sterben Christi dar. In der Praxis der Stundengebete war der Hymnus mit je einer Strophe auf die Horen aufgeteilt.

      Auf eine Tradition des stetigen Gebetes findet man schon einige biblische Hinweise (Ps 119, 55.62; 1 Thess 5,17) und einen Hinweis auf eine Tageseinteilung nach Gebetszeiten: „Ich lobe dich des Tages siebenmal“ (Ps 119, 164). In der jüdischen und der frühen christlichen Tradition gab es regelmäßige, über den Tag verteilte Gebetszeiten. Inhaltlich hat man diese bald mit bestimmten Elementen der Heilsgeschichte verbunden. In den constitutiones apostolorum ist bezeugt, daß die Hauptmomente der Passion Christi auf die Tagzeiten bezogen wurden (constt. Apost. 7,34).

      Hier wurde noch der Morgen mit Ostern verbunden; in der monastischen Tradition entwickelte es sich im Mittelalter dahin, daß man das Passionsgedenken in der Matutin mit der Verhaftung Jesu eröffnete und in der Komplet mit der Grablegung Jesu beschloß.

      Dazu gab es einen verbreiteten und in vielfachen Varianten bezeugten Merkvers:

      „Haec sunt septenis, propter quae psallimus horis;

      matutina ligat Christum, qui crimina purgat,

      prima replet sputis, causam dat tertia mortis,

      sexta cruci nectit, latus eius nona bipertit,

      vespera deponit, tumolo completa reponit.“2

      Der Vers offenbart ein Verständnis der Horen als participatio conscia, die im „subjektiv-emotionalen Mitgehen“3 mit der Passion Jesu über den Tag hinweg besteht.

      Dieses Mitgehen wurde in einem Traktat, dem „Büchlein über die Betrachtung der Passion Christi über die sieben Horen des Tages hin“ aus dem 12. Jh. intensiv geübt: „Es ist nämlich notwendig, daß du irgendwann einmal so in deiner Betrachtung gesinnt bist, als seiest du zu der Zeit anwesend, als er die Passion erlitt. Und du sollst dich im Mitleiden so verhalten, als hättest du deinen leidenden Herrn vor deinen Augen, und so wird der Herr selbst gegenwärtig sein und dein Gebet annehmen“4. Indem der Betende seinen Tagesablauf nach dem des letzten Tages Jesu gestaltet und ihn innerlich meditiert, geschieht eine innige Verschränkung des eigenen Lebens mit dem des sterbenden Jesus.

      Dieses Verständnis läßt sich auch „patris sapientia“ zuschreiben. Indem der Singende Schritt für Schritt die Stationen des Leidens Jesu abschreitet, verinnerlicht er es, spürt dem emotionalen Gehalt des Ereignisses nach: Trauer um das Sterben Jesu, Mitleiden mit ihm, Staunen über sein Handeln angesichts der Gewißheit, daß dies um des Heils der Menschen geschehen ist.

      Durch das Singen des Hymnus, durch das Entlangschreiten am Geschick Jesu geschieht also ein affektives Ergreifen des Ereignisses.

      In dieser Betrachtung steckt eine Verheißung: „Wenn wir so in Geduld an dem Leiden Christi Anteil haben, dann dürfen wir auch mit ihm sein Reich erben.“5 Wie auch im Hymnus Patris sapientia und im Lied Weisses ist demnach im Verständnis der Tagzeiten diese Hoffnung enthalten, daß auf dem Wege der Betrachtung von Jesu Passion die Teilhabe am durch sein Leiden erlangten Heilsgut zu erwarten ist.

      Aber dem Stundengebet wohnt noch eine tiefere Bedeutung inne, die sich im Hymnus spiegelt: In den Horen ist nicht nur das Leiden Jesu, sondern darin das göttliche Heilswerk am Menschen repräsentiert, in dieser Vergegenwärtigung tritt der eschatologische Horizont des Stundengebetes vor Augen.6

      Im Beten der Horen bildet sich die vollkommene Schöpfung Gottes ab. Das gilt für den Blick auf die Gesamtheit des Vollzuges: Im Ablauf eines Jahres wird die Schrift in ihrer Gesamtheit durchgelesen, im Ablauf einer Woche die Psalmen als Ganzes. Die Psalmen als Hauptbestandteil der Horen können – ebenso wie der Nachvollzug der Passion – als Hinweis auf die sich vollendende Schöpfung Gottes verstanden werden.7

      Indem man das Stundengebet, eingebunden in den eigenen Lebensweg, vollzieht, wird man Teil in der darin sich verwirklichenden Heilsordnung Gottes.

      Das Singen des ins Deutsche übertragenen Hymnus „patris sapientia“ setzt also gegenwärtig, was dem Stundengebet als solchem innewohnt: In der Gebetsordnung wird der Betende auf das Leiden Christi und das sich darin mit Christus als Herrscher vollziehende Heil am Menschen verwiesen. Im Singen wird also präsent, daß sich in der Passion Christi Gottes Schöpfung am Menschen vollendet hat. Der enge Bezug von Passion Christi und göttlicher Schöpfungsordnung wird sichtbar: Sie sind beide Teil der Heilsgeschichte; Passion und Schöpferlob begründen einander.

      Eine weitere Bedeutung schwingt demzufolge in dem Lied „Christus, der uns selig macht“ mit: Indem es aus dem sich immer wiederholenden, ewig wiederkehrenden Gebetszirkel hervorgegangen ist, ist es der linear ablaufenden Zeit enthoben und zum Abbild der Ewigkeit Gottes geworden. Die Dimension des in der Geschichte geschehen Heils wird hier verbunden mit dem ewigen Ratschluß Gottes zum Heil der Menschen. Im Singen gewinnt der Mensch Anteil an der Ewigkeit Gottes.

      Durch seine Herkunft aus der Tradition des Stundengebetes trägt das Lied „Christus, der uns seligmacht“ also eine vielfache Bedeutung.

      Es erzählt nicht allein die Geschichte des sterbenden Jesus, dessen Weg der Singende affektiv nachempfindend abschreitet. Es gewährt Teilhabe an der Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen, der in der Passion an ihm zu seinem Heil gehandelt hat und im Nachvollzug durch den gegenwärtig betenden Menschen auch ihm dieses Heil zueignet. Und es läßt ihn proleptisch an der Ewigkeit Gottes teilhaben, indem er sich einreiht in den ewigen Vollzug des Lobens Gottes, der durch sein geschichtliches Handeln am Menschen ihn zum Teil seiner ewigen Gottheit macht.

      Von großer theologischer Bedeutung erscheint es, daß durch das Bedenken der Passion im Stundengebet das Gedächtnis des Leidens Jesu nicht auf eine bestimmte Zeit im Kirchenjahr konzentriert wurde, sondern daß es dem täglichen Gebet zugeordnet war. Dadurch wird ihr Ort im Zentrum des christlichen Lebensvollzuges sichtbar: Das Leiden Christi für den Menschen hat ihm die Zugehörigkeit zum ewigen Heil Gottes erworben.

      Es ist ein Verdienst Weisses, daß er die spätmittelalterliche Passionsmeditiation in Form dieses Liedes in einen erneuerten Glauben hinübergezogen hat und so auch die Bedeutsamkeit der Passion Jesu für die christliche Frömmigkeit und ihre zentrale Bedeutung in der christlichen Theologie herausgestellt hat. Diese über eine Kirchenjahreszeit hinausweisende Stellung des Nachdenkens über die Passion kann Vorbild sein für den Umgang mit der Passion auch in der Gegenwart.

      Michael Weisse hat dem Lied „Christus, der uns selig macht“ seine eigene, neue Gestalt gegeben, hat ihm aber dennoch in Form und Inhalt die Nähe zu seiner Herkunft nicht genommen. So kann die Tradition in diesem Lied weiterwirken. Auch wenn die Böhmischen Brüder keine monastische Lebensform pflegten,