Zu Beginn führt sich der Singende ausführlich seine Verlorenheit an die Sünde vor Augen. Er erkennt seine Unfähigkeit, sich selber aus der Lage zu befreien: „O wir armen Sünder“, die dem ewgen Tod unterworfen sind. Die Perfekt-Form, die eine nicht abgeschlossene Vergangenheit formuliert, macht die Gegenwärtigkeit von Sünde und Tod im menschlichen Leben intensiv spürbar.
Das Leiden um der Sünde willen, dem sich Christus unterworfen hat, wird in den ersten Strophen in gleicher Intensität nachvollziehbar. Gleichzeitig sinnt der Singende schon über die Bedeutung dieses Ereignisses nach und kann, erkennbar am Konj. II („hätten wir müssen“), schon die Tatsache des Überwunden-Seins dessen, was sein Leben bedroht hat, vor sich aussprechen.
Dann schließlich wendet sich das Singen ganz den hoffnungstragenden Aspekten der Gnade, des Trostes, der Seligkeit zu, in denen die Zueignung der Hingabe Christi für den Menschen sichtbar wird.
Doch in allem Singen, auch zu Beginn, als noch Sünde, Verlorenheit und das Leiden Christi bedacht werden, ist im immer wiederholten dreifachen Kyrie die Gewißheit des Singenden präsent, daß der Gekreuzigte das Beten und Bitten erhört und mit Erbarmen antwortet.
So ist auch hier ein Grundgedanke des Lutherischen Sermons gespiegelt: Die Betrachtung des Gekreuzigten geschieht in dessen Gegenwart. Denn der Mensch würde unter der Sündenerkenntnis zerbrechen, es würde für ihn „eyn lauter vorzweyffelnn drauß“1, wenn nicht Christus bereitstünde, daß er die Sünde „mit Wag“ auf ihn wirft. Die Selbsterkenntnis des Menschen als Sünder ist an die Gotteserkenntnis gebunden; Luther lenkt den Blick des Betrachters, der unter der Sündenerkenntnis leidet, auf „seyn fruntlich hertz, wie voller lieb das gegen dir ist“2.
Die Kreuzesbetrachtung ist im Lied also niemals allein die Betrachtung eines objektiven Geschehens, das außerhalb und unabhängig vom Menschen sich zuträgt, sondern in gleicher Weise der Blick auf das Kreuz im Bewußtsein, daß es gerade für den Betrachter geschieht und er sich mit der Bitte um Erbarmen an Christus wenden soll, der hier um des Menschen willen handelt.
Die letzte Strophe ist schließlich die Feier der Beziehung, die im Kreuz gestiftet ist: „Ehre sei dir Christe“ – der Singende kann trotz seines Sünderseins vor Christus stehen und ihn ehren, ihm ist Wert und Würde dazu durch Christus verliehen.
Die Verwobenheit von Sündenerkenntnis und Gotteserkenntnis, von Zerknirschung über die Sünde, von der Erfahrung des Befreitseins aus ihr, von vertrauensvollem Bitten und Lob und Ehrerbietung gegenüber Christus macht aus diesem Lied eine Passionsmeditation, in der sich die evangelische Grundhaltung gegenüber dem Kreuz erfahren läßt.
Zur Fassung des Liedes im EG
Im EG ist die Strophenreihe von Hermann Bonnus stark gekürzt und umgestellt worden. Die Strophe „Ehre sei dir Christe“, die bei ihm zum Ausdruck der Haltung geworden ist, die dem Sünder durch die Passion und das darin erworbenen Heil dem Sünder zugesprochen ist, steht nun zu Beginn. Die Begründung des Heils in der Strophe „Wäre nicht gekommen …“ wirkt fast formelhaft, da ihr keine inhaltliche Herleitung vorausgeht. Für die Aufforderung zu Lob und Dank gilt dasselbe.
Angesichts des hier dargestellten Liedkonzeptes, nach dem Bonnus dem Heilsgeschehen in einzelnen Schritten nachgeht und so den Weg des Singenden in eine aufrechte Haltung vor Christus nachvollziehbar macht, wird deutlich, daß dem Lied in seiner torsohaften Form im EG seine Idee und Eigenheit genommen ist. Darum erscheint es – auch wenn die drei Strophen in ihrer Reihenfolge inhaltlich schlüssig sind – als unbedingt geboten, in einer nachfolgenden Ausgabe des Gesangbuches wieder die Strophenreihe von Bonnus in ihrer ersten Form wiederherzustellen. So wird die Idee des Liedes deutlich und im Singen nachvollziehbar. So ist der Zugang zur Passion über die Selbsterkenntnis möglich. So ist das innere Abschreiten des Befreiungsweges zur Erkenntnis der Rettung aus der eigenen Verlorenheit im Singen erlebbar.
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