Die Verwendung der Wortkonstruktion „gekommen in die Welt“ erinnert an johanneische Präexistenzchristologie. In dieser Begrifflichkeit ist darum festgehalten, daß es sich bei Christi Handeln am Kreuz um das Handeln Gottes gemäß seines vor der Zeit gefaßten Beschlusses zur Rettung der Menschen aus ihrer Sündennot handelt.
Er hat „angenommen unser arm Gestalt“. Das Verständnis der Entäußerung nach Phil 2: „und nahm Knechtsgestalt an“, auf das Luther oft rekurriert, spiegelt sich in dieser Formulierung wider. Er verbindet damit sein soteriologisches Konzept, das auf einem vertieften Verständnis der Menschheit Christi beruht: Der Verzicht auf das Einsetzen seiner göttlichen Eigenschaften gilt besonders in der Situation des Sterbens, weil er auch hier die Verlassenheit des Menschen aufgrund seiner Sünde erleben und durchleben wollte, um den Menschen auch aus dieser letzten Situation befreien zu können.
Darüberhinaus sind im Lied Anlehnungen an Luthers Sprache hörbar: Das Wortpaar „Gnad und Gunst“, in dem der Beweggrund für Gottes Heilshandeln in Christus benannt ist, wird auch von Luther verwendet. Bezeichnend ist diese Formulierung in einem seiner ersten Lieder: „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“. Gott erweist darin den Menschen seinen Willen zur Versöhnung: „Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst, die Sünde zu vergeben“. Angesichts der weitreichenden und intensiven Verbreitung der ersten Lieder Luthers kann man eine starke prägende Wirkung dieser Lieder annehmen, so daß der Einsatz dieses Wortpaares in Anlehnung an diesen Initiator reformatorischer Lieddichtung geschieht.
Ein weiterführender Aspekt verbirgt sich unter der Verwendung von „Gnad und Gunst“: Indem der Mensch Gott als denjenigen, der Sünden vergibt, anerkennt, und darin sich selber als einen, der in der Position des Sünders vor Gott steht, unterstellt er sich dessen Machtbereich. Der Empfang von Gnade und Gunst ist verbunden mit der Unterwerfung unter den, der diese erweist.2 Gnade und Gunst als Ursache zu Gottes vergebendem Handeln am Menschen findet seine Parallele im weltlichen Bereich: Gnade und Gunst sind die Attribute, die man herrschenden Fürsten beilegt, von denen man eine wohlwollende Haltung einem selber gegenüber erbittet.3
Der eben angeführte Rahmen der altkirchlichen Vorstellung von den Mächten, die um den Menschen ringen, ist an dieser Stelle mit dem Blick auf die Sündenvergebung also wiederaufgenommen: Wer die Sünde vergibt, dessen Herrschaft unterstellt sich der Mensch.
Zielsetzung des göttlichen Handelns ist die Seligkeit des Menschen (Str.4.). Damit ist der schon in der überlieferten deutschen Strophe „Ehre sei dir Christe“ verwendete Begriff aufgenommen, der auch in der reformatorischen Theologie von Bedeutung ist: Nicht mehr der Blick Anselms auf die verletzte Ehre Gottes ist Beweggrund zum Handeln Gottes in Christus, sondern der Mensch selber und seine Verfassung vor Gott steht im Mittelpunkt.
In der Seligkeit begründet sich der Trost gegen die widergöttlichen Mächte „Sünd und Tod und … der Höllen Glut“. Die Singenden rufen sich selbst gegenseitig zu diesem Trost auf, auf den sie sich in den bisher gesungenen Strophen gerichtet haben. Durch das bisher bedachte Geschehen sind sie aus der „Fährlichkeit“ dieses Machtbereiches gerettet. Daß das Geschehen am Kreuz und das Betrachten desselben seinen „Nutz“ getan hat und nun der Vergangenheit angehört, wie es von Luther im Sermon betont wird, kommt in dieser Abgrenzung gegen die Macht von Sünde und Tod zur Sprache
Besonders auch die am Ende stehende Bitte zu „bleiben bei seinem heilgen Wort“ entspricht der Schwerpunktsetzung Luthers in seiner Theologie. Denn das Wort Gottes ist es, das dem Menschen Heilsgewißheit gewährt.
Die Strophenreihe mündet in eine kollektive Selbstaufforderung zu Lob und Dank. Damit entspricht der Verlauf der Betrachtung dem in Luthers Sermon, in dem der Dank für das Leiden Christi aus der in der Betrachtung erweckten Selbst- und Gotteserkenntnis hervorgeht.
Nun wendet sich der Singende Christus zu, unterstellt sich ihm, indem er ihm seine Ehre zuspricht, die ihm aufgrund seines Leidens und Sterbens und ebenso in seiner Herrscherposition, die er in gleicher Weise wie der Vater einnimmt, zukommt.
Das „simul iustus ac peccator“ klingt in der abschließenden Bitte um die Zueignung der Seligkeit an: „Hilf uns armen Sündern“. Die Rettung ist geschehen, dennoch verharrt der Mensch durch sein Menschsein noch vorläufig im Bereich der Sünde und des Todes, der aber unumkehrbar überwunden ist und dem der Mensch in seiner Ausrichtung auf Christus entzogen ist.
Zusammenfassung
In seinem Lied ist sichtbar, daß Bonnus im Geiste der Reformation in der Nachfolge Martin Luthers dichtet. Er führt in seiner Dichtung den Singenden durch eine konzentrierte, prägnante Darstellung des reformatorischen Konzeptes von dem Heilshandeln Gottes am Menschen im Werk Christi. Er stellt dar, wie von der ersten Erkenntnis „O wir armen Sünder“ sich die Erkenntnis Bahn bricht, daß das eigene Sündersein nicht – wie in der Judasstrophe – unweigerlich den Tod bzw. ewige Höllenstrafe nach sich zieht, sondern durch die Wendung des eigenen Blickes auf Christus der Weg von der Verlorenheit in die Rettung durch das Leiden Christi führt.
Damit nimmt er die Kritik Luthers an der Judasstrophe in seine Strophenreihe auf, beginnend mit dem verfremdeten Zitat der Judasstrophe, und führt in seinem Lied an einer Betrachtungsweise entlang, die der Luthers in seinem Sermon entspricht und auch in den beiden sermones de passione anklingen läßt.
Wie Luther es auch tut, nimmt er Bilder aus der Tradition der Kirche auf, die nicht systematisch miteinander verknüpft sind, aber dennoch in die eine Richtung weisen, auf die er hinausführen will.
Trotz des Weges von der Selbstbeweinung zur Befreiung, den er gemäß der Ausführungen Luthers im Sermon verfolgt, unterscheidet dieser sich in Einzelheiten von dem Weg Luthers.
Anders als bei Luther, bei dem in dem Moment des Blickens auf den Leidenden das Erschrecken über sich selbst den Menschen ergreift und ihm die Beziehung offenbart wird, in die er durch das Handeln Christi gerufen ist, findet im Lied Bonnus’ eine Beziehungsstiftung zwischen Mensch und Christus erst spät statt. Eine Begegnung mit dem leidenden Christus, aus der die Selbsterkenntnis herrührt, geschieht nicht, denn bei Bonnus liegt das Geschehen in der Vergangenheit.
Bei Luther vereinen sich in dem Betrachten Christi am Kreuz aufgrund der Gegenwärtigkeit der Sünde und des sich am gegenwärtigen Menschen vollziehenden Heilswerkes Christi Vergangenheit und Gegenwart1, dagegen führt Bonnus in seinem Lied den Singenden an dem Kreuzesgeschehen als einem in der Vergangenheit abgeschlossenen Heilskonzept entlang. Die Begegnung des Singenden mit Christus findet erst in der letzten Strophe statt: „Ehre sei dir, Christe“. Eine Begegnung mit dem Leidenden ist nicht konstitutiv für die Heilszueignung. Sondern der Kontakt Mensch-Christus wird erst im Loben geknüpft. Der Mensch bittet Christus aufgrund seines in der Vergangenheit geschehen Leidens und seiner Herrschereigenschaften um die Zueignung der im Kreuz erworbenen Seligkeit: „Hilf uns armen Sündern zu der Seligkeit“.
Wenngleich diese Unterschiede in der Frage nach dem Ort und dem Zeitpunkt der Heilszueignung nicht unwesentlich sind, kann man aber mit Blick auf den Weg, den der Singende im Laufe des Liedes geführt wird, sagen, daß hier das Grundanliegen Luthers von Bonnus voll und ganz aufgenommen worden ist: Aus der „incurvatio in se ipsum“ aufgrund der Sünde, aus der Heillosigkeit seines Daseins, das unter der Herrschaft des Todes steht und darum in den Machtbereich von Sünde, Tod und Hölle unausweichlich verfallen ist, aus dieser Verlorenheit wird der Singende hin zu Lob, Dank und damit in ein neues Herrschaftsverhältnis geführt, das aber für den Menschen nicht mehr Tod, sondern Seligkeit bedeutet. Er kann sich dankbar zu Christus aufrichten, der im Himmel zur Rechten des Vaters herrscht, also in der genauen Gegenwelt zur Hölle, und der seine Rettung vor den Verderbensmächten vollbracht hat: „Denn wir sind gerettet aus aller Fährlichkeit“ durch Christus. Er ist „gelobt in Ewigkeit“, denn er hat diesen Sieg in ewiger Gültigkeit für die Menschheit errungen.
2.4.4 Ergebnis
Die Aufrichtung des Sünders im Singen
Das Lied von Hermann Bonnus hat sich als Darstellung eines heilsgeschichtlichen