Er setzt ein mit dem Beklagen der eigenen Sünde, die ihn zum „armen“ Sünder macht, denn vor seinem Leben steht durch diese Verfaßtheit das negative Vorzeichen des Todes, dem er unterworfen ist und dem er nicht entkommen kann, da die Ursache für seine Todesverfallenheit außerhalb seines Handlungsspielraumes liegt. Durch sein Menschsein ist ihm sein Weg vorgegeben: die vor der Zeit geschehene Sünde hat ihn dem Machtbereich des Todes verschrieben. Dem eigenen Handeln ist nicht das Potential gegeben, dieser Gefangenschaft zu entfliehen.
Doch der Blick wird auf das Handeln eines anderen gelenkt: des Gottessohnes, der unter Einsatz seines eigenen Lebens den Menschen in den Bereich von Gottes Gnadenhandeln geführt hat und die Singenden so der Macht des Todes entzogen und der göttlichen Macht unterstellt hat, die Seligkeit und ewiges Leben verheißt.
Wenn nun im Singen dieser Erkenntnisweg abgeschritten wird, kann der Singende Schritt für Schritt die Rettung innerlich nachvollziehen und darum auch emotional erfassen. Loben und Danken, Ehren und Bitten sind nun Handlungen, die er im Singen der Strophen selber mitvollzieht. Im Singen vollzieht sich an ihm die Aufrichtung aus der Haltung des zum Gottesbezug nicht fähigen Sünders hin zur Haltung des befreiten, aufgerichteten, sich auf Gott ausrichtenden Menschen. Das Singen berührt so seine Haltung Gott gegenüber und zugleich seine Selbstwahrnehmung. Es weckt in ihm Lob und Dank, durch die er sich nicht nur auf Gott ausrichtet, sondern auch im Blick auf sich selbst eine neue Haltung gewinnt: die des aufgerichteten Menschen, der aus dem inneren Verzagen zu einem Leben in Hoffnung erlöst ist. Der Mensch kann vor Christus stehen in der aufrechten Haltung dessen, der aus der Gewißheit lebt, vor ihm Bestand zu haben, der ihn anblickt und ihm die Ehre gibt.
Der Einfluß der Tradition auf die Dichtung
Neben der Grundbewegung der Aufrichtung sind auch andere Traditionen und Denkweisen in die Dichtung eingegangen. Sie setzen z.T. Schwerpunkte, die von dieser Bewegung ablenken und das Heilskonzept in ein anderes Licht stellen.
Am Beginn des Liedes und damit an herausgehobener und bestimmender Stelle steht die Erbsünde: der Mensch ist in „Missetat … empfangen und geboren“. Aufgrund der Erbsünde, d.h. in Folge der Sünde Adams ist die Natur des Menschen verderbt, so daß er „unterworfen ist dem ewigen Tod“ (Str.1), ihn erwartet eine Zukunft in „der Höllen Glut“ (Str.5).
Die Erbsünde wird hier als Ursache und Ausgangspunkt allem weiteren Geschehen vorangestellt.
Sie betont den Verhängnischarakter der Situation des einzelnen Menschen, in der er, ohne als Subjekt vorzukommen, als Teil des Kollektivs der Menschheit dem Sündentod ausgeliefert ist.
Ein weiteres Element des im Lied ausgeführten Versöhnungsmodelles ist die Rede von der Notwendigkeit. Notwendig ist der Tod des Gottmenschen: „es konnt nicht anders sein, denn Gotts Sohn mußt leiden des Todes bittre Pein“. Die Notwendigkeit spricht auch indirekt aus der unbedingt geltenden Kausalkette „So nicht wär gekommen … und hätt angenommen …, so hätten wir müssen …“. Die Begründung für die unbedingte Folge ist die Sünde: sie „war zu stark“, so daß es keinen anderen Weg gab.
Unübersehbar ist in diesen ersten Strophen die Anlehnung an das Versöhnungsmodell des Anselm von Canterbury in „Cur deus homo“. Es setzt an bei einer Forderung Gottes an die Menschen, der sie aber nicht nachkommen können. Dieses Schuldigbleiben des Geforderten aufgrund der Sünde macht es notwendig, daß die Schuld durch jemand anderen beglichen wird.
Anselm stellt ein Rechtssystem dar. Die Gottheit Gottes ist ihm zufolge gebunden an Ehre und Gerechtigkeit und an das System der Forderung an den Menschen. Erfüllt der Mensch die Forderungen nicht, muß es jemand anders tun. Von diesem Anliegen her und der Alternative „satisfactio aut poena“ ist der Tod Christi unausweichlich. Mit dem Ausgangspunkt der Gottheit Gottes muß der Tod Christi der Integrität des Denksystems dienen, Anselm muß die „Notwendigkeit der Heilstat Christi konsequent mit dem Gottesbegriff in Einklang setzen“1.
Bonnus scheint in seinem Lied in den ersten Strophen eben dieses System darzustellen.
Auch Luthers Denken ist von der scholastischen Tradition und dem Anselmschen Versöhnungsmodell geprägt. Auch Luther bedient sich an anderen Stellen des Begriffes der Satisfactio. Allerdings gewichtet er ihn nicht so hoch: Für ihn besteht nicht die Alternative „satisfactio aut poena“2. Er wertet ihn aber auch positiv: Kreuz und Auferstehung sind „satisfactio sufficientissima“3. Dennoch genügt ihm der Begriff „Genugtuung“ nicht: er hält ihn „für das Heilswerk Christi für unzulänglich, sofern diese eine nachhaltige Erlösung von Tod, Sünde und Hölle bedeute.“4 Zudem ist mit dem Begriff der Genugtuung wesentliches nicht gesagt, denn es ist so „zu schwach und zu wenig von der Gnade Christi geredt, und das Leiden Christi nicht genug geehret, welchem man mus höher ehre geben, das er nicht allein fur die sünde gnug gethan, sondern uns auch erlöset von des Tods, Teuffels und der Hellen gewalt und ein ewig Reich der Gnaden und teglicher vergebung auch der ubrigen sunde, so in uns ist, bestetigt“5.
Während bei Bonnus wie bei Anselm die Forderung Gottes im Hintergrund zu stehen scheint, die Menschen aufgrund ihrer Sünde nicht erfüllen können, richtet Luther den Fokus auf einen anderen Ansatzpunkt.
Luther geht es in seiner Theologie um das Gottesverhältnis des Subjektes. Die Sünde des Menschen kann er zwar auch an manchen Stellen als Erbsünde bezeichnen, doch ist bei ihm der Sündenbegriff nicht in erster Linie durch den Verhängnischarakter der Sünde Adams bestimmt, der bei Bonnus, erkennbar durch seinen Liedanfang, eine hohe Bedeutung hat. Sünde bezeichnet bei Luther die „primäre Beziehung des Menschen zu sich selbst“6, aus der Gott ihn durch das Angebot der Vergebung zurück in das Verhältnis der Gerechtigkeit setzen will. Er soll befreit werden aus der „incurvatio in se ipsum“ zu einem Menschen, der vor Gott und in Beziehung zu Gott leben kann.
Die Einbindung des Begriffes der satisfactio ist bei Luther durch sein Interesse an der Heilsgewißheit begründet; er zielt darauf, daß „die angefochtene fides … sich auf die alleinheilsdisponierende Kraft der satisfactio Christi“ ausrichten kann7. Nicht die Erfüllung der Forderung Gottes ist das Anliegen, sondern objektive Gewißheit, das Interesse an „der trostspendenden Faktizität, dem Daß der geschehenen stellvertretenden Satisfaktion Christi“.8
Wo bei Anselm der Tod Christi im Dienste des Gottesbegriffes zum Gedanken der Notwendigkeit führt, denkt sie Luther als Bedingung für das rechte Gottesverhältnis im Glauben mit: er will „die gegenüber jeder Form menschlicher activitas unersetzliche Funktion von Christi Stellvertretung für die fides hominum“ herausstellen.9
So wird deutlich, daß für Luther die Passion Christi eine andere Bedeutung hat als für Anselm: Ihm geht es nicht um die Versöhnung Gottes um Gottes willen, sondern um die Versöhnung des Menschen um des Menschen willen.
Im Lied von Hermann Bonnus erweist sich ein Umstand, der der gesamten Tradition der Deutung des Todes Jesu anhaftet: Die Rede von dem Sterben Christi bedient sich immer vorgegebener Sprachkategorien. Die Bezüge des Denkens Luthers und Bonnus’ reichen von der Theologie der Alten Kirche bis hin zu der von Anselm geprägten Scholastik und nehmen deren Gedanken und Bilder auf. Luther aber prägt um, entsprechend der Intention, die er verfolgt: Begrifflichkeiten werden der Ausrichtung auf die Erneuerung des Gottesverhältnisses des Menschen durch das Sterben Christi eingefügt und entsprechend umgeprägt.
Dies ist ein Vorgehen, das gewährleistet, daß in dem Bedürfnis, den Tod Christi je in der eigenen Zeit neu zu begreifen, das Denken sich dennoch nicht von seinen Wurzeln löst, sondern mit dem Überkommenen weiterdenkt und es in die jeweilige Gegenwart transformiert.
Es zeigt sich aber auch die Schwierigkeit, die diesem Verfahren innewohnt: Im Lied von Bonnus ist nicht unbedingt sofort seine neue, reformatorische Ausrichtung erkennbar, denn die Ähnlichkeit in der Darstellung zu dem Konzept von Anselm ist sehr groß. Erst im Verlauf des Liedes werden Grundzüge der lutherischen Theologie erkennbar.
Sündenerkenntnis und Hinwendung zu Christus
Die Vielschichtigkeit