Mit ihren ausgeschriebenen Preisfragen thematisierte die Sozietät die Bevölkerungspolitik im Berner Kontext folglich explizit und öffentlich. Dadurch ergaben sich gleichzeitig zwei Gelegenheiten für die gelehrten Eliten, die zum Teil durchaus in einem Unterordnungsverhältnis zur aristokratischen Regierung der Stadtrepublik standen: Sie konnten in den Zuschriften ihre Meinungen und Einschätzungen zu vormals und eigentlich nach wie vor geheimen Staatsangelegenheiten öffentlich formulieren. Durch die Publikation dieser Ansichten flossen außerdem neuartige Informationen, insbesondere an gebildete Untertanen, was wiederum bei diesen eine kritische Auseinandersetzung mit der Thematik zuließ.11 Für die vorliegende Studie sind einige Einsendungen auf die Preisfrage besonders interessant, weil sie sich explizit mit der Frage der richtigen obrigkeitlichen Ehepolitik auseinandersetzten. Diese Schriften fokussierten exakt jenen biopolitischen „Kreuzungspunkt von ‚Körper‘ und ‚Bevölkerung‘“, den Foucault „zur zentralen Zielscheibe für eine Macht“ erklärt hat, „deren Organisation […] auf der Verwaltung des Lebens […] beruht“.12 Es sind dies in chronologischer Reihenfolge die Schriften von Benjamin Samuel Carrard (1765), Jean Bertrand (1765), Abraham Pagan (1765), Jean Louis Muret (1766) und Charles-Louis Loys de Cheseaux (1766). Sie offenbaren die Diskrepanz zwischen der bevölkerungspolitischen Debatte, die „eine grosse Bevölkerung als Massstab der Glückseligkeit unter allen Umständen“ propagierte, und dem rigiden Berner Ehegesetz.13 Hier deutet sich bereits an, in welchem gouvernemental induzierten Dilemma sich die Eherichter mit ihren Urteilen über weite Strecken des Untersuchungszeitraums befanden.
Die publizierte Zuschrift, die sich am weitläufigsten mit der Eheschließung als Mittel zur Verhinderung der Entvölkerung der Landschaft auseinandersetzte, war jene aus der Feder des Theologen Benjamin Samuel Carrard. Sie verdient hier besondere Beachtung. Der Waadtländer hatte, sehr wahrscheinlich aufgrund der herrschenden kirchlichen Orthodoxie in Bern, auf eine Laufbahn als Pfarrer verzichtet und gehörte somit potenziell zu einer eher herrschaftskritischen Bildungselite in der Berner Landschaft. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung amtete er als Pfarrhelfer in Orbe, einer Gemeinde in der Waadt.14 Für seine Schrift, die das Accessit für die Publikation erhielt,15 wurde er mit einer silbernen Denkmünze ausgezeichnet.16 Dies bedeutet, dass er mit seinen publizierten, kritischen Überlegungen zumindest im genannten halböffentlichen Raum der gelehrten Elite einige Aufmerksamkeit erregte. In seiner Zusendung an die Oekonomische Gesellschaft reflektierte er den Charakter der Gesetzgebung, die eine Regierung zu erlassen hätte, um Wohlstand und Glück in der Bevölkerung zu steigern, also Fortschritt zu generieren. Die Schrift umfasste zwei Teile, die jene für das damalige Bern typische Mischung aus merkantilistischer und physiokratischer Wirtschaftspolitik widerspiegelten:17 Der erste Teil konzentrierte sich auf die Möglichkeiten der Steigerung der agrarischen Ressourcen im Ackerbau und die gesetzlichen Maßnahmen, die dafür in physiokratischer Gesinnung in die Wege geleitet werden mussten. Voraussetzung für einen florierenden Staat stellte ihm zufolge eine intakte Landwirtschaft dar. Sie erforderte die Umsetzung einer Reihe paternalistischer Reformen, damit die landwirtschaftlichen Erträge bereits vor dem Einsetzen des Bevölkerungswachstums gesteigert werden konnten. Die Fortsetzungsschrift widmete sich der populationistischen Herausforderung, das Bevölkerungswachstum anzukurbeln. Denn dieses bildete für den Autor die Grundlage eines prosperierenden Gewerbes und eines mächtigen Staats.18 Dabei spielte für den Landgeistlichen die Heiratspolitik eine zentrale Rolle: „Eine kluge politic wird also erfordern, die heyrathen zu begünstigen, und ihre fruchtbarkeit aufzumuntern, um soviel mehr, als es zugleich das sicherste mittel ist, die Bevölkerung zu befördern“, lautete sein vorweggenommenes Fazit.19
Zuvorderst unternahm der Theologe den Versuch, in aufklärerischer Manier zu beweisen, wieso die Ehe die populationistisch gesehen ‚nützlichste‘ Institution der Fortpflanzung sei. Als Anhänger der sogenannten ‚natürlichen Theologie‘, gewissermaßen des aufgeklärten Flügels der zeitgenössischen Theologie, verwies er dabei unablässig auf den Sinn und die ‚Nützlichkeit‘ der göttlichen Ordnung. Sie befand sich in seinen Augen in vollkommener Harmonie mit Natur und Vernunft.20 Außerhalb dieser natürlichen Ordnung waren, seiner Auffassung nach, die Frauen wesentlich weniger fruchtbar, wodurch das potentielle Wachstum der Bevölkerung nicht ausgeschöpft werden konnte.21 Die Ehe war seiner Meinung nach auch das probateste Mittel zur Reduktion der Kindersterblichkeit. Nur Kinder aus ehelichen Verhältnissen erfuhren „die ganze sorgfalt eines vaters und einer mutter“ und hatten deshalb bessere Überlebenschancen.22 Die erzieherische Vernachlässigung der Kinder hatte aber nicht nur Konsequenzen für deren Gesundheit und Sterblichkeit, sondern ließ sie in aufklärungspädagogischer Sichtweise auch zu „schlechte[n] glieder[n] der gesellschaft“ werden.23
Dem utilitaristischen Beweis der Nützlichkeit der ehelichen Ordnung folgte ein Plan zu deren Ausweitung auf immer mehr Menschen: Als erstes forderte Carrard ganz grundsätzlich den Abbau von Ehehindernissen. Damit verband er unmissverständliche Forderungen nach Gleichheit.24 Der Zugang zur Ehe sollte quasi demokratisiert werden, um „ihre freyheit auf festen fuß zu setzen“ und damit das Bevölkerungswachstum zu fördern.25 Carrard deutete die Ehe somit explizit als nützliches Freiheitsrecht. Diese Freiheitsforderung war der Gegenentwurf zum ständisch-patriarchalen Ehegesetz in Bern, das die Untertanen in zunehmendem Maß von der Ehe ausschloss. Dabei beabsichtigte Carrard mittels Eheschließungen „den wohlstand in allen classen der einwohner auszubreiten“ und „das glük aller bürger gleich zu verschaffen“.26 Im Zuge dieser Forderung verlangte der Theologe die Reduktion von Abgaben der Untertanen: „[D]urch die fehler der Regierung, durch schwere auflagen, durch einen mangel des schuzes zum vortheil der anschlägigkeit, durch vereinigung aller glüksgüter auf wenige geschlechter, durch vorzüge, die man einem allzuzahlreichen adel gestatet“, müsse die Zahl der Eheschließungen und damit die Fruchtbarkeit sinken.27 Dieser Anspruch auf Demokratisierung der Eheschließung aus der Feder eines Waadtländer Pfarrhelfers in einem Herrschaftsgebiet mit vermeintlich abnehmender Bevölkerung muss folglich als massive aufklärerische Kritik an einer patrizischen Regierung interpretiert werden – so auch wenn er schrieb: „Diese üble politic verstopft die quellen ihres reichthums sehr geschwinde: sie macht, daß die anzahl der Heyrathen abnihmt, daß das volk und mit demselben die summ der abgaben sich vermindert.“28
Auf die Grundsatzforderung nach der Demokratisierung der Eheschließung folgten in Carrards Argumentation sieben weitere Maßnahmen zur „aufmunterung zum Heyrathen und zur fruchtbarkeit“.29 Diese erscheinen aus heutiger Sicht teilweise eher disparat. Sie umfassten so unterschiedliche Anliegen wie die Förderung der Fischzucht zur Steigerung der Ernährungsgesundheit, die Steuerung des mütterlichen Stillverhaltens, die Verhinderung der Abwanderung von Bauern in die Stadt sowie typische zeitgenössische Luxuskritik, die die Verkleinerung des Dienstbotenstandes forderte und eine ‚natürliche‘ Lebensweise propagierte.30 In ihrem Kern mahnten sie aber immer die Sorgfaltspflicht der Obrigkeit gegenüber ihrer Bevölkerung an und fußten im Wesentlichen auf dem Ziel der Bevölkerungsvermehrung. Im Hinblick auf die weiter unten zu untersuchende Ehegerichtspraxis und die ehepolitische Urteilslogik der Richter interessieren insbesondere die Forderung nach der Bekämpfung der Unkeuschheit und die allgemeine Stigmatisierung von Ehelosigkeit und Witwenheiraten. Im Zusammenhang mit der Unkeuschheit kontrastierte Carrard in idealtypisch aufklärerischer Weise die leidenschaftliche mit der vernünftigen Liebe. Den Ursprung der Leidenschaft verortete er in der „sträflichen lust“ und der „anziehende[n] kraft“, die „eine unaufhörliche verschiedenheit“ auslöste.31 Ihr stellte er die „innigste […] verbindung“ gegenüber, die aus einer „gegenseitigen hochschäzung, aus einer gemeinschaftlichen dienstfertigkeit“ und der gemeinsamen Kindererziehung herrührte.32 Um die beständigen und ungleich fruchtbareren Eheverbindungen zu fördern und den außerehelichen Leichtsinn zu bekämpfen, forderte der Theologe die konsequente Durchsetzung strenger Sittengesetze mittels disziplinierender