Bei der Auflösung dieser Widersprüchlichkeit zwischen religiös akzentuierter moralisch-sexueller und ehrgeleiteter sozialer Ordnung wurde in den ersten Jahrzehnten nach der Reformation von den Sittengerichten die Herstellung sexueller Ordnung bevorzugt. Ausdruck davon war, dass AkteurInnen, die ihre Eheanspruchsklagen vor das Ehegericht zogen, schichtübergreifend signifikante Erfolgschancen besaßen. Die Ehegerichte förderten eheliche Verbindungen geradezu, um die angestrebte gesellschaftliche Reinheit herzustellen und zu garantieren. Doch bereits seit den 1560er Jahren bröckelte der Primat sexueller Ordnung, und die Diskrepanz zwischen moralischen Ansprüchen und materiellen Interessen wuchs. Die ständische Gesellschaft, die in ihrer materiellen Ausformung maßgeblich auf der Agrarwirtschaft aufbaute, war geprägt von sozialer Stratifikation und von begrenzten Ressourcen, so dass die durch reformatorische Dynamiken ausgelöste inkludierende Haltung der Ehegerichte bald abnahm. Sie wich einer Praxis, die knappe Ressourcen hütete, indem sie das Recht auf Ehe stark beschränkte und eine zunehmend repressive Moralpolitik verfolgte. So kam es in der Folge durch die gesetzgeberische und richterliche Praxis zu einem relativen Rückgang der Eheschließungen – dies mit einem paradoxen Effekt: Das Ungemach der sittlich-moralischen Verunreinigung, die es durch die christliche Obrigkeit abzuwenden galt, nahm zu und wurde auf diese Weise perpetuiert.6
Historiker*innen sind sich denn auch über die Folgen des aufgezeigten wachsenden Widerspruchs zwischen sexueller und sozialer Ordnung auf normativer und disziplinarischer Ebene einig: Spätestens im Verlauf des 17. Jahrhunderts verschärften sich die Ehegesetze kontinuierlich zu Ungunsten vermögensloser, besitzloser, armer Bevölkerungsschichten. Für die Eheschließung wurden Vermögensnachweise und Einzugsgelder eingeführt und sukzessive erhöht. Gleichzeitig wurden Strafandrohungen und effektive Sanktionen gegen voreheliche Schwangerschaften verschärft. Der moralische Druck auf die unteren Schichten nahm massiv und stetig zu.7 Für Bern hat Schmidt anhand der Berner Gemeinden Vechigen und Stettlen für den Zeitraum von der Mitte des 17. bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts aufgezeigt, dass es zu einer gesetzlichen und gerichtlichen „Verschärfung der Gesamtlage“ für mittellose Eheschließungen kam. Gesetzlich wurde das Ehemündigkeitsalter im Herrschaftsgebiet von Bern kontinuierlich angehoben. Schmidt hat für Bern eine Aufstellung des Mündigkeitsalters seit der Einführung der Reformation bis zur letzten Revision der Ehegerichtsordnung gemacht. Während das Mündigkeitsalter 1529 bei 19 Jahren für Frauen und 20 Jahren für Männer lag, mussten 1743 beide Geschlechter 25 Jahre alt sein; mit der Ordnung von 1787 wurde es um ein Jahr auf 24 reduziert.8 Hurerei- und Ehebruchsdelikte wurden strikt verfolgt und rigide bestraft, Brautschwangerschaften vehement bekämpft und Armenehen mit aller Macht verhindert.9 Der disziplinarische Erfolg der Gesetze blieb allerdings aus: Berns Obrigkeit und den lokalen Chorgerichten gelang es nicht, die voreheliche Sexualität einzudämmen, geschweige denn zu unterbinden. Die relative Delinquenz nahm vom 17. zum 18. Jahrhundert zu. Und so ist Schmidt in Anbetracht dieser Entwicklungen für Bern zur These gelangt, dass die bernische Sittenzucht gescheitert war, wenn es ihr Ziel gewesen war, diesen Trend aufzuhalten.10 Forschungen, die sich über Bern hinaus intensiv mit der Thematik der Illegitimität auseinandergesetzt haben, kommen zu dem quantitativen Befund, dass in Europa im 18. Jahrhundert die Zahl der unehelichen Kinder stetig zunahm und die vorehelichen Konzeptionen drastisch stiegen.11 Für Bern belegt Brigitte Schnegg diesen Befund anhand des Beispiels der Kirchgemeinde Thurnen. Sie kann zeigen, dass die Illegitimenrate von der Mitte des 18. Jahrhunderts von 2% bis zum Ende des Jahrhunderts langsam zunahm und dann im 19. Jahrhundert auf 6% anstieg.12 Für die Berner Kirchgemeinde Langnau kommt Benedikt Bietenhard zu vergleichbaren Ergebnissen.13
Die parallel dazu restriktiver werdende Heirats- und Moralpolitik, die scheinbar „jede Lücke für die Heirat armer Leute schloss“14, weil die Fürsorgeeinrichtungen seit dem 16. Jahrhundert zunehmend an ihre Grenzen stießen,15 erweckt in Bezug auf die obrigkeitliche Bevölkerungs- und Moralpolitik von Bern den Eindruck, die Potentaten wären bei der Verhinderung illegitimer sexueller Verbindungen einer wirkungslosen, naiven und unbelehrbaren Logik gefolgt. Demzufolge hätten sie die sozioökonomischen Entwicklungen nicht registriert und bereits simple Zusammenhänge weder erkannt noch verstanden, während der Konnex zwischen Sexualität und Heirat in der Praxis der AkteurInnen gleichzeitig immer loser wurde.16 Die strengeren Gesetze und die restriktive Ehegerichtspraxis, die Berns Regierung wie andere Obrigkeiten bewusst androhte, wenn sie in der Ehegerichtsordnung von 1667 forderte, „die straffen bey zunemmung der ubertrettungen zu stercken und zu vermehren“17, vermochten die Zahl unehelicher Geburten etc. offensichtlich nicht einzudämmen. Im Gegenteil: Im 18. und 19. Jahrhundert schossen die Ziffern in die Höhe.
Der besagte Eindruck mag insbesondere entstehen, wenn Sozialhistoriker*innen einen unvermittelten Zusammenhang zwischen Gesetz und Reproduktionsverhalten annehmen.18 Diese Annahme geht davon aus, dass der Obrigkeit und den Gemeinden über die Ehebewilligungspraxis ein mehr oder weniger effektives Instrument zur Steuerung des Fortpflanzungsverhaltens der Menschen zur Verfügung gestanden habe. Entsprechend dieser Auffassung waren es primär die auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen angelegten Normen und Sanktionsmaßnahmen, die das Reproduktionsverhalten der Menschen regulierten. Sie folgt damit dem malthusianischen Standpunkt, dass sich jede Gesellschaft Regeln auferlegt, die implizit dazu tendieren, „dass nicht mehr Individuen das Erwachsenenalter erreichen, als ernährt und beschäftigt werden können“.19 In einer Gesellschaft, die die außereheliche Sexualität scheinbar nicht tolerierte, erfolgte die maßgebliche Steuerung der Geburten – neben dem weiblichen Stillverhalten, das die Intervalle zwischen den Geburten bestimmte – über das gesetzlich festgeschriebene Ehefähigkeitsalter.20 In dieser Sichtweise erscheinen die Ehegesetze tendenziell als über die Jahre ineffizient gewordenes bevölkerungspolitisches Instrument der Berner Machteliten, das nicht mehr zu steuern vermochte, was es steuern sollte. Die gesetzlichen Regulative der Eheschließung dienten in dieser Optik primär der Strukturierung der Bevölkerungsgröße und -zusammensetzung, mit dem Ziel, das materielle ‚Gemeinwohl‘ zu sichern, respektive die zur Verfügung stehenden Ressourcen nicht über die Maßen zu strapazieren.21 Kurzum: Die Eheschließung tritt in dieser Perspektive als jene bevölkerungspolitische Einrichtung auf, die die Größe der Gesellschaft erfolgreich und effizient nach gewissen historischen Vorstellungen zu steuern hatte.22 Das konnte sie allerdings in zunehmendem Maß nicht mehr leisten. Die Regierung scheint mit ihren Ansprüchen gescheitert zu sein.
Gesteigerte soziale Distinktion durch repressive Ehepolitik
Folgen wir der ausgeführten sozialhistorischen Logik, dann hätte Berns Regierung strenggenommen auf der Überzeugung beharrt, dass die Sexualität der Untertanen tatsächlich über eine restriktive und disziplinarische Ehepolitik effektiv gesteuert werden konnte – dies, obwohl alle Zeichen der Zeit, die nota bene durch protostatistische Erhebungen allmählich messbar gemacht wurden, gegen diese direkte Korrelation sprachen. Damit hätte die Regierung sowohl kontraintuitiv als auch entgegen reformierter Anthropologie an der Überzeugung eines evidenten Zusammenhangs zwischen Ehebewilligungen und Sexualverhalten festgehalten. Berns Magistrate hätten sich somit in doppelter Weise geirrt. Denn der Berner Obrigkeit im 18. Jahrhundert misslang angesichts der steigenden unehelichen Geburtenzahlen und der vorehelichen Schwangerschaften sowie der wachsenden Bevölkerung ganz offensichtlich sowohl die sittlich-moralische Veredlung ihrer Standesgenossen und Untertanen als auch die effektive und effiziente Steuerung des Bevölkerungswachstums.1
Angesichts der seinerzeit zur Verfügung stehenden Zahlen zur Illegitimität fällt es schwer, eine solche Naivität der Berner Regierung anzunehmen und davon auszugehen, dass die Räte und Gerichte des Stadtstaates mit strengeren ehepolitischen Auflagen verzweifelt, aber erfolglos versucht hätten, die voreheliche Sexualität, die illegitimen Geburten und die wachsende Zahl besitzloser Bevölkerungsteile in den Griff zu bekommen. Gerade die Reformierten waren, wie oben dargelegt, der Überzeugung, dass die menschliche Sexualität integraler Bestandteil der fehlerlosen göttlichen Schöpfungsordnung war. Deswegen konnte das sexuelle Schicksal der Menschen nicht überwunden werden, sondern lediglich in die richtigen Bahnen gelenkt und in