Die statistisch ausgewiesene Obrigkeitskritik, die durch Murets Studie zum Ausdruck kam, wurde durch die Vorrede der Oekonomischen Gesellschaft noch verschärft. Unter expliziter Bezugnahme auf die Bevölkerungsanalysen des Pfarrers wurde im Vorwort bemerkt, dass eine erfolgreiche Regierung ihre Bevölkerung zu vermehren wissen würde:
„In diesem neuen Jahrgange erscheinet vorerst die längste angekündete Abhandlung von dem Zustande der Bevölkerung unsers Landes. Ein immer wichtiger gegenstand. Denn darauf kommt alle Staatskunst an; die kenntniß von der zahl und geschäftigkeit der Untergebenen ist einem Fürsten unentbehrlich. Sein beruf, seine vorschrift ist, die gröste mögliche zahl von menschen zu beglüken. Die Bevölkerung ist die probe der Regierung. Ist jene blühend, ist sie im anwuchse; so schliessen wir, die verfassung, und welches eine folge davon ist, die verwaltung ist gut.“9
Berns Bevölkerung schien im Rückgang begriffen. Ergo wurde hier unverhohlen formuliert, dass die Potentaten Berns die angesprochene Probe nicht bestanden und ihre Pflicht nicht erfüllt hatten. Der Erfolg einer Regierung wurde im Geist der aufgeklärten Staatsräson von den gelehrten Zeitgenossen an ihrer Bevölkerungspolitik und der Zahl der Untertanen gemessen. Murets Kritik traf die Berner Obrigkeit also im Kern ihres eigenen Herrschaftsverständnisses.10 Die Ausführungen des Geistlichen waren folglich politisch höchst brisant. Ein Untertan aus der Waadt – als Pfarrer zwar zweifellos gebildet und vor Ort eine besondere Zwitterstellung zwischen Obrigkeit und Lokalbevölkerung einnehmend, aber trotz dieses Wissens und seiner Stellung als lokaler Beamter von der politischen Partizipation ausgeschlossen11 – kritisierte mehr oder weniger öffentlich die Bevölkerungspolitik der gnädigen Herren von Bern:
„Obwohl indessen aus der vergleichung der Tauf- und Todtenregister erhellet, daß (wenn jedoch die Auswanderung ausgenommen wird) sogar bey dem gegenwärtigen zustande der sache, ein ziemlich beträchtlicher überschuß, und ein sicheres erholungsmittel vorhanden wäre, das land wieder zu bevölkern, so fehlet doch noch vieles daran, daß das land alle seine vortheile sich zu nuzen mache.“12
In Murets Argumentation erschien die restriktive Ehegesetzgebung, die eine große Zahl der Menschen von der Ehe ausschloss, nicht nur nutzlos, sondern vollkommen verfehlt. Denn sie verhinderte, dass sich die Bevölkerung vermehrte, obwohl genügend Ressourcen dazu vorhanden waren.13 Murets preisgekrönte Schrift brachte das politische Parkett von Bern zum Beben: Eine konservative Mehrheit im Rat stieß sich daran, dass Mitglieder aus den eigenen Reihen in einer privaten Vereinigung – gemeint war die Oekonomische Gesellschaft – einer Kritik Raum boten, die die Wirksamkeit der obrigkeitlichen Bevölkerungspolitik offen in Frage stellte. Albrecht von Haller, der zu dem Zeitpunkt amtierender Präsident der Oekonomischen Gesellschaft war, wurde daraufhin vom amtierenden Schultheißen Johann Anton Tillier vorgeladen. Der Regierungsvorsteher tadelte den Repräsentanten der Sozietät für die öffentliche Einmischung in staatspolitisch sensible Angelegenheiten. Haller thematisierte die Vorladung in einem Schreiben an Samuel Auguste André Tissot: Man fürchte sich in Bern vor privater Kritik an der Regierungspraxis, womit er gleich noch die Ignoranz der in seinen Augen konservativen Regierung der Kritik aussetzte.14
Murets Studie und die ebenfalls kritische Stellungnahme der Oekonomischen Gesellschaft in der Vorrede zum selben Heft der Abhandlungen führten in der Folge dazu, dass der Rat der Sozietät die Beschäftigung mit regierungsrelevanten Themen – was im zeitgenössischen gouvernementalen Verständnis bevölkerungspolitische Gegenstände waren – untersagte. Zusätzlich verbot man den Regierungsmitgliedern der Gesellschaft die Teilnahme an den Versammlungen der Helvetischen Gesellschaft.15 Es wurde befürchtet, dass durch regierungskritische Gesellschaftsglieder Bernische Staatsgeheimnisse nach Schinznach getragen würden und den Miteidgenossen zu militärischen, demographischen und wirtschaftlichen Vorteilen verhelfen könnten. In konservativen Regierungskreisen bestand die latente Angst vor politischem Einfluss aus den aufklärerischen Kreisen der Helvetischen Gesellschaft. Die Ableger der Oekonomischen Gesellschaft in Berns Landschaft wurden mittels Mandat vom 20. September 1766 fortan unter die Aufsicht der betreffenden Landvögte gestellt.16
Nach Muret meldete sich noch Charles-Louis Loys de Cheseaux mit einer populationistischen Zuschrift zum Zustand der Bevölkerung, worin die Förderung der Eheschließung wiederum eine wesentliche Rolle für das Bevölkerungswachstum spielte.17 Die Schrift war in ihrer Tonalität allerdings ausgesprochen zurückhaltend. Trotzdem wurde auch dort in der „Seltenheit der Ehen“ eine maßgebliche Ursache für den Bevölkerungsrückgang gesehen.18 Der gemäßigte Ton dürfte eine direkte Folge der vorausgegangenen Rüge von Seiten der Obrigkeit an die Adresse Murets und der Oekonomischen Gesellschaft gewesen sein. Auch die Oekonomische Gesellschaft war offensichtlich darum bemüht, die Wogen zu glätten, wenn sie im Vorwort zu Loys Schrift die Hoffnung ausdrückte, eine der Regierungsmeinung entgegengesetzte Position publizieren zu dürfen, ohne dass ihr politisches Kalkül zur Last gelegt würde.
1.4 Von der Angst vor der Entvölkerung zur Angst vor der Überbevölkerung
Schon in den 1760er Jahren gab es in der Oekonomischen Gesellschaft allerdings auch Stimmen, die dem propagierten Populationismus gegenüber kritisch eingestellt waren. Sie schlugen eine ganz andere, nämlich patriarchale Ehepolitik vor, die viel stärker „der Tradition des Hausvater-Modells“ folgte1 – so zum Beispiel der Berner Landgeistliche Albrecht Stapfer,2 der für einen prosperierenden Landbau klassisch anmutende patriarchale Maßnahmen propagierte: Die Eltern sollten darauf achten, dass ihre Kinder eher spät heirateten, weil in seinen Augen Verehelichungen in jungen Jahren meistens unglücklich endeten.3 Wer sich dagegen im reifen Alter traute, tat das nicht „aus einem jugendlichen und hizigen triebe“, sondern „[gründet] sich zugleich auf vernunft“, woraus eine „zärtliche und unzertrennliche freundschaft“ in der Ehe resultiere.4 Diese Beziehungsgrundlage ließ auch in der Auffassung des Vikars den Nachwuchs „gesünder und stärker“ werden, weil die Erziehung in diesen kooperativen Ehen besser gewährleistet werden könne. Zudem stellte diese Freundschaft die Basis dar, um „einem hauswesen recht vorzustehen“.5 Die Verantwortung lag nach Stapfers Auffassung bei den Eltern, „dass sie ihren kindern nicht allzuviele freyheit in dieser so wichtigen sache gestatten“.6 Vätern und Müttern oblag es, ihre Kinder von „böser gesellschaft“ in „weinhäuser[n]“ fernzuhalten.7 Denn dort würde sich die ausgelassene Jugend treffen, die Söhne und Töchter verführte. Er warnte in durchaus aufklärerischem Duktus vor den ländlichen Gepflogenheiten der Eheanbahnung, die entweder zu unglücklichen Ehen oder einem zahlreichen unehelichen Nachwuchs führen würden.8 Stapfer forderte deswegen, dass die Eltern besonders die Schamhaftigkeit ihrer Söhne pflegten. Sie sollten diese fördern, indem sie den männlichen Nachwuchs abends im Haus behielten. Dadurch würden die Söhne vom nächtlichen Umherschweifen ab- und somit von den liederlichen Mägden ferngehalten, die in Stapfers Vorstellung nur listig danach trachteten, die Söhne „anzuloken“.9 Aus den elterlich unkontrollierten Verbindungen konnten nur zwei denkbar schlechte Szenarien resultieren. Entweder mussten die Eltern eine Frau in ihrem Haus aufnehmen, die ihnen missfiel, oder der Sohn musste in einer hier ständisch-patriarchal gedachten Ehrgesellschaft „für sein ganzes leben einen schandflek“ tragen, der ihn zeitlebens „an einer guten heyrath hindert[e]“.10 In Stapfers konservativer Abhandlung war es somit nicht vordringlich die Aufgabe des Staates, ehefördernde Maßnahmen zur Bevölkerungsvermehrung zu betreiben. Im Vordergrund stand die Obliegenheit der Eltern, die Eheschließungen ihrer Kinder in patriarchaler Manier zu kontrollieren, restriktiv zu verwalten und in die richtigen Bahnen zu lenken. Dazu sollten