Die verzögerte Ausschreibung der Preisfrage
Die Rhetorik der Ehegerichtsordnung und der Geist der zeitgenössischen bevölkerungspolitischen Diskussion kamen sich immer näher und überlagerten sich 1791. Denn jetzt schrieben die Verantwortlichen der Oekonomischen Gesellschaft explizit eine Preisfrage aus, deren Beantwortung sich mit den Vorzügen und Nachteilen einer Bevölkerungsvermehrung auseinanderzusetzen hatte. Die Bevölkerungszunahme war in der Wahrnehmung der Zeitgenossen mittlerweile eine unbezweifelbare Tatsache geworden, die selbst in den Kreisen der Oekonomischen Gesellschaft nicht mehr positiv bewertet wurde.1 Karl Ludwig Haller stellte als Sekretär der Gesellschaft 1796 in der Neuesten Sammlung von Abhandlungen der Berner Sozietät den in den 1760er Jahren noch gelobten Populationismus durchaus tendenziös in Frage:
„Schon seit einiger Zeit hatte man in verschiedenen Staaten, und auch in dem hiesigen, zu bemerken angefangen, daß die besonders seit König Friedrich II. so sehr in Umlauf gekommene, und fast von allen Regierungen befolgte Maxime, die Bevölkerung ihrer Staaten so sehr immer möglich zu befördern, nicht unbedingt richtig sey, und daß der beständige Anwachs einer nur durch unzureichende oder unsichere Erwerbungsarten sich ernährenden, meistentheils eigenthumslosen Volksmenge, dem Staate in mancherley Rücksichten nachtheilig und beschwerlicher werden könne. Durch diese und andere Betrachtungen ward demnach die ökonomische Gesellschaft veranlasset, im Jahr 1791 mit einem Preis von 20 Dukaten die Beantwortung der Frage auszuschreiben: In wiefern die zunehmende Bevölkerung für den Canton Bern und seine verschiedenen Distrikte vortheilhaft oder nachtheilig sey?“2
Auf die Ausschreibung der Frage gingen zwei Antworten ein, wobei die eine von der Redaktion aber wegen mangelnder Gründlichkeit nicht publiziert wurde. Die andere, bereits 1792 eingereichte und schon damals von der Versammlung preisgekrönte, aber erst vier Jahre später publizierte Antwort, wurde wiederum von einem Pfarrer verfasst.3 Allerdings handelte es sich nun nicht um einen waadtländischen Landgeistlichen, sondern um einen noch in der Ausbildung befindlichen Pfarrvikar, der laut einem Nachruf in der Eidgenossenschaft weit herumgekommen war.4 Gottlieb Siegmund Gruner, der noch im Jahr der Publikation das Amt des scheidenden Sekretärs Karl Ludwig von Haller übernahm und bis 1807 innehaben sollte, bezog eingehend Stellung zur Frage, ob es die Bevölkerung zu vermehren galt oder ob man sie davon abhalten sollte.5
Der traditionelle Geist dieser Schrift wird schnell ersichtlich, wenn man sie vor dem populationistischen Hintergrund der Waadtländer Geistlichen liest, die ihre Einschriften rund ein Vierteljahrhundert früher formuliert hatten. Gruners Publikation war geradezu eine Abrechnung mit dem merkantilistisch geprägten Populationismus. Laut dem Autor entsprach die populationistische Bevölkerungstheorie einer Täuschung, die den unbescheidenen „Launen“ Einzelner entsprang.6 Sie schenkten seiner Meinung nach abstrakten Größen wie Volksmenge, Reichtum, Handel, Manufakturen etc. aus egoistischen wirtschaftlichen Motiven mehr Glauben als der materiellen Realität des Gemeinwesens, die es für Gruner primär zu berücksichtigen galt. Den Merkantilisten warf er deswegen in diskreditierender Weise Spekulation vor, während er sich der empirischen Faktizität rühmte. Nur tyrannische Despoten könnten sich eine uneingeschränkte Vermehrung ihrer Untertanen wünschen, weil ihnen deren Wohl gleichgültig wäre, so Gruner. Eine menschenliebende und landesväterliche Regierung müsse sich wegen der uneingeschränkten Bevölkerungsvermehrung über die Grenzen der natürlichen Ressourcen hinaus hingegen Sorgen machen, weil die Versorgung ihrer geliebten Untertanen auf dem Spiel stünde.7 Damit verriet der Antwortende unverhohlen seine physiokratische Gegenposition: Das wahre Wohl lag für ihn nicht in merkantilistischen Einbildungen, sondern erschöpfte sich in den Grenzen der durch den Menschen zu steigernden Fruchtbarkeit und Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, die der Boden hergab. In dieser bevölkerungspolitischen Logik waren also vor allem Landarbeiter nötig, die die natürlichen Ressourcen bewirtschafteten und optimal ausnutzten. Wo die Bauern ihren Beruf gegen vermeintlich lukrativere und scheinbar bequemere Erwerbsarbeit eintauschten, würden sie die durch die Landwirtschaft garantierte Nahrungssicherheit aufgeben.8 In Gruners Schrift lässt sich somit die pessimistische Interpretation des Übergangs von einer ständisch organisierten Gesellschaft hin zu einer Klassengesellschaft finden. Wenn der Bauer „seinen Stand verlässt“, beginnt die dystopische Klassengesellschaft, weil er die Produktionsmittel aus der Hand gibt und zum abhängigen Arbeiter oder Händler wird.9 Daraus resultierte ein System, in dem immer weniger produzierende Bauern eine wachsende Schicht handeltreibender Spekulanten und über ihre Verhältnisse lebender Konsumenten ernähren müssten.
„Wenn dieser Stand mit seinen Sitten der sich mehrenden Volksmenge weichen muß, so wird er von einer Klasse verdrängt, die, was er uns verschafte, in viel geringerem Maße hervorbringt und hingegen in grösserm verzehrt.“10
Gruner erachtete folglich nur ein den organischen Ressourcen entsprechendes Bevölkerungswachstum als für den Staat wünschenswerte Entwicklung. Zudem sollte dieses von den hofbesitzenden Bauern ausgehen.11 Im Zuge seiner bevölkerungspolitischen Überlegungen spielten zur Regulierung der Gesellschaftsgröße deshalb auch ehepolitische Erwägungen eine zentrale Rolle. Dabei unterschied sich der Physiokrat in seiner Argumentation von den kameralistisch inspirierten Populationisten darin nicht, dass die Ehe als einzige legitime Ordnung der Sexualität und Fortpflanzung gelten sollte. Doch die daraus abgeleiteten heiratspolitischen Forderungen waren komplett verschieden. Während die Populationisten mit der Herabsetzung der Volljährigkeit versuchten, junge Männer und Frauen der väterlichen Gewalt zu entwinden, galt es für Gruner im Umkehrschluss, den Zugang zur Eheschließung durch die Stärkung der patriarchalen Kontrolle zu erschweren. Die Ehe sollte restriktiv verwaltet und an Besitz, Arbeit und Vermögen geknüpft werden. Sie sollte bestimmt nicht demokratisiert und breiteren Schichten zugänglich gemacht werden. In Bezug auf die ehepolitischen Folgen kritisierte Gruner ganz besonders die in Bern weitverbreitete Realteilung. Dagegen hob er die Vorzüge der Primogenitur hervor: Wo Väter nicht jedem Sohn, sondern nur dem Erstgeborenen ihren Besitz hinterließen, da wären die Ehen rarer, stabiler und glücklicher, aber auch fruchtbarer.12 Dass in diesem Erbschaftssystem einige Söhne unverheiratet bleiben mussten, war Gruner gerne bereit hinzunehmen. Denn dadurch blieb der Besitz zusammen und band die ledigen Söhne an den elterlichen Hof. Sie mussten in der Theorie des Vikars deshalb nicht in jungem Alter verkostgeldet werden, weil sie auf dem elterlichen Hof gebraucht wurden. Das hatte den positiven Effekt, dass sie ortsansässig und der Aufsicht und Kontrolle der lokalen Gemeinschaft unterstellt blieben. Auf diese Weise konnte „daher jedem Hange zum Leichtsinne, zur Liederlichkeit oder Verschwendung beyzeiten vorgebeugt […] werden“.13 Wo hingegen die Grundgüter durch Realteilung kontinuierlich verkleinert würden, stellten dem Vikar zufolge Heim- und Fabrikarbeit eine verführerische Alternative zum Getreideanbau dar. Das Resultat war in den Augen Gruners Sittenzerfall und die ungebremste „Vermehrung armseliger Haushaltungen und unnützer, unglücklicher Menschen“.14 In seiner Abhandlung war es deswegen auch eine besondere Qualität kommunaler agrarischer Verfassungen, hohe Einzugsgelder für Neuankömmlinge und Einheiratende zu verlangen. Gruner interpretierte es geradezu als einen Akt der landesväterlichen Güte, Eheschließungen von Armen, die bei ihm per se leichtsinnig waren, mit diesem Mittel zu verhindern. Denn der Pfarrvikar stellte Armutsphänomene in einen kausalen Zusammenhang mit sexueller Unreinheit. Das tat er, indem er den Tatbestand des Leichtsinns zum Normalfall des sexuellen Kontakts in den unteren Bevölkerungsschichten erhob. „Der die Armuth gewöhnlich begleitende Leichtsinn“ und „besonderer niedriger Eigennuz“ dieser spezifischen Bevölkerungsschicht gingen für ihn einher. Es war in seinen Augen der sexuelle Leichtsinn der Armen, der sämtliche Solidarität