Die Furcht vor der ‚Depopulation‘, die auch unter Gelehrten kursierte, weckte und beförderte das obrigkeitliche Interesse an der statistischen Erfassung der Bevölkerung. Die gute Herrschaft musste wissen, wie es um ihre Bevölkerung und somit ihre Steuereinnahmen und militärische Stärke stand.20 Deswegen wollten die Berner Magistraten „den Zustand der Ungewissheit in diesem sicherheitspolitisch sensiblen Bereich überwinden, das Phänomen intellektuell unter Kontrolle bringen und damit einer Bewältigung durch Massnahmen zugänglich machen“.21 Folglich wurden in diesem politischen Klima in Bern erste statistische Techniken zur Erhebung demographischer Daten wie Geburtenzahlen, Todesraten und Eheschließungsziffern übernommen, angewendet und entwickelt. Diese Entwicklung trug sich an verschiedenen Orten in Europa zeitgleich zu. Die Datenerhebungen und die damit gewonnenen Zahlen erhielten im hier beschriebenen Zeitraum eine ganz neue Bedeutung. Sie wurden zum Schlüssel der „Realitätserfassung“,22 mutierten zur Grundlage für politische Entscheidungen schlechthin und wurden zum Ausgangspunkt obrigkeitlicher Planungen. Demographische und ökonomische Daten, die sich in Ziffern ausdrückten, wurden zum mächtigen Mittel der Rechtfertigung in der politischen Entscheidungsfindung.23 Sie sollten fortan als rechnerische Grundlage für die gesamte weitere Planung und Umsetzung staatlicher Bevölkerungspolitik figurieren.24 Empirie und Rationalität sollten die grundlegenden Prinzipien sämtlicher politischer Reformen werden. Die erhobenen Daten zur Bevölkerung wurden zu Faktoren der Regulierung und somit Dimensionen der Macht, weshalb sie von den Obrigkeiten meistens für ein sicherheitspolitisches Risiko erachtet und geheim gehalten wurden. Verfolgt wurde das Ziel, die Leistungsfähigkeit des Staates auf sämtlichen Ebenen zu steigern. So sollten Macht und Souveränität gegen innen und außen befördert werden.25 Bevölkerung und Wirtschaft wurden in ihrer Verbindung als Gegenstand und legitimatorisches Prinzip der Regierung entdeckt.26
In diesem Licht muss auch die Volkszählung der Berner Regierung von 1764 betrachtet werden. Im Sommer dieses Jahres wurden sämtliche Pfarrer Berns von der Almosen-Revisions-Kommission aufgefordert, zwecks Datenerhebung von der Regierung zugestellte Fragebögen auszufüllen.27 Die Fragebögen umfassten unter anderem die Bezifferung der Taufen, der Todesfälle und der Eheschließungen. Aus rein statistischer Sicht hätten die erhobenen Daten die Angst vor einer drohenden Entvölkerung mildern können, da sie keine Anhaltspunkte für eine Entvölkerung lieferten.28 Dennoch ebbte die Furcht vor dem Bevölkerungsschwund keineswegs ab. Sie war größer als das Vertrauen in die Zahlen. Aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und der Staatsräson publizierte der Rat, der, trotz der gewonnenen Daten, Herrschaftskritik befürchtete, die Resultate der Zählung nicht. Dadurch ließ Berns paternalistische Regierung – aus heutiger Sicht – quasi die Chance aus, die grassierende Befürchtung einer Verkleinerung der Bevölkerung zu entkräften.29
Die Oekonomische Gesellschaft von Bern und die Furcht vor der Entvölkerung
Ganz im reformabsolutistischen Geist stand auch das Programm der Oekonomischen Gesellschaft von Bern. Sie wurde im Jahr 1759 in Reaktion auf eine Missernte und die allgemein missliche Versorgungslage aufgrund des Siebenjährigen Kriegs im umliegenden Europa von Johann Rudolf Tschiffeli gegründet. Es war auch die Oekonomische Gesellschaft, die über ihre zahlreichen personellen Querverbindungen mit den Berner Räten die Volkszählung angeregt hatte und dadurch zu deren Durchführung beitrug.1 Das tat sie auf drei Wegen: erstens mit der Ausschreibung ihrer Preisfragen und den Veröffentlichungen der Preisschriften, die das Thema publik machten. Zweitens trugen Mitglieder der Gesellschaft in ihrer Funktion als Ratsherren die Diskussion mittels Vorstößen in den Großen Rat. Und drittens saßen Exponenten der Sozietät in der Almosen-Revisions-Kommission, also in genau jenem Gremium, das die Volkszählung umsetzte.2
Die Sozietät bildete in den folgenden Jahren das eidgenössische Zentrum des zeitgenössischen bevölkerungspolitischen Interesses: Sie wusste herausragende Denker ihrer Zeit in den eigenen Reihen – z. B. Albrecht von Haller, Niklaus Emmanuel Tscharner und Samuel Engel – und zählte namhafte Männer wie Hans Caspar Hirzel, Isaak Iselin, Carl von Linné, Honoré Gabriel de Riqueti, Comte de Mirabeau und Voltaire zu ihrem korrespondierenden Netzwerk.3 Damit wirkte sie über die Eidgenossenschaft hinaus. Das umfassende Reformprogramm der Sozietät sollte „‚die Lebenssäfte des Landes‘ in Gang setzen und ’dem schmachtenden Körper Nahrung, Gesundheit, Stärke und Wohlstand’ bringen“.4 Anfänglich standen die agrarwirtschaftlichen Reformbestrebungen ganz deutlich im Mittelpunkt der öffentlich ausgeschriebenen Preisfragen und damit im Zentrum des Reforminteresses. So ergänzten sie das merkantilistisch gefärbte Vorgehen des bernischen Kommerzienrats, der mittels Förderung der lokalen Heimindustrien versuchte, eine aktive Handelsbilanz zu erwirken.5 Seit den 1760er Jahren kamen vermehrt auch Zuschriften hinzu, die sich dezidiert bevölkerungspolitischen Fragen stellten, und als sich kameralistische und physiokratische Überlegungen zur Wirtschaft in spezifischer Weise zu überlagern begannen.6 Außerdem wurde in diesen Zuschriften auch die Forderung nach einem neuen, auf Gegenseitigkeit beruhenden Beziehungsverhältnis zwischen Regierung und Regierten, beziehungsweise zwischen dem sich ausbildenden modernen Staat und der Bevölkerung, laut.7
Praktisch zeitgleich mit der erwähnten Bevölkerungszählung schrieb die Gesellschaft 1764 eine Preisfrage aus. Diese forderte als Antwort einen umfassenden Bericht zum Zustand der Bevölkerung des gesamten Territoriums von Bern oder eines einzelnen Bezirks. In der Vorrede zu den publizierten Abhandlungen und Beobachtungen kam Vinzenz Bernhard Tscharner, der Präsident der Gesellschaft, auf die Entvölkerung zu sprechen. Sie war seinen Aussagen zufolge im ganzen Land beträchtlich, aber an einigen Orten stärker ausgeprägt als an anderen. Bisher wäre der Bevölkerungsrückgang aber zu wenig analysiert und berechnet worden und die Bemühungen zu dessen Verhinderung zu spärlich ausgefallen. Der Staatsräson verpflichtet, gab er in populationistischem Geist zu Protokoll:
„Ohne von diesem ersten grundgeseze aller bürgerlichen gesellschaften zu reden, daß nemlich ihre verfassung abzielen soll, so eine grosse anzahl von menschen, als immer nach den phisischen umständen des landes möglich ist, glüklich zu machen; wenn man das volk auch blosserdingen als das erste werkzeug der macht und stärke eines Staates betrachten will; so darf die erhaltung und vermehrung der einwohner nicht ohne schwächung desselben verabsäumet werden. Wir wünschten, daß das nachdenken über diese materie zu der entdekung sichrer und geschikter mittel, oder starker und dennoch der freyheit unnachtheiliger beweggründe führen möchte, diesem ausreissen so vieler unterthanen der Republik zu steuren, die der betrugliche reiz der fremden kriegsdienste, ein leichtgläubiger ehrgeiz, oder die blinde hofnung sich zu bereichern, täglich dem vaterlande entziehn.“8
Die von Tscharner hergestellten Beziehungen zwischen Bevölkerungsvermehrung, Wirtschaft und Glück sind nicht zu überlesen. Dabei kam der Vermehrung der Bevölkerung eine Vorrangstellung als ‚erstes Werkzeug der Macht und Stärke‘ des Staates zu. Um diese Ressource hatte sich der Staat zu kümmern. Damit wurde ihre – statistisch erfasste – Größe zum Maßstab für die Qualität der Regierungstätigkeit. Die Regierung musste Sorge um ihre Bevölkerung tragen. Dadurch trat sie in ein neues Beziehungsverhältnis