Prekäre Eheschließungen. Arno Haldemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arno Haldemann
Издательство: Bookwire
Серия: Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783739805719
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propagierte Carrard außerdem die allgemeine Stigmatisierung des ehelosen Standes und die Heiraten von Witwen.35 Dazu forderte er unter anderem explizit die Senkung des gesetzlichen Ehemündigkeitsalters, um „die kinder nicht allzulange der väterlichen gewalt zu unterwerfen, und dieselben vor dem unwillen der väter in sicherheit zu sezen“.36 Die Obrigkeit sollte also das patriarchale Zugrecht eindämmen, um die Ehen ihrer Bevölkerung in jüngerem Alter zu fördern. Denn Eltern würden zusehends aus „hochmuth, eigennuz, oder nur aus eigensinn“ ihre Kinder in deren fruchtbarsten Jahren am Heiraten hindern und „durch übelangewendte widersprüche für immer das heyrathen ekelhaft machen“.37 Daneben sprach er sich für die Bekämpfung von Witwenheiraten aus, weil er sie aufgrund der zum Teil großen Altersdifferenz der Ehepartner oder des hohen Alters beider involvierter Eheleute für unnatürlich und ungesund hielt.38 Deswegen „sollten die geseze mit der natur übereinstimmen, und einen ekel ab dergleichen Ehen einflössen.“39

      Carrard war mit seinem detailreichen Vorschlag zur Förderung der Ehe zwecks Bevölkerungsvermehrung zwar sehr konkret und pointiert und hat hier deswegen detaillierte Erwähnung erfahren. Er war aber keineswegs allein. Mit ihm konkurrierte Jean Bertrand, der die Preisfrage gewann. Dieser war ebenfalls ein Waadtländer Theologe und der Bruder des ungleich bekannteren zeitweiligen Sekretärs der Oekonomischen Gesellschaft Elie Bertrand.40 Und auch er war der Meinung, dass „Heyrathen ohne widerspruch die versichertsten und tüchtigsten mittel sind, dem Staate kinder zu verschaffen und zu seinem nutzen zu erziehn“.41 Neben den zwei Theologen, die mit ihren Schriften um den ersten Platz konkurrierten, meldete sich auch noch Abraham Pagan, Sekretär der Zweigstelle Nidau der Oekonomischen Gesellschaft,42 auf dieselbe Preisausschreibung mit einem Beitrag, der allerdings keine Auszeichnung erhielt.43 Er teilte mit den beiden Vorgängern die populationistische Sicht und sprach sich deshalb ebenfalls für die Vermehrung der Eheschließungen aus. Allen erwähnten Autoren waren, neben geringfügigen Nuancen, zentrale Gemeinsamkeiten in ihrer Auffassung zur Bevölkerungspolitik zu eigen: Der größte Reichtum eines Staates war in ihren Augen dessen Bevölkerung. Je größer die Bevölkerung, desto mächtiger der Staat, desto prosperierender die Wirtschaft, desto größer und verbreiteter letztlich das Glück und der Wohlstand. Durch diese Spielart des Utilitarismus wurde aus Untertanen eine Bevölkerung, die ihrerseits zum zentralen Objekt der Regierung avancierte.44 Eine schwindende Bevölkerung wurde zum maßgebenden Indikator verfehlter Herrschaftstätigkeit. Eines der ‚nützlichsten‘, also in utilitaristischem Sinn effektivsten populationistischen Mittel, um die Fruchtbarkeit und Fortpflanzung zu steigern, war eindeutig die Förderung der Eheschließungen. Dadurch wurde die Institution der Ehe unmittelbar mit dem Fortschritt in Verbindung gebracht. Die Ehe, interpretiert als Ausgangspunkt der Familie, wurde zu jenem „Element innerhalb der Bevölkerung“, das Foucault in seinen Analysen zur Gouvernementalität „als grundlegendes Relais zu deren Regierung“ bezeichnet hat. Die Ehe wird in seinen Worten ein „privilegiertes Segment, weil man, wenn man, sobald man bei der Bevölkerung hinsichtlich des Sexualverhaltens, hinsichtlich der Demographie, der Kinderzahl, hinsichtlich der Konsumtion etwas erreichen will, sich an die Familie wenden muss“.45 Die Ehe war natürlich, nützlich und gesund und entsprach in der Logik der natürlichen Theologie zugleich der moralischen göttlichen Ordnung. Diese und die Natur befanden sich folglich in vollkommenem Einklang. Indes avancierte die Eheschließung damit in der Auffassung dieser Populationisten zu einem Naturrecht, das es unter den Auspizien des Fortschritts zu fördern galt. Nach physiokratischem Vorbild sollte die Natur zum Ausgangspunkt sämtlicher Beziehungen werden und deren Steuerung determinieren. Die Regenten hatten das Wesen dieser Natur zu erkennen, um demselben zum Durchbruch zu verhelfen. Der Fortschritt folgte der Natur. Insofern ging „der Ausübung der Gouvernementalität“ in dieser Auffassung „eine bestimmte Natürlichkeit, die der Regierungspraxis selbst eigentümlich [war]“, voraus.46

      Eheschließungen konnten durch eine paternalistische Regierung mit verschiedenen wirtschaftlichen und gesetzlichen Mitteln gefördert werden. Am stärksten betont wurde in den Forderungen die Herabsetzung gesetzlicher und finanzieller Zugangskriterien zur Ehe. Gleichzeitig sollten Eheschließungen mittels Vorsorgefonds, Steuern und Verdienstmöglichkeiten für Mittellose subventioniert und mit dem exklusiven Zugang zu Ämtern für die Aristokratie privilegiert werden. Aber auch die Förderung bestimmter Gewerbe und die Bekämpfung des Luxus sollten die Eheschließungen vermehren. Mit diesen Maßnahmen war implizit die Forderung nach der Demokratisierung der Ehe verbunden. Die bevölkerungspolitischen Zuschriften und ihre Autoren standen somit in einem fundamentalen Widerspruch zur ständischen Eheordnung und deren patriarchalen Gesetzen. Die hier vorgestellte propagierte fortschrittsoptimistische und reformorientierte Bevölkerungspolitik verband sich außerdem mit einer spezifischen Kritik am Luxus und der ständischen Ordnung: Das standesgemäße Leben und die damit verbundene ‚Üppigkeit‘ verschlangen demzufolge finanzielle Mittel und humane Ressourcen in Form von Dienstpersonal, die man besser für Eheschließungen einsetzen konnte.

      In dieser biopolitischen Logik traten Regierung und Regierte in ein spezifisches Beziehungsverhältnis. Dieses war diskursiv tendenziell von ‚Zärtlichkeit‘, ‚Zuneigung‘ und ‚Liebe‘ geprägt und fand mehr Entsprechung in der elterlichen Liebe zu den Kindern als in der strengen patriarchalen Disziplinierung. Die Sorge um die Bevölkerung zeichnete sich als oberste politische Maxime dieser Populationisten ab. Wie der liebevolle Vater seinen Kindern, sollte sich „das Vaterland“ seiner Bevölkerung zuwenden.47 Wie „eine zärtliche mutter […], die für alle die eine zärtliche sorgfalt trägt, denen sie das leben gegeben hat“, musste sich die Regierung um ihre Bürger kümmern.48 Damit benannte Carrard exakt jene Liebesanalogie, auf die Sandro Guzzi-Heeb hinweist, wenn er anführt, dass die Aufklärung die Liebe zum generellen Beziehungscode erklärt hatte. In der Überlagerung von elterlicher Liebe, Patriotismus und paternalistischer Zuneigung des Souveräns für seine Bevölkerung kam hier eine neue umfassende gouvernementale Logik zum Ausdruck: „Les politiques de reproduction, les interventions poupulationnistes sont conceptualisées en terme d’actes pour le bien-être du peuple.“49

      1.3 Die politische Sprengkraft des Populationismus bei Jean-Louis Muret

      Im gleichen politischen Klima wie Carrard, Bertrand und Pagan trat ein Jahr später der waadtländische Geistliche Jean-Louis Muret mit einer Zuschrift an die Oekonomische Gesellschaft von Bern auf. Auch seine Abhandlung beschäftigte sich mit dem Zustand der Bevölkerung, allerdings explizit mit derjenigen in der Waadt. Seine Feststellungen und die daraus abgeleiteten Forderungen zur Bevölkerungsvermehrung unterschieden sich höchstens geringfügig vom bisher Präsentierten. In Bezug auf die Eheschließung forderte auch er ihre Begünstigung aus den bereits bekannten ökonomischen, gesundheitlichen und moralischen Gründen.1 Die populationistische Logik dahinter glich der seiner Vorgänger.

      Verbal in seiner Kritik nicht expliziter als Carrard, machte auch er die Berner Obrigkeit für den Bevölkerungsrückgang verantwortlich. Die gegenwärtige Entvölkerung erfolgte laut Muret „aus moralischen gründen“.2 Die sittlichen Zustände in Bern spiegelten in seiner Sicht die verfehlte Bevölkerungspolitik der Obrigkeit. Was seine Studie allerdings von den Darstellungen der zuvor präsentierten Populationisten grundlegend unterschied, waren die statistische Datengrundlage und die mathematische Methode, die er anwandte und die nachhaltigen Eindruck hinterließen.3 Sein Vorhaben in Bezug auf die Eheschließung exemplifizierend, formulierte er:

      „Was […] den ehestand belanget, wenn solcher gegen den ledigen stande verglichen wird, so begreiffet man leicht, daß der vorzug auf der seite des standes sey, der den absichten des Schöpfers entspricht. Da Mann und Weib zum Ehestande beruffen sind, so ist es voraus zu vermuthen, daß ihnen die erfüllung dieses beruffes nicht schädlich seyn, sondern vielmehr zu ihrer gesundheit und erhaltung des lebens beytragen soll; allein das ist eine würkliche wahrheit, die sich besser durch berechnung, als durch theologische gründe erweisen läßt.“4

      Schon seit 1761 arbeitete der Pfarrer Muret als Sekretär des Ablegers der Oekonomischen Gesellschaft in Vevey – dessen Gründer er auch war – an seiner Studie zur Waadtländer Bevölkerungsentwicklung. Dazu erhob er eine Reihe von Daten, die zum Teil bis ins 16. Jahrhundert zurückreichten. Er berief sich in seiner Analyse daneben auf die von der Regierung erhobenen Zahlen der Volkszählung von 1764 sowie auf Taufziffern aus 46 Kirchgemeinden.