Auch die Aussagen von Oberchorrichtern wecken Zweifel daran, dass es der Berner Obrigkeit im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert nach wie vor primär um die moralische Reinheit der Gesellschaft und die Beschränkung der Population ging, weil sie den „Verlust der ethisch-religiösen Zentrierung“ ihrer Untertanen nicht wahrhaben wollten.2 Berns weltliche und geistliche Eherichter beklagten immer wieder die Renitenz ihrer Untertanen. Sie zeigten damit in expliziter Weise an, dass es ihnen nicht an Problembewusstsein mangelte. Die Oberchorrichter schrieben in einem Gutachten zur Chorgerichtssatzungsrevision 1759 an Schultheiß und Räte, dass
„der Landmann durch und durch weder treu noch Glauben mehr kennet und […] aller Orten, wo er nur zugelassen wird, mit mundlichen Betheürungen und Versprechungen die Töchteren ehrlicher Elteren zu verführen und die Unschuld zu stürzen […]“
versuche.3 Bestätigt wird diese Vermutung auch von Brigitte Schneggs Studie, die indirekt aufgezeigt hat, dass die ‚Moralisten‘ des 18. und 19. Jahrhunderts den Anstieg illegitimer Geburten durchaus in der Art wahrnahmen, wie es die nachträglich errechneten Raten aufzeigen.4 Die Diskrepanz zwischen dem normativen Anspruch der Gesetze auf eine gereinigte und verchristlichte Gesellschaft und der Ehe- und Sexualpraxis der Menschen war den Zeitgenossen bewusst.5 Zwar wurde die Ursache allzu oft in der „Unsittlichkeit des männlichen, und [der] des weiblichen Geschlechts aus der untersten Classe“ gesehen, die im 18. Jahrhundert angeblich „ihre höchste Höhe erreichet hatte“.6 Es existierten aber auch sehr gesetzes- und obrigkeitskritische Stimmen. So gab 1794 zum Beispiel ein Dekan in der obrigkeitlichen Kommission, die sich explizit mit dem Religionsverfall beschäftigte, zu Protokoll, dass „aus einer solchen Verfassung des Landes […] wenig Sittlichkeit zu hoffen“ wäre:7
„[W]enn die Laster allgemein werden, sich in alle Stände einschleichen, so sind gewiss die Strafgeseze, keine Geseze mehr in ihrer Ausübung, und dann wird die Straflosigkeit, die bloß zum Schein verhängte leichte Bestrafung, die Quelle der Frechheit des Lasters, das immer weiter um sich greifft, und neue, und mehrere Anlässe zu seiner Sättigung sucht, und anstellt.“8
Die zitierten Quellen illustrieren, dass die „Verachtung aller Keuschheitsgesetze“ von den zeitgenössischen Eliten durchaus selbstkritisch problematisiert wurde, „[s]o dass in den letzten Tagen unserer alten Existenz, Bern in dieser Rücksicht nach Verhältniß ihrer Größe die verdorbenste Stadt im deutschen Europa gewesen seyn mag“.9 So jedenfalls brachte es 1798 der Münsterpfarrer David Müslin moralisierend zum Ausdruck.10 Er ließ bezüglich der Ehe- und Sexualmoral kein gutes Haar an der alten Ordnung.
Wenn man diese Feststellungen einem zu allen Zeiten existierenden reformatorisch-disziplinarischen Moralismus der Eliten zuschreiben würde, der blind für die gesellschaftlichen Verhältnisse war, dann würde man das Problembewusstsein der Zeitgenossen unterschätzen. So wie es Historiker*innen im Nachhinein bemerkten, so erkannten auch die mit der Ehegesetzgebung und deren Exekution betrauten Amtsleute unmittelbar, dass die repressiven Ehegesetze eine wachsende Zahl von Menschen in die illegitime Sexualität trieben. Folglich stellt sich die entscheidende Frage, wozu dieser spezifische Moralismus und die repressiven Ehegesetze im 18. und 19. Jahrhundert dienten. Welche Effekte erzeugte die klaffende Differenz zwischen dem strengen Ehegesetz und dem zunehmend promiskuitiven Sexual- und Eheverhalten der Menschen unterhalb der Oberfläche?11 Dabei macht es wenig Sinn, aus dem Wortlaut der historisch gewachsenen Gesetze die Intentionen der Gesetzgeber und das Verhalten der Untertanen abzuleiten.12 Norm und Praxis stehen in einem komplexeren Zusammenhang.13 Gerd Schwerhoff hat in Anlehnung an Karl Härter diesbezüglich bemerkt, dass die verkürzte Annahme ineffektiver frühneuzeitlicher Gesetze von der sozialdisziplinarischen Vorstellung linearer Gesetzeswirkung ausgeht. Damit werden strukturelle Merkmale, die konstitutiv für die frühneuzeitliche Rechtsprechung sind, nicht wahrgenommen und Funktionen des Gesetzes ausgeblendet.14 Folglich war die restriktive Bewilligung von Eheschließungen kein ineffizientes Instrument zur Regulierung der Moral und des Reproduktionsverhaltens ihrer Untertanen, sondern ein Werkzeug, das tatsächlich dazu gereichte, die ständisch determinierte, materielle und rechtliche Distinktion einer sich zunehmend verengenden Aristokratie zu akzentuieren. Dadurch wurden immer größer werdende Teile der Bevölkerung vom eigenen Wohlstand und von der politischen Partizipation rechtlich wie faktisch ausgeschlossen.15 Auf diese Bestrebungen weisen auch andere politische Entwicklungen hin, wie etwa das Adelsdekret von 1783. Dieses erhob die regimentsfähigen Geschlechter durch die Selbstnobilitierung in den Adelsrang und setzte damit in einem ständischen System gleichzeitig alle anderen Burger und Untertanen zusätzlich herab.16 Die Ehepolitik entwickelte sich in Bern also in zunehmendem Maße zu einer Distinktions- und Ausgrenzungspolitik, die ständische Interessen angesichts wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen zu bewahren versuchte. Diese Politik fand ihre Unterfütterung in den im 18. Jahrhundert immer bekannteren und elaborierteren empfängnisverhütenden Sexualpraktiken und den zunehmenden Schwangerschaftsabbrüchen. Sie waren vor allem in der Aristokratie bekannt und verbreitet. Durch sie konnte bei fortwährendem Geschlechtsverkehr Nachwuchs vermieden und daher weiterhin ein standesgemäßes Leben geführt werden. Denn dieses erforderte zur Abgrenzung gegen ‚unten‘ die entsprechenden materiellen Mittel und finanziellen Ausgaben. Kinder musste man sich nämlich leisten können.17
Den herrschenden Berner Geschlechtern war durchaus bewusst, dass das menschliche Fortpflanzungsverhalten – ob aus „Wahl oder Noth“18 – aufgrund ihrer rigiden Ehepolitik eigene Dynamiken entfesselte. Diese korrelierten zwar mit der repressiven Gesetzgebung und Gerichtspraxis, allerdings gerade nicht in der Weise, wie sie einzelne Sozialhistoriker*innen konstatiert haben. Berns Regenten, Richter und Pfarrer waren keineswegs uneinsichtig. Folglich stellt sich die Frage, was die Regenten und Ehegerichte unter der Oberfläche des Moralismus intendierten und steuerten, und was sie kollateral beeinflussten.19 Dabei drängt sich die These auf, dass die patriarchalische Regierung durchaus erfolgreich kontrollierte, was sie kontrollieren wollte: Es war der Zugang zu Privilegien, Rechten, Chancen und Besitz, den sie mit zunehmender Strenge normierte und mit wachsender Aufmerksamkeit bewachte und beschränkte.20 So ist beispielsweise eine Instruktion aus dem Jahr 1756 zu bewerten. Darin untersagten Räte und Burger dem Oberchorgericht, Kopulationsscheine an Burger auszustellen, die unbemittelte auswärtige Frauen zu heiraten wünschten, wenn diese nicht zuvor das festgesetzte Einzugsgeld bei der Burgerkammer bezahlt hatten. Begründet wurde dies damit, der „unbesonnenen Heirath an unbemittelte Weibsperson, und darauf erfolgender Verarmung, sonderlich im Handwerks-Stande“ zuvorzukommen; gleichzeitig schloss man damit konkurrierende Burger von der Heirat und somit von Ämtern aus.21 In dieser Logik war die wachsende Armut der Unterschichten die Kontrastfolie, respektive der Kollateralschaden, des eigenen Reichtums und folglich ein notwendiges Übel für die eigene Selbstinszenierung und -wahrnehmung in einer ständisch organisierten Welt.22
1 Normen und Debatten: Ehegesetze und bevölkerungspolitische Diskussionen
Nachdem die reformatorische Vorgeschichte erörtert wurde, werden an dieser Stelle der Arbeit die Handlungsräume ausgelotet, die das ehepolitische Dispositiv den um prekäre Eheschließungen versammelten AkteurInnen im 18. Jahrhundert ließ.1 Dabei liegt der Schwerpunkt auf der zweiten Hälfte des Centenniums. Um dieses Dispositiv rund um die Eheschließung für Bern zu rekonstruieren, beleuchtet die vorliegende Untersuchung zum einen den relevanten ehegesetzlichen Rahmen für das Handeln der ehewilligen AkteurInnen. Das geschieht anhand von Ehegerichtsordnungen und deren Revisionen. Dabei folgt die Studie Foucaults Unterscheidung von Gesetz und Norm, nach der die Funktion des Gesetzes in der Kodifizierung und somit der schriftlichen Kondensation der Norm liegt.2 Erst die Fixierung der Norm lässt das abweichende Verhalten historischer AkteurInnen am Rande der Gesetze hervortreten.3 In den folgenden Ausführungen werden die kodifizierten Normen der Berner Herrschaft zur ehelichen Konstitution des Zusammenlebens von Mann und Frau – die familiäre Koexistenz war ausschließlich heterosexuell gedacht – zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten des 18. Jahrhunderts (1743 und 1787) miteinander verglichen. Sie werden jeweils als Ausdruck unterschiedlicher