Prekäre Eheschließungen. Arno Haldemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arno Haldemann
Издательство: Bookwire
Серия: Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783739805719
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Maßnahme schlug der Pfarrhelfer von Oberdiessbach die Aufweichung der örtlichen Endogamie vor. Erhöhte eheliche Mobilität würde dazu führen, dass weiterhin standesgerecht geheiratet werden könnte. Denn aufgrund der streng eingehaltenen lokalen Endogamie war es für reiche Bauern schwierig, dem „sohne ein weib von seinem stande zu finden, weil ihm keine töchtern, als die von seiner gegend bekannt sind, und auf dem lande heyrathen sich die reichen eben so ungerne an ärmere, als in den städten.“11

      Stapfers tendenziell konservative Stimme war aber trotz der Auszeichnung mit einem Preis durch die Gesellschaft in den 1760er Jahren in Bern nicht die dominante in bevölkerungspolitischen Fragen. Nachdem in dieser Zeit der bevölkerungspolitische Diskurs von der Angst beherrscht wurde, die Landbevölkerung sei in drastischer Abnahme begriffen, kamen in der Oekonomischen Gesellschaft Berns allerdings bereits gegen Ende der 1770er Jahre breiter abgestützte Zweifel an dieser Annahme auf. Die anhand sozialhistorischer Analysen konstatierte Lücke in Berns Bevölkerung, die ein nachholendes Bevölkerungswachstum nach sich zog, wurde zwischen ca. 1750 und 1770 allmählich geschlossen. Das zeitlich verschobene Wachstum führte dazu, dass um 1770 die Bevölkerung auch in Bern merklich zu wachsen begann. Denn jetzt war das Bevölkerungsdefizit, das die Rote Ruhr 1750 verursacht hatte, ausgeglichen und die Bevölkerung wuchs über den Umfang vor 1750 hinaus. Dadurch offenbarte sich im Kanton Bern dasselbe demographische Phänomen wie in der restlichen Eidgenossenschaft: Die Differenz zwischen Geburten- und Sterberate entwickelte sich zu Gunsten eines anhaltenden Wachstums.12

      Das für Bern neuartige Bevölkerungswachstum, das das Trauma der Roten Ruhr, die Furcht vor drohender wirtschaftlicher Stagnation und die Angst vor schwindender militärischer Stärke in der öffentlichen Diskussion in den Hintergrund treten ließ, nahmen die Zeitgenossen etwas verzögert wahr. 1778 überlegte die Oekonomische Gesellschaft in einer ihrer Sitzungen, eine Preisfrage auszuschreiben, deren Inhalt nahelegt, dass das Wachstumsphänomen im Kreis der Sozietät durchaus registriert wurde. Man war sich in den Reihen der Gesellschaft nicht mehr sicher, ob die gegenwärtige Wirtschafts- und Bevölkerungspolitik der Regierung immer noch den aktuellen Bevölkerungszuständen im Territorium entsprach. Damit stand die Frage zur Debatte, ob eine große Bevölkerung wirklich automatisch zu einer prosperierenden Wirtschaft, militärischer Stärke und in der Folge zur maximalen Glückseligkeit im Sinne des Wohlstands eines Volks führte – oder aber eine Bedrohung für die Versorgungslage Berns darstellte. Gefährdete nicht gerade der drohende Versorgungsnotstand, den eine über die agrarischen Ressourcen hinauswachsende Bevölkerung erwarten ließ, die Zufriedenheit der Untertanen und damit die Stabilität der politischen Ordnung und Ruhe? Zwar vertagte die Gesellschaft eine Entscheidung über die Beantwortung dieser Frage.13 Die Debatte in der Sozietät offenbart jedoch, dass die zuvor von Entvölkerungsängsten genährte Stimmung aufgrund der Erfahrungen, die seit den 1770er Jahren mit dem aufholenden Wachstum in Bern gemacht wurden,14 langsam umschlug: Aus versorgungspolitischen Erwägungen begann man, sich zunehmend vor der Überbevölkerung zu fürchten. Inwiefern auch die Hungersnot von 1770/71 eine Rolle für diese Wende im bevölkerungspolitischen Diskurs spielte, darüber lässt sich hier im Zusammenhang mit Bern nur mutmaßen. In Bezug auf die gesamte Schweiz hat Rudolf Braun erwähnt, dass die Versorgungskrise zwischenzeitlich zu einer steigenden Zahl besitzarmer und -loser Menschen geführt hatte und sich deswegen die kritischen Stimmen zumindest mittelfristig mehrten.15 Fest steht, dass Karl Ludwig von Haller in seinem Gutachten zu den Wettschriften „Nahrungssorgen“ thematisierte und als Resultat einer zu stark anwachsenden Unterschicht interpretierte.16 Dieser in Bern in den 1770er Jahren vorerst angedeutete Wandel in der öffentlichen Bevölkerungsdebatte stellte keinesfalls ein lokales oder lediglich eidgenössisches Phänomen dar. Die geschichtswissenschaftliche Literatur zeigt, dass in den bevölkerungspolitischen Ansichten am Ausgang des 18. Jahrhunderts allgemein ein regelrechter „Paradigmenwechsel“ in Gang war.17 Dieser begann sich in Bern allerdings bereits zehn bis fünfzehn Jahre früher abzuzeichnen, als dies generell die Literatur veranschlagt.18

      1.5 Die letzte total revidierte Ehegesetzordnung unter dem Ancien Régime (1787)

      Die Bevölkerungstheoretiker in Bern nahmen während den 1760er Jahren kontroverse Positionen zur restriktiven Ehegesetzgebung ein. Dagegen stellte die oben erwähnte Auseinandersetzung der Oekonomischen Gesellschaft mit dem Bevölkerungswachstum seit den späten 1770er Jahren eine tendenzielle Annäherung zwischen Bevölkerungstheorie und Eherecht dar. Die Angst vor der Entvölkerung wich im halböffentlichen Kreis der Theoretiker allmählich Befürchtungen vor einer zu stark und zu schnell anwachsenden Bevölkerung. Ihre Versorgung, so die Angst, würde die natürlichen Ressourcen Berns in zunehmendem Maß (über)strapazieren. Physiokratische Überzeugungen gewannen im Lager der Oekonomischen Gesellschaft auf Kosten kameralistischer Ansichten an Boden. Gleichzeitig blieb die ehegesetzliche Lage unverändert und restriktiv. Sie verschärfte sich sogar mit dem letzten umfassenden Revisionsprozess unter dem Ancien Régime und der daraus resultierenden letzten Bernischen Ehegerichtsordnung von 1787. Denn diese Ordnung prononcierte die Exklusivität und damit den ständischen Charakter des ehelichen Status.1 Die Magistraten verfolgten mit dem letzten vollständigen Revisionsprozess – danach wurde die Satzung bis zur Einführung des Zivilgesetzbuchs (1824/26) nur noch partiell abgeändert oder in Teilaspekten aufgehoben – nicht nur die Intention, die Ehegesetze den zeitgenössischen Gesellschaftsverhältnissen anzupassen, sondern sie auch im Sinne ihrer Effektivität „zu verbessern“.2 Was für Schultheiß, Kleinen und Großen Rat dabei ‚verbessern‘ bedeutete, ging unmissverständlich aus der Präambel der Ordnung hervor: Es galt primär „die so schädlichen folgen des lasters der unreinigkeit, die menge der bastarden, und die den gemeinden obliegend (!) lästende erhaltung derselben“ einzudämmen.3 Uneheliche Nachkommen wurden im Geist dieser Ordnung primär als materielle Belastung der kommunalen Ressourcen identifiziert. Im Zentrum der Ordnungsanstrengungen stand aber nicht mehr die Herstellung der gesellschaftlichen Reinheit per se, sondern die effiziente Abwehr der Folgen der moralischen Unreinheit: kostspielige und ressourcenzehrende mittellose Kinder armer Eltern.4 Um den sittlichen Wandel sämtlicher Gesellschaftsglieder zu steigern, sollten entsprechend der tatsächlich sehr reformiert formulierten Vorrede, erstens, „die ehen befördert“ und, zweitens, aber die Eltern dennoch zu „sorgfältigerer aufsicht über ihre kinder“ angehalten werden.5

      Die Präambel der fast ein halbes Jahrhundert zuvor revidierten Ehegesetzordnung von 1743 hatte über das Problem der überproportionalen Vermehrung mittelloser Schichten noch geschwiegen. Dagegen wurde der rasante Anstieg mittelloser Bevölkerungsgruppen in der Fassung von 1787 unumwunden thematisiert und in den Mittelpunkt der Revisionsabsichten gestellt. Um das Problem in den Griff zu bekommen, war man seitens des Berner Patriziats bereit, die Autorität der lokalen Chorgerichte und des Oberchorgerichts durch „mehrere Gewalt“ zu stärken.6 Um verheimlichte Schwangerschaften, Abtreibungen und Kindsmorde zu bekämpfen, war man außerdem gewillt, die Strafen für illegitime Schwangerschaften zu mildern. Was es für die Gesetzgeber allerdings hieß, die Eheschließungen zu fördern, erschließt sich nicht auf Anhieb und erscheint danach diffus und paradox. Zwar wurde das Alter der Ehemündigkeit tatsächlich zögerlich um ein Jahr gesenkt – was als ehefördernde Maßnahme interpretiert werden kann. Dadurch endete das Zugrecht des Vaters „oder deren, die an vaters statt sind, als der mutter, großvater, großmutter, vögten oder nächsten verwandten“, mit dem Antritt des 24. Lebensjahrs.7 Doch die Einschränkungen gegen AlmosenempfängerInnen, die 1743 Eingang in die Ordnung fanden, wurden unverändert belassen: In der Stadt genossen die Gesellschaften das Vetorecht gegen Ehen ihrer Unterstützungsbedürftigen, auf dem Land waren es die Honoratioren, die nun nach Erreichen des 24. Lebensjahrs im Namen der Gemeinden gegen Armenehen opponieren durften. Wer Almosen empfing, konnte an der Ehe gehindert werden, bis die Steuern zurückbezahlt waren. Wer während seiner Erziehung Almosen in Anspruch genommen hatte, durfte mindestens bis zum 24. Lebensjahr an der Eheschließung gehindert werden, auch wenn von Gesellschaft oder Gemeinde aktuell keine Unterstützungsleistungen mehr bezogen wurden. Somit ist anzunehmen, dass einerseits das bevölkerungspolitische Interesse der Herrschaft an der Eheschließung wuchs, weil man die Zahl der unehelich Geborenen zu verringern wünschte. Doch andererseits bestand dieses Interesse keinesfalls darin, prekäre Eheschließungen generell zuzulassen. Vielmehr galt es, diese laut der Zentralaussage der Präambel unbedingt zu verhindern. Oberstes Gebot war es, der rasch anwachsenden