Prekäre Eheschließungen. Arno Haldemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arno Haldemann
Издательство: Bookwire
Серия: Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783739805719
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wie vor. Hingegen fanden im Ehehindernis für besteuerte Armengenössige bevölkerungspolitische Neuerungen Niederschlag, die der Idee aufgeklärter Staatsräson folgten und das biblische Recht auf Ehe für AlmosenempfängerInnen drastisch einschränkten.16 Die Ausdehnung des patriarchalen Zugrechts auf Gemeinden und Korporationen hatte ganz offensichtlich nicht mehr viel mit reformiert-religiösen Vorstellungen vom Menschen zu tun, der sich nicht für die vollständige sexuelle Abstinenz, das Zölibat, eignete. Durch den Ausschluss armer Bevölkerungsgruppen von der Ehe hatte man seitens der Räte und Burger im Geist reformierter Anthropologie sehr sündenbewusst uneheliche Kinder, illegitime sexuelle Beziehungen und Lebensformen in Kauf genommen. Nun wuchs aber die Angst vor dem Verlust ständischer Privilegien, insbesondere in Anbetracht der Vermehrung subalterner Schichten, dermaßen an, dass man sie kurzerhand von der reinen Gesellschaft prinzipiell ausschloss.17 Dadurch wurden diese Schichten eherechtlich prekarisiert und in der Konsequenz sexuell diskriminiert: Diese zahlenmäßig große Gesellschaftsgruppe wurde somit rechtlich verunsichert, materiell noch verletzlicher gemacht und sexuell tendenziell inkriminiert.18 Die Beobachtungen von Eibach in Bezug auf den markanten Anstieg von Sexual- und Eigentumsdelikten im 18. Jahrhundert erhärten diese These.19

      Die gesetzliche Normierung entwarf die reine Ordnung in der Folge in zunehmendem Ausmaß als eine immer exklusivere Gesellschaft. Außerdem war mit der Säkularisierung im Zuge der Aufklärung die Furcht vor göttlicher Kollektivstrafe gesunken, was die Bedeutung der gesamtgesellschaftlichen Reinheit aus theo-logischer Perspektive reduziert erscheinen ließ. Gleichzeitig nahm die ökonomistische Furcht vor materieller Armut und dem Zerfall des diesseitigen Wohlstands zu. Im 18. Jahrhundert wurden transzendentale Heilsvorstellungen von einer ökonomistischen Sichtweise abgelöst, die moralisch-sozialpolitisch auf diesseitige Güter fokussierte.20 Der religiöse Wert der moralischen Reinheit war einer utilitaristischen Konnotation der Reinheit gewichen, die Armut und Unreinheit miteinander verschränkte. In dieser Verquickung wurde die Reinheit mit Hygiene in Zusammenhang gebracht, wenn es hieß, dass die außereheliche Sexualität, „die verderblichsten Krankheiten nach sich zieh[e]“.21 Sexuelle und damit moralische Unversehrtheit wurden in Bern Mitte des 18. Jahrhunderts quasi als schriftlich fixiertes Privileg der besitzenden Klasse im gedruckten Ehegesetz manifestiert. Dadurch wurde sie unverhohlen als ein ökonomisches Vorrecht kodifiziert. Der von Daniel Schläppi bezüglich des Armenwesens von Bern konstatierte „Sog der Ökonomisierung“ im Verlauf des 18. Jahrhunderts offenbarte sich ebenso in der Ehegesetzgebung der Berner Obrigkeit: Er zeigte sich auch hier „in effizienterem und sparsamerem Umgang mit den vorhandenen Ressourcen“ und „beeinträchtigte [ebenfalls] das integrative Potential“ des Ehegesetzes.22

      1.2 Entvölkerungsdebatte, Volkszählung und Populationismus: Berner Biopolitik

      In Widerspruch zum zunehmenden gesetzlichen Ausschluss der besitzlosen Bevölkerungsschichten von der Ehe im Zuge einer allgemeinen Ökonomisierung des 18. Jahrhunderts stieg in derselben Zeit in Europa das Interesse an Fragen der korrekten Bevölkerungspolitik zur Steuerung der Gesellschaftsgröße.1 Die bevölkerungspolitischen Debatten, und als deren Gegenstand die Eheschließung, wurden zu Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – im Gegensatz zur oben skizzierten manifesten Gesetzgebung – in der entstehenden Öffentlichkeit vor allem vom sogenannten ‚Populationismus‘ geprägt.2

      Dieser forderte in seinen Grundzügen das Gegenteil der Ehegesetzgebung, weil er davon ausging, dass eine florierende (Land-)Wirtschaft von der Verfügbarkeit humaner Ressourcen abhängig sei. Da im 17. und 18. Jahrhundert territoriale Macht und herrschaftlicher Einfluss in starker Abhängigkeit von der Größe der Armee gesehen wurden und dazu Menschen (Soldaten) und Kapital (Steuerzahler) erforderlich waren, ging es darum, das eigene Territorium sowohl aus wirtschaftlichen als auch aus militärischen Gründen zu bevölkern: Die Wirtschaft, die das Heer finanzierte, brauchte Arbeitskräfte und sollte potente Steuerzahler generieren. Das Militär benötigte möglichst viele Soldaten. „Comme cet axiome est certain que le nombre des peuples fait la richesse des États“, wird Friedrich der Große, der als idealtypischer und mächtiger Verfechter des Populationismus betrachtet werden darf, aus seiner Geschichte des Siebenjährigen Krieges zitiert.3 Dabei war der preußische Herrscher durch Johann Peter Süßmilchs Werk Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts informiert. Die Schrift des brandenburgischen Pfarrers erschien 1741 und wurde in den 1760er Jahren in überarbeiteter Version neu aufgelegt. Sie ging im Grundsatz davon aus, dass die Bevölkerungsentwicklung einer göttlichen Ordnung folgte. Damit lagen ihr die Prämissen der sogenannten ‚natürlichen Theologie‘ zugrunde, in der Natur das Wirken Gottes zu verorten. Süßmilch übte mit seinem Werk großen Einfluss auf den zeitgenössischen bevölkerungspolitischen Diskurs aus.4

      In der populationistischen Auffassung sollte sich die Bevölkerung also vermehren, weil sie das Fundament eines wirtschaftlich florierenden und militärisch schlagkräftigen Staates bildete. Sie stellte das Steuersubstrat des werdenden Staates dar und sollte daher wachsen. Wirtschaftspolitik und Machtpolitik wurden somit in der Bevölkerungspolitik verschränkt.5 Ökonomie und Demographie standen in unzertrennlicher Wechselwirkung zueinander. Diese Wechselwirkung determinierte die Macht und den Wohlstand eines Staates. Sie musste daher erfolgreich gesteuert werden, um die „Glückseligkeit“ in utilitaristischer Weise zu maximieren.6

      Für Berns Bevölkerungspolitik im 18. Jahrhundert wurde bereits auf die herrschende Ambivalenz von „pronatalistischen Massnahmen im medizinisch-ökonomischen Bereich und von antinatalistischen Massnahmen im sozialen Bereich“ in den zeitgenössischen bevölkerungspolitischen Handlungslogiken aufmerksam gemacht.7 Bern litt im 18. Jahrhundert, wie auch andere Teile Europas, unter einer länger anhaltenden stagnierenden Bevölkerungsentwicklung.8 Deswegen wurden auf der einen Seite verschiedene ‚gesundheitspoliceyliche‘ Anstrengungen unternommen und Maßnahmen ergriffen, die auch in anderen Territorien Anwendung fanden, um das Wachstum zu fördern: Die Regierungen versuchten, die epidemiebedingte Sterblichkeit zurückzudrängen, indem sie Anleitungen zu Therapien und Hygieneanweisungen verbreiteten. Bern gründete 1778 eine Hebammenschule. Die professionalisierte Ausbildung der Geburtshelferinnen trug dazu bei, die Kindersterblichkeit und die Geburtsrisiken für die Mütter zu reduzieren. Gleichzeitig unternahm die Obrigkeit verschiedene Anstrengungen, der Kontrazeption und der nachgeburtlichen Geburtenkontrolle konsequent vorzubeugen. Den Versorgungsengpässen in Krisensituationen versuchte man durch das Anlegen und Bewirtschaften von Vorräten in zunehmendem Maß Herr zu werden. Gleichzeitig wurde aber auf der anderen Seite „ein rechtliches Instrumentarium gegen die unerwünschte Eheschliessung in den Unterschichten aufgebaut“, das in der Umsetzung auch „zunehmend griffiger ausgestaltet“ wurde.9 Darin konkretisiert sich für Bern exakt jene janusköpfige Entwicklung, die auch Foucault für den ungefähr gleichen Zeitraum in der Veränderung der gouvernementalen Logik im Allgemeinen beobachtet hat.10 Er hat sie als Changieren zwischen „verschiedenen Bedeutungspolen“ politischer Ökonomien charakterisiert.11 Auch Isabel V. Hull hat – für den deutschen Raum – im Übergang von der Stände- zur bürgerlichen Gesellschaft auf den Widerspruch zwischen moralischen Schriften und polizeiwissenschaftlichen Administrationsbemühungen hingewiesen.12

      Im Ehegesetz fanden in dieser widersprüchlichen bevölkerungspolitischen Atmosphäre zwischen utilitaristisch geprägtem Populationismus und der Wahrung ständischer Partikularinteressen neue, zunehmend an Besitz gebundene Eheprivilegien Eingang. Dagegen beschäftigten sich die Reformer in der bevölkerungspolitischen Debatte mit der Frage, wie man Berns Agrarwirtschaft modernisieren und die Landschaft zur Beförderung des Handwerks und der Manufakturen stärker bevölkern könnte, um Wohlstand und Glück auszuweiten und stärker zu verbreiten. Einerseits hielt die Berner Obrigkeit im gedruckten Gesetz also an der ständischen Privilegienordnung fest. Andererseits regte die Oekonomische Gesellschaft Diskussionen an, in denen Gelehrte fortschrittsoptimistisch und auf die Zukunft ausgerichtet darüber debattierten, wie eine prosperierende Gesamtwirtschaft zu schaffen sei. Darin zeigt sich, wie für kurze Zeit zwei verschiedene Formen der Gouvernementalität nebeneinander existierten13 – was, wie noch zu zeigen sein wird, in der Gerichtspraxis Widersprüche und Konkurrenz zwischen gegensätzlichen Urteilslogiken produzierte.

      In der europäischen gelehrten Öffentlichkeit grassierte seit den 1740er Jahren, entsprechend der populationistischen Diskussion,