Prekäre Eheschließungen. Arno Haldemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Arno Haldemann
Издательство: Bookwire
Серия: Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783739805719
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Land sowie in der Stadt und der obrigkeitlichen Wahrnehmung sozioökonomischer Verhältnisse im Herrschaftsgebiet Berns abhingen. Da sich die vorliegende Arbeit der Erforschung der Sattelzeit widmet, stellt die revidierte bernische Chorgerichtssatzung von 1743 formal einen idealen Anfangspunkt für diese Studie dar. Zudem fiel das Erscheinen des oberchorgerichtlichen Rekursmanuals beinahe exakt mit der Einsetzung dieser revidierten Ehegerichtsordnung zusammen und stand in direktem Zusammenhang damit. Die vom Gerichtsschreiber verfassten Manuale bilden die materielle Grundlage für die weiteren Untersuchungen zur Akteurspraxis von Heiratswilligen, eheeinsprechenden Personen und Parteien sowie der Gerichtstätigkeit.

      Zum anderen wird für den angestrebten Vergleich die bevölkerungspolitische Debatte rund um die Oekonomische Gesellschaft in Bern berücksichtigt. Diese spätaufklärerische Sozietät war „die erste bedeutende kontinentaleurop[äische] […] dieser Art“.4 Sie setzte sich im Rahmen eines umfassenden Ökonomieverständnisses, das auch die Bevölkerungsentwicklung einschloss, mit den relativ unflexiblen ehepolitischen Strukturen auseinander und kritisierte oder stützte diese je nach Zeitpunkt. Die gelehrte Gesellschaft verschrieb sich dabei dem Generieren, Diskutieren, Verbreiten und Umsetzen von nützlichem Wissen, um die Produktion insbesondere in der Agrarwirtschaft zu steigern. Sie setzte sich in ihren sogenannten ‚Preisfragen‘ in politisch brisanter Weise mit dem Verhältnis von Bevölkerungswachstum und Ressourcen auseinander, indem sie wiederholt die Frage aufwarf, wie eine Regierung dieses Verhältnis erfolgreich steuern sollte. Für hochstehende Beiträge zur Beantwortung dieser Fragen wurden Preise ausgeschrieben und die Publikation der Schreiben in Aussicht gestellt. Damit wandte die Sozietät ein zeitgenössisch bekanntes Mittel zur Wissensgenerierung an, das schon zuvor in anderen Gelehrtengesellschaften und Akademien angewandt wurde.5 Mitglieder und Assoziierte setzten sich dezidiert mit der konkreten Frage auseinander, „wie man am besten regiert“, weil sie an „der Rationalisierung der Regierungspraxis bei der Ausübung der politischen Souveränität“ interessiert waren.6 Ihre Abhandlungen bildeten – im Kontrast zu den relativ starren obrigkeitlichen Ehegerichtsordnungen – eine unmittelbare und dynamische diskursive Auseinandersetzung mit der aktuellen Wahrnehmung demographischer Zustände und Entwicklungen ab.

      Dabei bezogen einige Autoren in den auf Preisfragen hin eingereichten Schriften spezifisch Stellung zur obrigkeitlichen Ehenormierung als Kontroll- und Steuerungsinstrument bevölkerungspolitischer Bestrebungen. Darin kritisierten sie zum Teil die obrigkeitliche Bevölkerungspolitik mehr oder weniger offenkundig. Hier sollen diejenigen bevölkerungspolitisch einschlägigen Eingaben an die Oekonomische Gesellschaft in die Untersuchung des normativen Handlungsrahmens miteinbezogen werden, die die Eheschließung als Regulativ des Bevölkerungswachstums thematisierten. Sie geben Auskunft über zeitgenössische Wahrnehmungen und Einschätzungen der sozioökonomischen Zustände des Kantons in der entstehenden politischen Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts. Die öffentliche Debatte fand in Auseinandersetzung mit den herrschenden Gesetzen und der Erfahrung der ehegerichtlichen Praxis statt. Sie war über die Ehepraxis der Bevölkerung ebenso informiert wie sie dieselbe theoretisch und schreibend zu beeinflussen versuchte, indem sie auf Reformen in der Gesetzgebung drängte oder kritisch auf neue Mandate und Verordnungen reagierte.

      1.1 Die revidierte Ehegerichtssatzung von 1743: ‚Heyl und Wolfahrt‘ unter ‚abgeänderte[r] lebens-manier der menschen‘

      Der Anfang des Untersuchungszeitraums dieser Studie fällt, wie erwähnt, mit dem Erlass der revidierten Chorgerichtssatzung 1743 zusammen. Mit der Erneuerung der Satzung beanspruchten Schultheiß, Kleiner und Großer Rat dem Verfall der sittlichen Ordnung entgegenzuwirken und die Gesetze der „abgeänderte[n] lebens-manier der menschen“ anzupassen.1 Die obrigkeitliche Anstrengung der Gesetzesrevision diente offensichtlich dazu, den Bürgern, Untertanen und anderen im Herrschaftsgebiet wohnhaften Menschen gesetzliche Bestimmungen in Erinnerung zu rufen, damit diese nicht in „Vergess gestellt“ wurden.2 Vor allem aber wurden sie erinnert und modifiziert, um kontinuierliche Herrschaft unter veränderten Vorzeichen zu reproduzieren, sodass „Heyl und Wolfahrt“, also Sitte und Ökonomie, im Sinne der herrschenden Staatsräson reproduziert werden konnten.3 Dieser Vorgang kann als „Prozesscharakter der Konstruktion“ analysiert werden:4 Den Potentaten ging es darum, bestehende Machtunterschiede unter transformierten gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen aufrechtzuerhalten. Schließlich sollte die Adjustierung der Gesetze dazu führen, „Zucht und Ehrbarkeit“ unter veränderten soziokulturellen Bedingungen in ihrer Wirkung fortbestehen zu lassen. Berns Machthaber erkannten zweifelsohne die „ohnumgängliche Nothdurfft“ der fortlaufenden Anpassung der Ordnung an die Zeitumstände, wenn sie ihre Herrschaft aufrechterhalten wollten.5

      Dass die Ehe- und Sexualpraktiken der AkteurInnen die Gesetze im „Justiz-Alltag ‚abschliffen‘“ und durch die Aneignung veränderten, ist folglich nicht nur aus historischer Distanz zu ersehen.6 Auch Burgern und Räten, in deren Namen die Ordnung erlassen wurde, war offensichtlich wohlbekannt, dass die Wirkung von Gesetzen nachlassen konnte.7 Was Burghartz für die Ordnung der Geschlechter konzeptionell gefasst hat, schien den Berner Machthabern bei der Revision ihrer Ehegesetzordnung als Funktionsmechanismus gegenwärtig gewesen zu sein. Moderate gesetzliche Anpassungen schienen notwendig, um den strukturellen Fortbestand der Machtbeziehungen unter sich wandelnden gesellschaftlichen Umständen aufrechterhalten zu können.8 Um die Herrschaftsverhältnisse erfolgreich tradieren oder gar ausbauen zu können, bedurfte es feingliedriger Anpassungen an die zeitgenössischen Gewohnheiten und das Verhalten der Landesbewohner. Dass dieser Umstand der Herrschaftsschicht bewusst war, dokumentiert wiederum die revidierte Chorgerichtssatzung von 1743. Dort ließ die bernische Obrigkeit verlauten, dass sie

      „nicht nur gutfunden, diss-örthige ehemalige Satzungen für die Hand zu nemmen und mit Fleiß zu durchgehen, sondern in eint- und anderem, gestalten Dingen nach, auf gegenwärtige Zeiten und Läuff selbe einzurichten, zu verbessern und in fernerem hiemit anzuordnen […].”9

      In der Folge ist es interessant zu untersuchen, mit welcher bevölkerungspolitischen Intention die Berner Regenten die Chorgerichtssatzung von 1743 revidierten, um die abgenutzte Ordnung in ihrer ehemaligen Wirkung wiederherzustellen. Während die Berner Magistrate mit den christlichen Mandaten von 1628 im 17. Jahrhundert und in der Folge kontinuierlich mit weiteren Verordnungen und Gesetzen mittels Normierung der Eheschließung auf Armutsphänomene zu reagieren begannen, erreichten die Gemeinden mit der „lands-vätterliche[n]“10 Ehegesetzordnung von 1743, dass sie unabhängig vom Alter alle Almosenbezüger-Innen und Menschen mit körperlichen Gebrechen mittels Zugrecht von der Ehe und damit von der ‚reinen‘ Sexualität ausschließen konnten. Das Zugrecht war „ein Vetorecht“, das ursprünglich den Eltern oder, im Fall von deren Tod oder Unmündigkeit, nahen Verwandten oder Vögten minderjähriger Kinder zukam, wenn sie Einwände gegen deren Eheaspirationen hatten.11 Dieses Recht wurde nun in bestimmten Fällen auf Gemeinden und Korporationen ausgedehnt: Gemeindeangehörige, die zu heiraten wünschten, konnten jetzt von diesen, sogar über die Volljährigkeit hinaus, daran gehindert werden, wenn sie von ihren Korporationen oder Gemeinden Unterstützungsleistungen bezogen oder in der Vergangenheit erhalten, aber nicht zurückbezahlt hatten.12 Die entsprechenden Neuerungen fanden unter dem Titel „Artickel und Sazungen, die Ehe betreffend“ unter dem dritten Absatz Eingang in das schriftlich verbriefte Ehegesetz von Bern. AlmosenempfängerInnen und Menschen mit leiblichen Gebrechen, denen nicht zugetraut wurde, sich und allfälligen Nachwuchs zu versorgen, konnten fortan über das 25. Lebensjahr hinaus an der Eheschließung gehindert werden.13 Faktisch wurde damit ein Ehehindernis errichtet und im Gesetzestext verankert, das arme Personen und Menschen mit körperlichen Gebrechen komplett von der Reinheitsordnung ausschloss. Die Sexualität dieser Menschen wurde per se diskreditiert, indem sie das Gesetz als ‚leichtsinnig‘ verurteilte.14 Das stellte die bisher schärfste gesetzgeberische Restriktion von Armenehen in der bernischen Ehegesetzgebung dar. Sie reihte sich in jene Entwicklung „intensivierter Kontrolle von Sexualität“ ein, die mit der starken Bevölkerungszunahme und der zunehmenden sozialen Polarisierung einherging, die Joachim Eibach für das 18. Jahrhundert aus kriminalitätshistorischer Perspektive thematisiert hat.15

      In Bezug auf die frühneuzeitliche Ehegesetzgebung in Bern von der Reformation bis 1824 kann von einer beachtlichen Beständigkeit gesprochen werden. An den Prinzipien der Ehedefinition, der