Die reformierten Gesetzgeber waren bestrebt, diesem Umstand Abhilfe zu schaffen.10 Mit der dreimaligen Verkündigung der bevorstehenden Heirat am Wohn- und Heimatort von Braut und Bräutigam durch die Pfarrer der entsprechenden Gemeinden von der Kanzel und dem öffentlichen Kirchgang zur Eheeinsegnung wurde seitens der Regierung ein sozialdisziplinierendes Moment verbunden. Die Praxis wurde gleichzeitig formalisiert und reglementiert. Damit strebten die Obrigkeiten eine Uniformierung und Kanalisierung populärer Hochzeitsrituale an. Die Unterstellung einer sexuellen Beziehung und der Ausgangspunkt einer rechtlich anerkannten Ehe wurden dadurch – anders als in der populären Wahrnehmung – eindeutig geschieden.11 Entjungferungen und Brautschwangerschaften konnten fortan zumindest nicht mehr einfach per gesetzlicher Definition als ehekonstituierende Verlobungen interpretiert und ohne Weiteres zu einer vor Gott geschlossenen Ehe erklärt werden. Heimlich geschlossenen Verbindungen, sogenannten ‚klandestinen Winkelehen‘, wurde durch die ehekonstituierende Öffentlichkeit und die damit implizierte Kontrolle der Dorfgemeinschaft so besser vorgebeugt. Verborgen geschlossene Ehebündnisse zwischen zwei Individuen waren rechtlich erheblich leichter aufzulösen oder wurden erst gar nicht mehr anerkannt, da sie formellen Kriterien der Eheschließung nicht genügten. Das Eheversprechen genoss auf reformiertem Terrain keinen sakramentalen Charakter mehr. In vorreformatorischem Verständnis war allein der freiwillige Konsens zwischen zukünftiger Braut und zukünftigem Bräutigam als von Gott gestiftet und daher als unauflösliches Sakrament erachtet worden.12 Seit der Einführung des ersten Ehemandats genügte den Berner Magistraten das im gegenseitigen Einvernehmen gemachte mündliche Eheversprechen zwischen zwei Brautleuten allerdings nicht mehr zur Anerkennung einer gültigen Ehe.13 Als Ereignis war die spezifische Ehe von der weltlichen Herrschaft respektive deren geistlichen quasi-Beamten zu stiften, kontrollieren und sanktionieren. Die Ehe war im spezifischen Einzelfall nicht mehr durch Gott eingesetzt, sondern eine Entsprechung göttlicher Ordnung. Die durch die kirchliche Institution kontrollierte und exekutierte öffentliche Einsegnung der Ehe erhielt dadurch im Verhältnis zur intimeren, informelleren Verlobung eine starke Bedeutungssteigerung.14 Das konsensuale Eheversprechen initiierte die Ehe nach wie vor, doch vollzog es sie nicht abschließend. Gewisse materielle und güterrechtliche Forderungen konnten auch in der reformatorischen Ehekonstitution bereits nach der Verlobung geltend gemacht werden, falls eine Partei beschlossene Abmachungen bezüglich der Eheschließung nicht einhalten sollte. Dazu musste sich die Verlobung aber an öffentlich überprüfbare Kriterien der Gültigkeit halten, die jetzt weltlicher und nicht mehr sakramentaler Natur waren, um den Ausgangspunkt für eine anerkannte Ehe darstellen zu können: Sie musste nun durch Zeugen beglaubigt, schriftlichen Vertrag verbrieft oder Ehepfänder bewiesen sein. Das Ehemündigkeitsalter musste eingehalten werden, der Konsens des gesetzlichen Vormunds musste bei Minderjährigkeit bestehen. Gleichzeitig durfte de jure niemand in eine eheliche Verbindung mit einem unliebsamen Partner gezwungen werden. Weiter durften keine ehemindernden Verwandtschaftsgrade zwischen den Brautleuten vorliegen, wobei dieser Umstand, wenn auch in z. T. abweichenden Verwandtschaftsgraden, auch in der katholischen Ehetheologie vorlag.15 Ehen mussten vor ihrer Einsegnung dreimal von der Kanzel im Wohnort der Braut und des Bräutigams sowie in den jeweiligen Heimatgemeinden verkündet werden. Menschen aus dem sozialen Nahraum konnten auf gesetzlicher Grundlage dagegen opponieren und Ehehindernisse geltend machen.
Mit der Einführung des elterlichen Konsenses wurde die Kontrolle der Eltern über die Eheverbindungen ihrer Kinder institutionalisiert und massiv intensiviert. Die Gültigkeit eines Eheverlöbnisses war rein normativ durch die reformatorischen Entwicklungen zu einer mehr oder weniger öffentlichen gesellschaftlichen Frage der religiösen Legitimität und der Legalität erklärt worden, auch wenn die Obrigkeit in ihrem Anspruch an den Praktiken der Untertanen weiterhin oft scheiterte.16 Die patriarchale Kontrolle über die Eheschließung nahm dadurch nicht dagewesene Ausmaße an.17 Das Bestreben der reformierten Obrigkeit, die, wie gesagt, ausschließlich aus verheirateten, regimentsfähigen Hausvätern bestand, war klar: Definitionsmacht, Kontrolle und Alleinherrschaft über das zu erlangen, was analytisch gesehen die Schnittmenge aus Gewohnheitsrechten, Familienstrategien und individuellen Interessen darstellte.18 Das reformierte Ehegesetz integrierte dabei zwar populäre Vorstellungen und Praktiken der öffentlichen Eheschließung.19 Dahinter steckten aber die patriarchalen Interessen reformierter Obrigkeiten, die sich teilweise mit gemeinschaftlichen Interessen überschnitten; nämlich die Eheschließung aus der schlecht überprüfbaren Intimität und Privatheit des ‚Winkels‘ und damit der Geheimhaltung in den öffentlichen und sozial überwachten Raum der Kirche „unter Anwesenden“ zu ziehen und den wachsamen Augen und kollektiven Interessen der Gemeinschaft auszusetzen.20 Aufgrund der rudimentär ausgebildeten Verwaltungsstruktur war die Berner Obrigkeit in diesem Bereich geradezu auf Denunziationen und Anzeigen sittlichen Fehlverhaltens aus den Reihen der Bevölkerung vor den lokalen Chorgerichten angewiesen. Erst dörfliche Gerüchte und kooperierende Gemeindemitglieder brachten Regelverstöße vor die örtlichen Sittengerichte.21 Je nach Schwere des Delikts sollten diese dann Anzeige beim Oberchorgericht in Bern erstatten.22 Die Anzeigen kamen folglich „aus der Gesellschaft selber“.23 Diese Begebenheit konnte in den Gemeinden durchaus zu einem „System gegenseitiger Aufpasserei, Verdächtigung und Angeberei“ führen, das nicht nur in ehelichen, sondern auch in anderen sittlichen Angelegenheiten „auf den Gemütern lastete, die Gewissen beschwerte und die persönliche Freiheit knechtete und knebelte“.24
Zwischen religiösem Anspruch und sozialer Ordnung
In der Gegenüberstellung von reformierter Ehetheologie und obrigkeitlichem Ehegesetz offenbarte sich bald eine wachsende Diskrepanz zwischen religiösem Anspruch, der die ideale sexuelle Ordnung der Gesellschaft priorisierte, und weltlichen Ordnungsvorstellungen, die pragmatisch auf die soziale Ordnung der Gesellschaft abzielten: Einerseits gab es für den geschlechtsreifen Menschen in der reformierten Anthropologie keine andere Möglichkeit, in Sündlosigkeit zu leben als in der Ehe. Wie oben ausgeführt, gingen die Vertreter des reformierten Menschenbilds von der Unmöglichkeit der sexuellen Enthaltsamkeit aus, sie erachteten das Risiko als zu groß, zu scheitern und sich zu versündigen. Vor- und außereheliche Sexualität sowie gewisse Sexualpraktiken, zusammengefasst unter den zeitgenössischen Begriffen ‚Unzucht‘ und ‚Hurerei‘, verunreinigten den theologisch interpretierten Gesellschaftskörper. Die durch einzelne Glieder beschmutzte Gesellschaft würde Gottes Argwohn auf sich ziehen, so die theologische Vorstellung der Obrigkeit. Daher musste die Unzucht durch Gerichte mittels Kriminalisierung und Sanktionierung eingedämmt werden, um nicht von der kollektiven Strafe Gottes heimgesucht zu werden.1 Sozialmoralisch war das nur mit einer Öffnung der Eheschließung für alle Schichten und Stände zu bewerkstelligen.
Andererseits wurde von Berns Regenten und den lokalen Autoritäten streng darüber gewacht, wer wen zu welchem Zeitpunkt und unter welchen Voraussetzungen legal heiraten durfte. Nur so schien es möglich, die permanent gefährdete soziale und ökonomische Ordnung der Ständegesellschaft in einem kommunalen System knapper Ressourcen aufrechtzuerhalten. Die Eheschließung bildete die zentrale Scharnierstelle für den frühneuzeitlichen Besitztransfer, markierte eine Schlüsselstelle im Erbschaftssystem und determinierte so die „Architektur des Privaten“.2 Außerdem waren zahlreiche politische und private Rechte, die das Ansehen in der Gemeinschaft und im Staat maßgeblich mitbestimmten und das individuelle Selbstverständnis konstituierten, exklusiv an den ehelichen Status geknüpft.3 Das Interesse der Patriarchen war entsprechend groß, ausschließlich Ehen zuzulassen, die Haushalte formierten, deren materielle Basis ausreichte, um sämtliche Mitglieder ernähren und unterhalten zu können. Sogenannte ‚leichtfertige‘ Eheschließungen, die in ‚Bettelehen‘ münden konnten, weil sie den gegründeten Haushalt aufgrund der ökonomischen Situation nicht mit genügend Auskommen versorgen konnten, mussten unbedingt verhindert werden.4 Für die Schweiz und Deutschland konnte diesbezüglich gezeigt werden, dass vom 16. über das 17. bis ins 18. Jahrhundert die Diskrepanz zwischen dem obrigkeitlichen Anliegen der sexuellen Ordnung und dem kommunalen Bedürfnis nach sozialer Ordnung im Bereich der Eheschließung laufend anwuchs. Die Regierung war darauf aus, Normen zu etablieren, die klare Linien zwischen moralischer Reinheit und unmoralischer Unzucht zogen, was vor allem über eine Ordnung der Sexualität erfolgte. Dem liefen jene