Parallel zu den Ehegerichtsordnungen wurden in den reformierten Kantonen auf kommunaler wie kantonaler Ebene Ehegerichte installiert, die je nach Ort und Zeit auch Chorgerichte oder Konsistorien genannt wurden. Von der kulturgeschichtlichen Forschung werden sie primär als Instanz der sittlich-moralischen Disziplinierung der Bevölkerung durch die Obrigkeit interpretiert,9 deren disziplinarischer Erfolg aber vom 16. zum 18. Jahrhundert kontinuierlich abzunehmen schien.10 Sie wurden sowohl mit zum Teil juristisch gebildeten und mit Ämtererfahrung beschiedenen Assessoren als auch theologisch geschultem Personal besetzt. In den Gemeinden auf dem Land waren die wohlhabenden Bauern unter den Chorrichtern übervertreten. Allerdings hat Schmidt aufgezeigt, dass die kommunalen Ehegerichte eine breite Trägerschicht aufwiesen. Die Ambiguität zwischen zivilem und religiösem Charakter der Ehe in der reformierten Theologie bildete sich folglich auch in der dualen Besetzung des Gerichts mit Pfarrern, die in Bern auf lokaler Ebene als Schreiber amteten, und Amtsleuten, die als Richter fungierten, ab.11 Es würde allerdings entschieden zu kurz greifen und den reformatorischen Ausspruch über die Ehe als „ein weltlich Ding“ falsch akzentuieren, wenn man die Entwicklungen deswegen in ein modernisierungstheoretisches, teleologisches Säkularisierungsnarrativ eingliedern würde.12 Obwohl die Chorgerichte keiner geistlichen Oberinstanz mehr unterstanden und in die säkulare Gerichtsorganisation eingegliedert wurden, stellte die Bibel dem Anspruch des reformierten Schriftprinzips (sola scriptura) nach den ausschließlichen Bezugsrahmen der erneuerten Ehegesetzgebung dar. Die reformierte Ehegesetzgebung war von der Vorstellung geprägt, dass sich das verbindliche Recht für die gesellschaftliche Ordnung direkt aus dem göttlich inspirierten biblischen Wort ergießen sollte.13 Das reformatorische Wegfallen des sakramentalen Charakters bedeutete auf theologischer Ebene keinesfalls eine Profanierung der Ehe. „[V]ielmehr wird auch die weltliche Ordnung insgesamt und mit ihr die Ehe geheiligt und zum Gottesdienst berufen“, so Schmidt.14 Dadurch wurde ein Referenzpunkt geschaffen, in dem der theologische mit dem städtischen Reformdiskurs verschränkt wurde. Sowohl die Reformatoren als auch die städtischen Obrigkeiten strebten eine Verbesserung der Moral an – die einen aus Gründen theologischer Abgrenzung gegen das Papsttum, die anderen aus Motiven sittlicher Distinktion von den Unterschichten. Mit der Überlagerung von Reinheits- und Sittlichkeitsdiskurs entstand für die Eheschließung ein grundlegend neuer Rahmen.15 Darin führten die reformatorischen Entwicklungen zu einer hybriden Konstitution der Ehe, die, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, bis ins 19. Jahrhundert stets zwischen ziviler Institution und göttlicher Ordnung oszillierte.
Exemplarisch kommt dieser duale reformierte Charakter des frühneuzeitlichen Eheverständnisses in einer frühen Schrift Heinrich Bullingers zum Ausdruck. In der 1527 gedruckten pastoraltheologischen Publikation formulierte Bullinger, der nach Zwinglis Tod die eidgenössische Reformation konsolidierte,16 dass es keinen göttlicheren und lustbareren Stand als die Ehe gäbe: „Wer hat aber sölichs ingesetzt, wer hats geheyssen? Gott hat die Ee also ingesetzt, […].“ Bullingers Bezugspunkt dafür war mit Genesis 2, Vers 18 selbstverständlich die als Offenbarungsschrift begriffene Bibel. Insofern war die Ehe von Gott installiert, aber nun den irdischen Trieben und dem freien Willen der Menschen ausgesetzt. Die Sexualität im priesterlichen Zölibat, Mönchtum oder der Jungfräulichkeit zu überwinden, lag der reformatorischen Anthropologie zufolge nicht mehr im Bereich des Menschenmöglichen. Die Ehe nicht in Anspruch zu nehmen, also Ehelosigkeit zu leben, war laut Bullinger Sünde „wider die Schöppfung und den Schöppffer selbs“ gewesen.17 Die menschliche Natur war durch Gottes Schöpfung gegeben und von den Menschen anzunehmen. Sie beinhaltete auch eine Sexualität, die sich im Verständnis reformierter Anthropologie nicht sublimieren ließ. Das Zölibat widersprach in den Augen der Reformatoren der Schöpfung selbst und wurde als Kreation des Teufels bekämpft. Sowohl die menschliche Sexualität als auch die Ehe waren somit Teil göttlicher Vorsehung und sollten von den Menschen aufeinander bezogen werden.
Disziplinarische Konsequenzen des reformatorischen Eheverständnisses
In der Konsequenz avancierte die Ehe durch die Reformation zum exklusiven Ort sexueller Reinheit. Sie war von Zwingli und seinen Epigonen in der Eidgenossenschaft als göttliche Arznei gegen menschliche Sündhaftigkeit postuliert worden. Nur sie konnte die Menschen von der Sünde heilen.1 Fortan stellte sie also nicht mehr die inferiore Alternative zum Zölibat dar, sondern war in den reformierten Territorien zum allgemeingültigen Lebensmodell auserkoren worden. Durch das veränderte reformatorische Menschenbild konnten Zölibat und Enthaltsamkeit die Reinheit der sozialen Ordnung keinesfalls mehr garantieren. Das demonstrierten für die Reformatoren die Zustände im katholischen Klerus. Gesellschaftliche und sexuelle Reinheit und damit Ordnung konnten in reformierter Auffassung ausschließlich über die christliche Ehe hergestellt und garantiert werden.2
Mit dieser hybriden reformatorischen Ehekonzeption erfuhr das heterosexuelle eheliche Zusammenleben eine systematische Aufwertung und in der Folge intensive Aufmerksamkeit durch die protestantischen Obrigkeiten. Das Eheleben ihrer Untertanen wurde zum zentralen Ansatzpunkt ihrer Ordnungsanstrengungen. Die gottgefällige Eheführung mutierte unter den reformierten Ehetheologien zur grundlegenden Voraussetzung gesellschaftlicher Ordnung überhaupt.3 Nun oblag den reformierten Herrschaften im Hinblick auf die Ehe die Bewahrung der Reinheit des Gesellschaftskörpers als göttlicher Auftrag. Die Erfüllung ihres christlichen Herrschaftsauftrags erforderte folglich Mittel zur Herstellung und Überwachung sexueller und gesellschaftlicher Ordnung. Die erste Ordnung Gottes musste durchgesetzt und mit Argusaugen überwacht werden. Die Eheschließung und die Bewahrung ihrer Reinheit avancierten zum zentralen Maßstab für die Güte und Gottgefälligkeit christlicher Herrschaft4 und „obrigkeitlicher Moralpolitik“5. Darin war sogar die Kirche fortan der weltlichen Macht subordiniert, respektive Teil des obrigkeitlichen Verwaltungsapparats.6 Wiederholt ist von Historiker*innen ein Reglementierungsschub beobachtet worden, der von der Reformation ausging und neue Normen bezüglich der Trauungsinstitutionen evozierte. Die Gültigkeit der Ehe wurde im Nachgang der Reformation in gesteigertem Maß von obrigkeitlich vorgeschriebenen Formalitäten abhängig. Bedeutung und Verbindlichkeiten von lokalen Bräuchen und Gepflogenheiten traten diesen gegenüber zurück, so die These.7 Es ist von einer Zunahme der Formalisierung und Kodifizierung der Eheordnung die Rede. Die gesteigerte Festschreibung habe in Bezug auf die Kontrolle über die Eheschließung in reformierten Gebieten tendenziell zu einer Machtverschiebung hin zu den Eltern, beziehungsweise vor allem zum Vater, und zu kirchlichen sowie staatlichen Autoritäten geführt. Dagegen habe die Selbstbestimmung der Brautleute wie auch die Macht der erweiterten Verwandtschaft, ständisch-korporativer Verbände und der peer groups der Brautleute abgenommen. Kinder, die ohne elterlichen Konsens heirateten, konnten jetzt leicht enterbt werden, voreheliche Sexualität wurde kriminalisiert und bestraft.8 Für die vorreformatorische Hochzeitsgemeinschaft war nicht die vom Pfarrer gespendete Kasualhandlung ehekonstitutives Moment gewesen. Mit Blick auf populäre Sichtweisen und lokale Traditionen war es oftmals nicht eindeutig, wann eine Eheschließung rechtsgültig vollzogen