Auf der ersten Ebene der Gliederung folgt die Arbeit der Zeit. Sie ist in drei chronologische Teile untergliedert. Diese Unterteilung erfolgt entlang des vorerst verfassungs- und politikgeschichtlich gedeuteten Einschnitts der Helvetischen Revolution. Diese Zäsur ließ in Bern das Ancien Régime (Teil B) mit dem Einmarsch französischer Truppen 1798 offiziell enden. Dem kurzen indirekt-demokratischen Intermezzo der Helvetischen Republik zwischen 1798 und 1803 (Teil C) folgte eine nachhelvetische Zeit, die von der Verfassungs- und Politikgeschichte wiederum in drei, mehr oder weniger zusammenhängend gedachte, Abschnitte untergliedert wird: die Mediation (1803–15), die Restauration (1815–30) und die Regeneration (1830–48). In dieser Studie wird der Zeitraum zwischen dem Ende der Helvetik und der Gründung des Schweizerischen Bundesstaats aufgrund der Quellenlage und ehethematisch begründeten Anhaltspunkten als nachhelvetische Einheit (Teil D) behandelt. Bei der chronologischen Gliederung auf erster Ebene wird folglich auf etablierte Epochenbegriffe und -einteilungen in der schweizerischen Geschichtswissenschaft zurückgegriffen. Das wird allerdings nicht getan, weil die zu den Epochen bestehenden (Vor-)Urteile voreilig und unhinterfragt übernommen werden. Vielmehr möchte die Arbeit die allgemeinen historiographischen Charakterisierungen der konstatierten Epochen am konkreten Gegenstand der Eheschließung auf inhaltlicher Ebene überprüfen beziehungsweise konkretisieren und differenzieren. Gleichzeitig macht diese temporale Aufteilung der Arbeit Sinn, weil mit den Ereignissen der Helvetischen Revolution und ihrem Ende auf ehegesetzlicher und gerichtsorganisatorischer Ebene jeweils grundlegende Richtungsänderungen vollzogen wurden. Damit fiel jeweils auch eine veränderte Quellenproduktion zusammen.1
Die kritische Auseinandersetzung mit bestehenden Epochengrenzen wird entlang einer dreifachen thematischen Untergliederung geführt. Auf der ersten Ebene (1 Normen) werden die herrschenden Gesetze und bevölkerungspolitischen Debatten analysiert, die normierend auf die Aushandlungspraxis der Eheschließung wirkten. Dabei wird in metaphorischer Anlehnung an de Certeau der „Ort des Anderen“ abgesteckt,2 der „die Spielräume“ definierte, die „die [bevölkerungspolitischen] Konjunkturen den Verbrauchern [der Ehegesetze] lassen und in denen diese ihre ‚Kunst‘ ausüben können“.3 Hier wird der mehr oder weniger „technokratisch ausgebaute, vollgeschriebene und funktionalisierte Raum“ ausgeleuchtet, in dem sich Ehewillige und OpponentInnen bewegen mussten und in dem sie ihre Taktiken entwickelten und anwendeten.4 Gleichzeitig mussten sich auch die strategisch agierenden Richter zu ihnen in ein spezifisches Verhältnis setzen. Der Begriff der Konjunktur zeigt an, dass die angesprochenen normativen Strukturen Veränderungen unterworfen waren. Das Netz aus Normen konnte mal „engmaschig“ und mal loser sein und dadurch den Ehewilligen im Gericht unterschiedlich viel Raum für ihre taktischen Manöver gewähren.5
Auf der zweiten Ebene der thematischen Untergliederung des Inhalts (2 Taktiken) werden die AkteurInnen prekärer Eheschließungen und ihre OpponentInnen vor Gericht in den Fokus gerückt. Einerseits wird an dieser Stelle untersucht, wer die „Prekarier“ und „Prekarierinnen“ in ehelicher Hinsicht waren,6 und wer gegen ihre Ehebegehren zu welchem Zeitpunkt Einspruch erhob. Dazu werden aufgrund der in den Quellen zugänglichen Informationen soziale Profile von ehewilligen Paaren und einsprechenden Parteien entwickelt. Es werden Beziehungskonstellationen eruiert, die den sozialen Widerstand in besonderem Maße provozierten. Andererseits werden die Motive, Ressourcen und Taktiken der OpponentInnen und der von ihnen prekarisierten Ehewilligen analysiert, die sie in Abhängigkeit der zeitlichen Normen ins Gericht führen konnten. Wie „[gebrauchen] sie einen Bezugsrahmen […], der […] von einer äußeren Macht kommt […]“?7 Wie „verwenden [sie] ein System, das ganz und gar nicht ihr eigenes ist und von anderen konstruiert und verbreitet wurde“?8 Dadurch gelangen sowohl die taktischen ehelichen Assoziationen zwischen heterogenen Elementen – dem Eigensinn und der fremden Ordnung – in den Blick als auch die Taktiken der OpponentInnen, diese Verbindungen zu kappen und die Richter auf ihre Seite zu bewegen.
Auf der thematisch dritten Ebene (3 Strategie) wird das strategische Verhalten der Gerichte zwischen taktierendem Eigensinn und Eheeinsprachen, Gesetz und Bevölkerungspolitik betrachtet. An der Urteilspraxis des Gerichts wird zum einen sichtbar, welcher Erfolg den Taktiken der ehewilligen AkteurInnen beschert war – also wie günstig die temporalen „Gelegenheiten und Umstände“9 für die prekären Ehebegehren jeweils waren. Zum anderen zeigt sich daran, wie gut es dem obrigkeitlichen Gericht gelang, „das ‚Umfeld‘ von dem ‚eigenen Bereich‘, das heißt vom Ort der eigenen Macht und des eigenen Willens, abzugrenzen“.10 Dabei befanden sich die aristokratischen Richter in Bern sowohl in einer Frontstellung gegenüber den eigensinnigen AkteurInnen als auch gegenüber den Gemeinden, Familien und Korporationen. Tendierten sie dazu, den ehelichen Eigensinn zu begünstigen, wurden die patriarchalen Interessen der Hausväter protegiert oder unterstützten sie die ressourcenökonomischen Überlegungen lokaler Gemeinschaften? In der Beantwortung dieser Frage anhand der Urteile wird sichtbar, zu welchem Zeitpunkt die Gerichte welche Allianzen mit welchen AkteurInnen schlossen, um ihre eigene Macht auszubauen oder möglichst umfangreich zu bewahren. Damit offenbart sich die vom Gericht verfolgte Strategie als praktische Normierung, die sich im Spektrum zwischen rigider und gnädiger Anwendung patriarchaler Ehegesetze, populationistischer Überzeugung und Angst vor Überbevölkerung bewegen konnte.
Im Schlusskapitel (Teil E) werden die Ergebnisse aus den verschiedenen Zeiträumen miteinander in Beziehung gesetzt. Durch den Vergleich werden bevölkerungspolitische Konjunkturen im Gebiet des damaligen Berns sichtbar. Sie zeigen, wie der Staatsbildungsprozess im dafür durchaus zentralen Aushandlungsprozess zwischen ehewilligen AkteurInnen, OpponentInnen und Gericht in Abhängigkeit der Zeit verlief und welche Gelegenheiten dieser Prozess den Verlobten bei der Durchsetzung ihrer prekären Eheschließungen eröffnete.
Mit diesem Vorgehen wird beabsichtigt, von einem tendenziell dichotomischen Verständnis der Beziehung zwischen lokalen Ehegerichten – in der Vergangenheit thematisierte die Forschung vor allem deren disziplinarische Funktionsweise – und Subjekten Abstand zu nehmen. Durch die Einführung einer dritten, politisch-administrativen Instanz – dem jeweils übergeordneten Ehegericht – kommen sowohl quasi-staatliche Bevölkerungspolitik, Staatsbildungsprozesse als auch die Handlungsmacht der AkteurInnen in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander in den Blick. Diese Sichtweise soll zu Erkenntnissen über das Verhältnis von Individuen, fortschreitender Staatsbildung, lokalen Gemeinschaften, Korporationen und Familien am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert führen.11
B Das ausgehende Ancien Régime (1742–1798)
Bevor die Arbeit zum konkreten eherechtlichen und bevölkerungspolitischen Rahmen der Eheschließung in Bern im ausgehenden Ancien Régime vordringt, ist es für das allgemeine Verständnis unerlässlich zunächst die für die Kantone und die Schweiz insgesamt gut aufgearbeiteten Entwicklungen des Eheschließungsrechts seit der Reformation und seine sozialgeschichtlichen Folgen aufzugreifen.1
Reformatorische Vorgeschichte
Nachdem es Huldrych Zwingli 1523 gelungen war, die Reformation in Zürich zu installieren, griff diese bald auf weitere Deutschschweizer Kantone über. Schon vorher erreichten durch einen Buchhändler 1518 erste Schriften des Zürcher Reformators Bern.1 Die Reformation benötigte hier allerdings noch rund zehn Jahre, bis sie durch die Berner Disputation von 1528 und die Verabschiedung des Reformationsmandats endgültig etabliert war.2
Diese Entwicklung hatte nicht nur weitreichende theologische und ekklesiologische Folgen. Durch den Anschluss der Berner Obrigkeit an die Reformation übernahmen die Magistrate auch die Hoheit und Kontrolle über sämtliche kirchliche Angelegenheiten, dabei auch die Matrimonialgerichtsbarkeit, was de facto ein reformiertes Staatskirchentum in