Von der Institution Gericht wurde gerade im Feld der Ehe zwecks Konfliktlösung und Regulierung des Zusammenlebens im Verlauf der Frühen Neuzeit besonders intensiv Gebrauch gemacht. Die Intensivierung der Nutzung und die damit verbundene Einladung der Obrigkeit in häusliche und eheliche Konflikte öffnete gleichzeitig den Raum für die Expansion staatlicher Interventionen im Bereich der Familie und der lokalen Gemeinschaft. Den Magistraten ging es in zunehmendem Maße um die Regulierung des Familienlebens, um in der Verbindung von politischer und familiärer Stabilität die Macht des Staates auszubauen.3 Diese These wird von Susanna Burghartz mit Blick auf das frühneuzeitliche Basel erhärtet. Sie erachtet in Anbetracht der dicht miteinander verwobenen Moral- und Geschlechterpolitik die Ehegerichte als ausgesprochen wichtige Organe für den frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozess, in dessen Verlauf die Obrigkeiten in immer mehr und neue gesellschaftliche Felder ausgriffen.4
Dabei firmierte die Ehe als die zentrale Ordnungsinstitution des sozialen Zusammenlebens. Sie konstituierte in zunehmendem Maße den entscheidenden „Grundpfeiler der bürgerlichen Gesellschaftsordnung“.5 In dieser Funktion war sie von fundamentaler Bedeutung für die Intensivierung der Beziehung zwischen werdendem Staat und seinen Subjekten. So ist Julie Hardwick zu dem Schluss gekommen, dass gerade die Aushandlungsprozesse rund um Ehe und Familie signifikante Auswirkungen auf den Staatsbildungsprozess hatten.6 Die Grenze zwischen legitimer Reproduktion und illegitimer Sexualität, die die Eheschließung markierte, wurde im Gericht unter Mitwirken unterschiedlichster AkteurInnen gezogen. Diese Demarkationslinie war konstitutiv für das Verhältnis von Staat und Zivilgesellschaft.7 Die Taktiken der ehewilligen AkteurInnen, „die Findigkeit des Schwachen, Nutzen aus dem Starken zu ziehen“, sich also die Ehe anzueignen, führte in Anlehnung an de Certeau in der Konsequenz „zu einer Politisierung der Alltagspraktiken“.8 Denn ihre Heiratsbegehren konnten ebenso auf der Grundlage des ehegesetzlich und gewohnheitsrechtlich normierten Rahmens in Frage gestellt werden. Der eheliche Status war selbst eine zwischen unterschiedlichen AkteurInnen unter Einsatz verschiedener Mittel verhandelbare Ressource.9 Im praktischen Aushandlungsprozess der Eheschließung war die alltagspolitische Deutung des sozialen Zusammenlebens folglich nicht lediglich Attribut, sondern stand stets im Zentrum der Verhandlung. Gerichtsverfahren politisierten konkrete Eheschließungen und als deren Ausgangspunkt ‚Familie‘ sowie ‚Haushalt‘ zu theologischen, bevölkerungspolitischen und obrigkeitlichen Auseinandersetzungen zusätzlich. In den Verhandlungen wurde darüber diskutiert, wie die praktische Umsetzung dieser Konzepte aussehen sollte. Im Rückkehrschluss wurde die betriebene Ehepolitik im Gericht familiarisiert, weil sie von da aus wieder Eingang ins Leben der Eheleute und Familien fand.10
Dass das Feld der Eheschließung in diesem Prozess, der am Ausgang des Ancien Régimes in vollem Gange war, einen Ort besonders konzentrierter Interessensartikulation darstellte, an dem oftmals Vermittlung und Konfliktregulierung erforderlich waren, zeigen auch die hier untersuchten Quellen sehr deutlich. Somit erscheint das Ehegericht nicht nur als gesetzestreue obrigkeitliche Ordnungsinstanz und Instrument der Bevölkerungspolitik.11 Es bildete ebenso das Forum für Frauen und Männer, „ihre eigenen Vorstellungen vom ehelichen Leben zu artikulieren und eigene Rechte einzufordern.“12 Die Ehegerichte boten Menschen aus allen Schichten die Bühne, ihre ehelichen Vorstellungen in einem besonderen Rahmen zu artikulieren und die Eheschließung einzufordern oder zu verteidigen.13 So scheinen diese Gerichte historiographisch betrachtet ein prädestinierter Ort zu sein, an dem in den Worten Bruno Latours „den Akteuren […] die Fähigkeit zurückgegeben werden [kann], ihre eigenen Theorien darüber aufzustellen, woraus das Soziale besteht.“14 Dabei konnten die bestehenden matrimonialen Normen im Gericht taktisch angerufen, eingesetzt, verhandelt und kritisiert werden. AkteurInnen bildeten im Gericht unablässig und zum Teil auch neue „Assoziationen zwischen heterogenen Bestandteilen“.15 Im Hinblick auf materielle Interessen, soziale Erwägungen und emotionale Bedürfnisse steckten Heiratswillige, Haushalts- und Familienmitglieder, Nachbarn und lokale Autoritäten ungemein viel Energie in die quasi zivile Aushandlung ehelicher Verbindungen. Sie mobilisierten dazu alle verfügbaren materiellen und immateriellen Ressourcen und kombinierten sie miteinander. Dabei bestimmten stets die politisch konkrete Situation sowie die zeitlich bedingten Umstände mit, was im Gericht als Ressource eingesetzt werden konnte und als solche gehandelt wurde.16 Durch die taktischen Aneignungspraktiken, die unter diesem massiven Ressourceneinsatz stattfanden, manipulierten die Ehewilligen mit ihren kumulierten ‚mikropolitischen‘ Handlungen die Institution der Ehe laufend.17 Dadurch erfuhr diese bedeutungsvolle Institution im Aushandlungsprozess zwischen den Begehren der Obrigkeit, den Kirchendienern, den Gemeindevertretern, den Korporationen, den Familienangehörigen und den heiratswilligen Subjekten andauernd kleinste Verschiebungen oder auch fundamentale Veränderungen ihrer Form.18 Unter den Verhandlungen im Gericht erodierten Gesetze und es bildeten sich neue Strategien in der Urteilspraxis der Richter, die allmählich neue Normen formierten, mit denen die eigensinnigen Akteur-Innen wieder einen taktischen Umgang finden mussten.19
Damit befinden sich gerade die prekären Eheschließungen unversehens in der Mitte des gesellschaftlichen Wandels und frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozesses, dessen Kern eben aus der Organisation gemeinschaftlicher Ressourcen bestand.20 Durch den gewählten hermeneutischen Zugang sind die prekären Eheschließungen zwar an den Rändern der sozialen Ordnung, aber im Mittelpunkt von gesellschaftlichen Transformationen und des Staatsbildungsprozesses.
Die in Betracht gezogenen – letztendlich legitimierten oder verhinderten – Eheschließungen erscheinen in der gewählten Herangehensweise stets als Resultat des praktischen Aushandlungsprozesses innerhalb der Dreiecksbeziehung von eigensinnigen AkteurInnen, opponierenden Parteien aus der Umwelt der Ehewilligen und ehegerichtlichen Instanzen. Gleichwohl normierten die mit den AkteurInnen in zunehmendem Maß interagierenden Gerichte mit ihren Urteilen letztendlich deren Verhalten auf ultimative Weise.21 Dabei mussten die Berner Richter in der praktischen Normierung nicht nur zwischen Eigensinn, gesellschaftlichem Gewohnheitsrecht und kodifiziertem Ehegesetz abwägen. Sie standen, wie noch zu zeigen sein wird, in ihrem Umgang mit dem Gesetz selbst unter dem Einfluss zeitgenössischer bevölkerungspolitischer Debatten, die ab Mitte des 18. Jahrhunderts in Bern in angeregter Weise in einer entstehenden politischen Öffentlichkeit geführt wurden. Das Gericht bildete somit die Kontaktzone zwischen kodifiziertem Recht, aktuellen bevölkerungspolitischen Debatten, gesellschaftlichen Vorstellungen und den konkreten Lebensweisen der AkteurInnen. In genau dieser unter vielfältigem Einfluss stehenden Zone ermittelten die Richter in praxi ihre Urteile, die stets von einem Gerichtsschreiber beurkundet und ausgestellt wurden. Und so möchte die vorliegende Arbeit aufzeigen, dass, je nach bevölkerungspolitischer Konjunktur, das Gericht den Ehewilligen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich gute Gelegenheiten bot, um die prekären Eheschließungen durchzusetzen. Das Ehegericht fungierte als wesentliche Schnittstelle zwischen gesellschaftlichem und bevölkerungspolitischem Wandel und definierte darin letztlich die Chancen für den Erfolg prekärer Eheschließungen.22 Mit de Certeau kann man deshalb sagen, dass es sich bei der Praxis prekärer Eheschließungen immer „um Kämpfe oder Spiele zwischen dem Starken und dem Schwachen und um ‚Aktionen‘, die dem Schwachen noch möglich sind“, handelte.23 Das Gelingen prekärer Eheschließungen war somit in jeweils spezifischer Art und Weise abhängig von der taktischen Raffinesse der Ehewilligen, dem politischen Geschick der OpponentInnen, von der Geschlossen- oder Offenheit des gesetzlichen und bevölkerungspolitischen Rahmens sowie der Ausrichtung der richterlichen Normierungspraxis, also der Strategie.
4 Aufbau und Gliederung
Aus den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass hier der eheliche Aushandlungsprozess – im zwar nicht gleichschenkligen, aber wechselwirksamen Beziehungsdreieck – zwischen Ehewilligen, OpponentInnen und zuständiger ehegerichtlicher Instanz in Abhängigkeit von der Zeit analysiert werden soll. Ressourcen und Handlungsmacht in dieser Triade waren ungleich verteilt und der Aushandlungsprozess war gerahmt von zeitspezifischen bevölkerungspolitischen Debatten und relativ statischen ehegesetzlichen Bedingungen. Der normative Rahmen konnte die Distanz zwischen den Absichten der Obrigkeit und den Interessen lokaler Gemeinden, die sie jeweils mit der Ehe verbanden,