Vergiftete Zeit. Fahimeh Farsaie. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fahimeh Farsaie
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943941449
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Die Großmutter, die mit ihren weißen Haaren, ihren geschwollenen liebenswürdigen Augen und ihrer trockenen zerfurchten Haut, die ihre Backenknochen überzog, in seinen Träumen noch fidel und munter hin- und herlief und sein Herz mit Liebe, Zärtlichkeit und Sicherheit erfüllte, sagte immer zu ihm: »Merk dir, in was für einer Nacht du auf die Welt gekommen bist. In einer stürmischen weißen Nacht. Dies bedeutet, dass viele Höhen und Tiefen im Leben auf dich warten. Aber hör auf mich, du wirst letztendlich Glück und Segen finden.«

      Als sie ihn zum Verhör holten, war es fast sechs Uhr morgens. Dünner blauer Dunst schwebte unter der Decke an dem kleinen vergitterten Fenster. Weißes Licht fiel von einem Stück klaren, blassen Himmel durch das Fenster, und der Tag schritt sanft und frisch allmählich näher. Die ganze Nacht hatte sich Dr. Danesch am Boden hockend an die Betonwand der Zelle gelehnt, auf das Stück die Phantasie anregenden Himmel gestarrt und an die Prophezeiung seiner Großmutter gedacht. Im blassen Blau und Lila der Dämmerung dachte er an die harte, unerbittliche Zeit seiner Kindheit, die voller Not und Einsamkeit war. Als das schwarze, leuchtende Leder der Nacht zu glänzen begann, war er bei der finsteren Armut, dem klaren Ausdruck seiner Liebe zu den Menschen, angelangt, die sein ganzes Studentenleben in Aufruhr versetzt hatte. Das Dahinschwinden der stummen Schatten der Nacht und das zunehmende Heraufziehen der Morgenröte, zärtlich und sanft, erfüllten sein Herz mit einer reinen, leidenschaftlichen Liebe zu seinen Töchtern und allen Kindern und Jugendlichen der Welt. Als der Morgen, leicht und voller Anmut, am Himmel des Ostens schwebte und sich näherte, kam er zu dem Schluss, dass seine Großmutter recht hatte und er dieses turbulente Leben glücklich zu Ende bringen würde.

      Als er dann an der Seite eines Revolutionswächters, der ihn voller Abscheu mit zwei Fingern am Ärmel zog, mit geschlossenen Augen und mit einem Herzen voller Hoffnung durch die schmalen dunklen Gänge des Trakts zum Verhör geführt wurde, grüßte er deshalb jeden Wachposten, der das Tor aufmachte und ihn oberflächlich durchsuchte, und sagte mit einer klaren, heiteren Stimme, ohne dass man ihn gefragt hätte: »Ja! Es ist ein schöner Tag. Es ist wirklich ein schöner Tag, nicht wahr?«

      Aber niemand antwortete ihm, nicht weil man dachte, dass der Doktor sie auf den Arm genommen hatte, sondern weil man glaubte, dass er durchgedreht sei. Sie zuckten deshalb mit den Schultern, verzogen ihre Lippen und überließen ihn kopfschüttelnd dem nächsten Wachposten. Der einzige, der ihm antwortete, war sein Vernehmungsposten, der schläfrig und lustlos die Hand auf seine Schulter legte und ihn in den Stuhl niederdrückte. Spöttelnd und hämisch sagte er: »Es kommt darauf an. Ich hoffe, dass du noch dieser Meinung bist, wenn du diesen Raum verlässt.«

      Nicht nur beim Verlassen jenes Raumes, sondern bis zur letzten Sekunde seines Lebens, als man ihn umbrachte, änderte er seine Meinung nicht. Der Vernehmungsposten bedrohte und demütigte ihn, schlug ihm auf den Kopf, trat ihm in die Seiten, nahm seinen Hals zwischen seine knochigen und doch kräftigen Hände und drückte so lange, bis seine Lippen ganz lila anliefen. Aber der Doktor war nicht bereit, den Inhalt des Briefes zu widerrufen, den er verfasst hatte.

      Der Vernehmungsposten holte ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und wischte sich die Schweißperlen von Mund, Stirn und Hals ab. Dann zog er sich seinen amerikanischen Parka aus und legte ihn auf den zierlichen, zitternden Körper, der vor Schmerz und Kälte bebte, wischte ihm das blutende, blaugeschlagene, verletzte Gesicht mit dem Ärmel ab und sagte in einem mitfühlenden Ton wie ein Bruder. »Siehst du, was du dir antust!«

      Und dann sprach er von der Freiheit und der Außenwelt und den Freuden des Beisammenseins in der Familie.

      »Bruder, wie viele Kinder hast du?«

      »Zwei …«

      »Mädchen oder Jungen?«

      »Mädchen …«

      »Wie alt sind sie?«

      »Als man mich festnahm, waren sie sechzehn und achtzehn Jahre alt« Und während er noch unter dem amerikanischen Parka des Vernehmungspostens zitterte, der wie eine Rüstung auf seinem Körper lastete, dachte er an das letzte Bild von Maral und Neda, das seine ganzen Gedanken ausfüllte. Zaghaft und verängstigt betraten sie neben ihrer Mutter die erste Stufe der Treppe, die sie Augenblicke zuvor umzingelt von vier Revolutionswächtern hinabgestiegen waren. Ihre leichten, unsicheren Schritte auf dem Marmor konnte er noch hören. Maral kaute an dem Futter ihres baumwollenen Hausmantels, und Neda wickelte verwirrt und ratlos den Gürtel ihres Mantels ständig um ihre Finger und das Handgelenk.

      Als er an der großen grünen Haustür angelangt war, bedeckte seine Frau ihr Gesicht mit den Händen, als wollte sie, dass ihm als letztes Bild keines außerhalb der vier Wände der Familie, sondern eines aus der vertrauten Umgebung im Gedächtnis haften möge. Einer der Revolutionswächter schrie: »Bleibt da stehen. Ihr dürft nicht weiter!«

      Alle drei taten genau das Gegenteil Sie liefen alle plötzlich zusammen zur Tür. Marals Kopftuch rutschte weg und fiel ihr auf die Schultern. Neda stolperte, und ihre Hausschuhe fielen in eine Ecke. Mehri klammerte sich an dem Hals ihres Mannes fest, bevor sie vollends in tiefe Trauer und Verzweiflung stürzte. Im gleichen Augenblick fingen alle drei zu klagen und zu jammern an.

      »Oh Papa, mein lieber, lieber Papa!«

      »Mein Ahmad, Ahmad, mein lieber Ahmad!«

      »Wo gehst du denn hin, Papa. Wohin nehmen sie dich mit?«

      Die Revolutionswächter fielen mit Schlägen, Tritten und Kolbenhieben der G-3-Gewehre über die vier her. Ein Revolutionswächter klammerte seine freie linke Hand um Marals Hals und zog sie über den Boden schleifend weg. Die langen, porzellanfarbenen Hände Marals, die weiterhin in tödlichem Verlangen nach der Umarmung des Vaters bebten, waren noch auf den Doktor gerichtet. Ein dicker Revolutionswächter, der sein Gewehr an die Schulter gelehnt hatte und schnaufte, trennte Neda von den anderen, versetzte ihr eine Ohrfeige und warf sie auf die Treppe. Neda fiel auf den Rosenstrauch, dessen Knospen noch von Tau bedeckt waren. Und bevor sie ihre Hände und ihr Gesicht aus den scharfen, dornigen Stengeln befreien konnte, fing sie an, mit gedämpfter Stimme zu schreien. Es schien so, als würde sie sich Mühe geben, die Nachbarn nicht aufzuwecken.

      »Ihr Bastarde, Mörder, Diebe! Wo bringt ihr meinen Vater hin?« Mehri zog sich zurück, nicht weil sie sich vor einer Handgreiflichkeit mit den Revolutionswächtern scheute, sondern weil die mütterliche Liebe noch stärker als die schreckliche Sorge um das Schicksal ihres Mannes war. Als zwei Revolutionswächter sich unter den Armen des Doktors eingehakt hatten und ihn rückwärts aus der Tür zwangen, war Mehri schon bei den Mädchen und nahm sie, die vor Angst und Schmerz wie hilflose Küken zitterten, in den Arm. Sie sah deshalb auch nicht, wie der Doktor zusammengeknickt zwischen den Revolutionswächtern, die mit ganzer Kraft seine Hand nach hinten drehten, hinter der Tür verschwand. Sie hörte nur seine Stimme, die aus einem leid- und schmerzerfüllten Herzen zu kommen schien. Er sagte auf Deutsch: »Kopf hoch, Kinder! Seid stolz!«

      Alle drei stürzten zur Tür, als hätte man ihnen wieder einen Angriffsbefehl erteilt. Aber es war schon zu spät. Alle vier Türen des weinroten amerikanischen Buicks, der unter den ersten gelben Strahlen der Sonne glänzte, wurden mit einem schrecklichen Knall zugeschlagen. Das Auto bewegte sich leicht und glitt schnell und nahezu geräuschlos die schmale, kahle Straße bergab. Alle drei schauten sich verwirrt und ungläubig an. Mehri sagte: »Sie sind gegangen!« und schloss die Tür. In ihrer Stimme schwangen die gleiche Angst und Verzweiflung mit wie eine Stunde zuvor, als sie die Tür für die Revolutionswächter geöffnet und geschrien hatte: »Sie sind gekommen!«

      Es war 4:30 Uhr morgens, als sie geklingelt hatten. Maral war für einen Augenblick aufgestanden, hatte jedoch weiter in der gemütlichen Wärme der Decke und Matratze gedöst und schlaftrunken gemurmelt: »Es klingelt.« Bevor sie in die tiefe, dunkle Höhle des Schlafes zurückfiel, fragte sie sich: »Wie spät ist es denn? Ist es Tag oder Nacht? Wer klingelt denn so früh am Morgen an der Tür?« Sie hatte nur diese letzte Frage beantwortet: »Es ist bestimmt wieder Besuch aus Semnan da …« Obwohl ihr für einen Moment der Gedanke in den Sinn kam: »Weckt mich unbedingt, wenn es die Tante ist«, blieben ihre Lippen verschlossen, nicht weil sie sofort wieder einschlief, sondern weil sie sicher war, dass ihre Tante unverzüglich direkt zu ihr käme, falls sie sie besuchen würde.

      Neda