Vergiftete Zeit. Fahimeh Farsaie. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fahimeh Farsaie
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943941449
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lösen und dann ihre Arbeit abgeben konnte, bis ihre Mutter die Zimmertür öffnete, sie ein paarmal rief, ihre Schulter massierte, ihre Wangen küsste, mit der Fingerspitze ein paarmal ihre Nase kitzelte und ihr mehrmals ins Ohr flüsterte: »Steh auf Kind. Steh auf. Steh schon auf. Es ist schon zu spät. Es ist jetzt keine Zeit zum Schlafen.« Sie murmelte manchmal: »Ich beschwöre sie bei Gott, Herr Lehrer, nur noch ein paar Minuten, nur ein paar Minuten.«

      Der bärtige, hagere Revolutionswächter, der Dr. Danesch auf den ersten Blick bekannt vorkam, hatte keine Geduld mehr, diese Sanftmut und diese Ausdauer zu verfolgen. Er trat gegen das Bettgestell und schrie wild und nervös den unsinnigsten Satz, den er sagen konnte: »Steh schon auf, du dummer Affe! Liegt so rum, als wäre sie bei ihrer Tante!« Als Neda plötzlich aufwachte und vor dem Revolutionswächter mit dem G-3-Gewehr in der Hand stand, fühlte sie das gleiche Grausen und Bangen, das ihre Mutter Minuten zuvor in ihrem Herzen empfunden hatte, als sie die Tür aufmachte und dahinter niemanden sah. Die einzige, die von der Klingel geweckt wurde, war Mehri. Sie dachte auch wie Maral, dass Besuch aus Semnan gekommen sei. Sie nahm den Hörer der Sprechanlage und fragte schläfrig: »Wer ist da? Wer ist da ?« Eine sichere, aber ungeduldige Männerstimme antwortete: »Machen Sie auf!« Mehri wunderte sich nicht darüber, dass sie die Stimme nicht erkannte, denn trotz der Gewissheit, dass sie wach war, glaubte sie zu schlafwandeln. Mit halb geschlossenen Augen kehrte sie ins Schlafzimmer zurück.

      Als sie ihren Morgenrock anzog, fragte ihr Mann: »Wer war das?«

      Mehri flüsterte: »Ich weiß es nicht.«

      Der Doktor sagte: »Soll ich die Tür aufmachen?«

      Mehri antwortete: »Nein, du bist gerade ins Bett gekommen« und ging aus dem Zimmer. Als sie die Wendeltreppen hinunterging, hielt sie sich am Holzgeländer fest, damit sie nicht stürzte. Als sie aber das Erdgeschoß erreichte, stieß sie trotzdem an die große Gummipflanze, die auf der Fensterbank des Wohnzimmers stand, vor der sie jeden warnte, der daran vorbeilief: »Pass auf den Blumentopf auf!«

      Mehri erreichte endlich den Hof, der von einer angenehmen lauwarmen Luft, den roten, blauen und lila Farben der Dämmerung, einer leichten und klaren Stille und dem Duft der Blumen des Gartens erfüllt war. Von einem Himmel, der wie ein blauer Papierbogen in der Luft schwebte, fielen noch Tautropfen der Nacht. Verspielt schwang eine leichte Brise näher, wirbelte um den Rock ihres Morgenmantels, stieg ihr in den Schoß, leckte sie an Hals, Mund und Gesicht, schwankte und verschwand so sanft und leise, wie sie aufgekommen war, und verteilte sich im Duft der Blumen. Mehri füllte ihre Lungen mit der zarten, lauwarmen und duftenden Luft des Gartens und öffnete ihre Augen. Als sie die Türriegel zurückgeschoben hatte, war sie schon ganz wach und dachte daran, auf dem Rückweg einen großen Strauß taubedeckter Blumen zu pflücken und auf den Frühstückstisch zu stellen. Aber hinter der Tür war niemand. Verwundert schaute Mehri auf die Straße. Abgesehen von einem weinroten amerikanischen Buick, der ein Stückchen weiter vor der gelben Ziegelwand am Haus des Hadjis parkte, war die Straße die gleiche wie sonst auch. Die Schatten der kurzen Bäume am Straßenrand hatten auf der metallenen Karosserie des Buicks einen tiefgrünen Ton angenommen. Mehri atmete tief und sog gierig die dünne Luft ein, die vom leichten Duft der Blumen und vom herben Geruch der ersten sprießenden Knospen der Bäume erfüllt war, um die Welle des Zorns zu unterdrücken, die in ihrem Hals aufstieg. Sie sagte sich: »Was für ein zärtlicher, liebevoller Morgen!« Sie hatte noch nicht die Tür hinter sich geschlossen, als vier bewaffnete Revolutionswächter sie aus verschiedenen Ecken des Gartens und hinter den langen Zypressen- und Tannenbäumen hervorkommend umstellten. Mehri war völlig irritiert. Ihr Herz fing an, mit einem metallischen Klang zu pochen. Plötzlich brach ein turbulenter Strom in ihrem Kopf los. Aufgeschreckt schaute sie sich jeden einzelnen von ihnen an. Hinter ihnen zog die Nacht allmählich ihren grauen Schleier zurück. Kalter Schweiß bedeckte ihre Stirn und ihre Mundpartie. Es widerte sie an. Sie zitterte innerlich. Sie nahm den Kragen ihres Mantels in die Hände, presste ihn fest an sich und fragte mit einer Stimme, die tief aus ihrem Körper kam: »Wer sind Sie?«

      Um nicht hinzufallen, lehnte sie sich an das große Eisentor. Ein paar andere Revolutionswächter sprangen über die hohe Mauer und fielen wie Säcke mit Dünger auf den dichten, frischen Rasen des Gartens. Eine aufgeregte, raue Stimme fragte: »Wer ist noch zu Hause?«

      Es war sonst niemand zu Hause, außer ihrem Ehemann und ihren beiden Töchtern. Aber Mehri konnte nicht reden. Sobald sie den Mund aufmachte, zitterte ihr Kinn. Als sie mit dem Ärmel ihres Mantels den Speichel, der wie ein dünnes Rinnsal ihre Lippen hinunterrann, wegwischen wollte, trat ein Revolutionswächter vor, schlug ihr mit dem kurzen Lauf des G-3-Gewehrs gegen die Brust und stieß drohend hervor: »Na los, oder soll ich dich erledigen?«

      Plötzlich war das zornige Gebell der Hunde zu hören. Der eine Hund streckte sich mit den Vorderpfoten hoch, zog die Klinke der Glastür mit den Zähnen nach unten und öffnete die Tür, während er mit den Hinterpfoten hin- und hertrat. Der zweite Hund knurrte und streckte den Kopf aus dem Türspalt, und bevor er bellend den ganzen Hof wie ein Geschoß hinunter raste und sich mit seinem gesamten Gewicht auf den Revolutionswächter warf, drückte er mit seinem Körper die Tür ganz auf Mehri schrie in ihren Gedanken laut auf: Gabi, pass auf den Topf auf! Der zweite Hund hatte zu einem Sprung auf den Revolutionswächter angesetzt, der seine Waffe auf Mehri gerichtet hatte. Er packte ihn am Handgelenk und knurrte tief aus seinem Rachen heraus. Der Revolutionswächter sah die blutunterlaufenen Augen, die zitternden Lefzen und die scharfen Zähne des Hundes und ließ seine Waffe fallen. Die anderen Revolutionswächter kamen mit Schlägen, Tritten und Kolbenhieben der G-3-Gewehre ihren Freunden zu Hilfe. Das brutale Gebell der Hunde übertönte das zornige Gebrüll der Revolutionswächter. Ab und zu war ein schwacher Schrei zu hören, der in einem schmerzverzerrten Gestöhn endete: »Haltet eure Hunde zurück! Ruft sie zurück!«

      Aber die Hunde sprangen bellend auf und ab, bissen dem einen ins Ohr, zerkratzten den anderen im Gesicht und zerquetschten das Bein des dritten zwischen den Zähnen, während sie vor Schmerz von den Gewehrkolbenschlägen auf ihren Rücken laut aufheulten. Das rüde, grausame Gebell der Hunde verbreitete einen kalten Schauder in der Luft.

      Verschwitzt und verängstigt knirschten die Revolutionswächter in diesem sinnlosen Kampf mit den Zähnen, bissen sich vor Schmerz auf die Lippen, drehten sich um sich selbst, wiegten und schmiegten ihre Körper, um sich aus den Krallen jener lästigen, unerbittlichen Hunde zu befreien. Schließlich schrie einer von ihnen: »Pfeift diese verdammten Hunde zurück, sonst werde ich jedem von ihnen eine Kugel verpassen!«

      Als wache sie erst jetzt auf, schaute Mehri auf einen lärmenden Spatzenschwarm, der über die dünnen Äste der Trauerweide zwitschernd hin- und herflog, und rief streng: »Gabi, Lussi, kommt her, hierher, hierher …«

      Der Revolutionswächter wiegte bedauernd den Kopf und sagte: »Gerade in einem Alter, wo sie besonders den Vater brauchen!«

      Und er wartete so lange, bis sein rührender Ton tief in das Herz Dr. Daneschs eindrang. In Gedanken beschimpfte er die beiden, rief sich ihre letzten Bilder ins Gedächtnis zurück, die die Agenten des Regimes vor kurzem in Deutschland heimlich fotografiert und ihren Akten beigelegt hatten, und sagte sich: »Es sind ja nur zwei Dirnen, die gerade zum Hinrichten gut genug sind!«

      Dr. Danesch senkte seinen Kopf. Sein ganzer Körper brannte von den Stichen eines durchdringenden Schmerzes. Seine innere Kälte ließ ihn aber trotzdem schaudern; als fließe anstelle von Blut aufgetauter Hagel in seinen Adern. Schwarze Trauer erfüllte sein Herz. Er grinste aber verstohlen, nicht weil er von Grund auf gegen die Äußerungen des vernehmenden Revolutionswächters war, sondern weil er wusste, worauf dieser hinaus wollte. Er sagte sich: »Päpstlicher als der Papst!« Er hob den Kopf und sagte mild: »Ja Bruder, Sie haben recht. Seit fünf Jahren habe ich dies immer wieder gesagt. Aus welchem Grund haltet ihr mich hier fest? Ich …«

      Der Revolutionswächter reckte unruhig seinen Hals, unterbrach Dr. Danesch und sagte: »Reg dich nicht auf, Bruder. Ich habe dir ja gleich am ersten Tag gesagt, wir haben dich hergeholt, aber nur du allein kannst dafür sorgen, dass du wieder hier rauskommst. Stimmt’s? Nun, kommen wir zur Sache!«

      Später erzählte der Doktor einem Freund, dass er während der ganzen Vernehmung, als der Revolutionswächter von seinen Töchtern