Auf dem hinteren Sitz des Buicks sitzend durchlief der Revolutionswächter die Flure des Hauses von Dr. Danesch. Er holte ein großes kariertes Tuch aus der Tasche und wischte sich den Schweiß vom Hals und aus den Falten seines Doppelkinns. Der Operationschef, jener bärtige Revolutionswächter, fragte ihn: »Was ist denn Bruder? Bist du schon so aufgeregt? Mit Gottes Hilfe wird schon nichts passieren. Man macht nur Schnipp, und diese Spione machen sich in die Hose!» Und um sich und seiner Gruppe Mut zu machen, fing er an, schallend zu lachen.
Mehri, Maral und Neda waren in der Küche, als sich der Vorfall ereignete. Alle drei saßen am Tisch. Sie sagten weder ein Wort noch aßen sie etwas. Maral zählte die Kuchenkrümel, die auf dem Teller ihres Vaters liegengeblieben waren. Neda starrte auf den schwarzen, verbrannten Pfeifentabak im Aschenbecher. Mehri wiederholte auf Deutsch die beruhigenden Sätze, die sie im Joga-Lehrgang gelernt hatte: »Ich bin ganz ruhig. Gedanken kommen und gehen. Ich bin ganz ruhig …«
Das Haus war in bleiernem Schweigen versunken. Der Duft des aufgesetzten Tees und der vom Samowar aufsteigende blaue Dampf schwebten in der Luft. Das zarte, schwache Morgenlicht wurde von den beschlagenen Fensterscheiben reflektiert und erhellte die stumme, lauwarme Atmosphäre der Küche. In der blassen Farbe der Gesichter, der Unruhe der besorgten Blicke und selbst im tiefen, traurigen Schweigen der drei schmolz der Widerschein des Morgenlichtes wie ein Eiskristall. Jeder von ihnen sah mit eigenen Augen das grässliche Gespenst der Angst, das zitternd vor einer mysteriösen Unrast im Haus umherirrte. Aber keine von ihnen wollte sich dies anmerken lassen.
Plötzlich hallte in dieser von Angst erfüllten Stille der Schuss – laut und entsetzlich. Die Hunde fingen mit teuflischer Kraft und Leidenschaft ein wahnsinniges Bellen an und versuchten, sich in wilder Aufregung von der Leine loszureißen. Mehri schlug unwillkürlich die Hände zusammen, verschränkte sie ineinander, hob sie bis zu den Lippen hoch, um hinter ihnen ihren Schreckensschrei zu ersticken. Maral fühlte plötzlich, dass jener unheimliche Donner ihr Herz aufwühlte. Neda schrie verwirrt auf, und alle drei stürmten im gleichen Moment auf die Tür zu. Jede von ihnen dachte, dass nur sie allein vor Gram und Entsetzen schrie: »Papa! Papa! Ahmad!«
Mehri war die erste, die an der Treppe ankam. Hinter sich hörte sie das trockene und dumpfe Geräusch eines fallenden schweren Gegenstandes. In ihren Gedanken verwandelte es sich in das Geräusch des zerschellenden Gummibaums auf der Fensterbank. Zornig und wehmütig sagte sie sich: »Tausendmal habe ich euch gesagt, dass ihr auf diesen armen Blumentopf aufpassen sollt!« Sie wandte sich aber nicht um. Mit den Fingerspitzen ihren Morgenrock hochhaltend, um nicht zu stolpern, lief sie so lange hastig die Treppen hinauf, bis sie der Druck eines G-3-Gewehrlaufes auf ihren Brustkorb schmerzte.
Der Revolutionswächter brüllte plötzlich: »Wer hat euch erlaubt, aus der Küche rauszukommen? Geht zurück! Geht zurück!«
Erst dann wandte sich Mehri um und sah den langen, zarten Stamm des Gummibaums, der in der Mitte gebrochen war. Der Schein eines weißen Lichts flatterte in seinen großen, glänzenden und zartgrün gefärbten Blättern. Der starke Geruch der jungen Pflanze und der feuchten Erde verbreitete sich in der lauwarmen Luft des Hauses. Mehri starrte von da aus, wo sie stehengeblieben war, auf den zerbrochenen Stamm des Gummibaums mit seinem jungen, nur sehr schwach getönten Grün und auf die schwarze feuchte Erde, die den Boden bedeckte und im gelben Licht der aufgehenden Sonne glänzte. Sie biss sich auf die Lippen. Der Revolutionswächter schlug mit dem Kolben des G-3-Gewehrs in Mehris Rücken, stieß sie brutal hinunter und schrie: »Geh runter, Frau! Sei nicht so dickköpfig! Ich sage doch, du sollst runtergehen. Zack zack. Geh in die Küche zurück, auch ihr beide, wird’s bald! Los!«
Mehri fing plötzlich an zu weinen. Ungeachtet der Beschimpfungen des Revolutionswächters schlug sie die Hände zusammen und weinte über so viel Unbarmherzigkeit, Hass und Feindseligkeit. Während sie verwirrt die Treppe hinunterstieg, klagte sie wehmütig: »Oh, sieh, was mir widerfahren ist. Mein Blumentopf. Mein geliebter Gummibaum. Oh, Gott. Er ist zerbrochen. Er ist schließlich doch zerbrochen!« Sie kniete vor dem Haufen schwarzer Erde nieder, hob die zerbrochenen Topfscherben auf, fuhr mit den Fingern über die weißen, verschlungenen Wurzeln des Gummibaums und streute die Erde mit der Hand darauf.
Die Revolutionswächter waren völlig kopflos. Sie liefen mit entsicherten Pistolen sinnlos von einem Zimmer in das andere. Sie liefen in großen Schritten die Treppen hinauf und hinunter. Sie brüllten, knirschten vor Wut mit den Zähnen und warfen sich gegenseitig böse Blicke zu. Das ununterbrochene schreckliche Bellen der Hunde, das Wimmern Mehris, der trockene Widerhall der beschlagenen Stiefel und zorniges Gebrüll ließen das Haus erbeben. Der Kommandant, dem die Kugel das Herz durchbohrt zu haben schien, packte mit leichenblasser Miene den Dicken am Hals, steckte den Pistolenlauf in dessen weiches, fettiges Doppelkinn und zischte dumpf durch die Zähne. »Ich ficke deine Mutter … Du lahmarschiger Trottel, wenn du noch einmal so eine Dummheit machst, werde ich dich eigenhändig abknallen. Du Hurensohn!« Er stieß ihn ins Schlafzimmer und schloss die Tür hinter ihm zu. Erst dann fiel ihm ein, dass er seit jenem schrecklichen Schuss Dr. Danesch nicht gesehen hatte. Aufgeregt und verwirrt befahl er dem Revolutionswächter, der hastig die Treppen hinaufgestiegen war: »Geh runter! Bring diese verdammten Hunde und Frauen zum Schweigen! Wo steckt dieser Doktor?«
Dr. Danesch richtete sich gerade im Türrahmen von Nedas Zimmer auf, als er den Schuss hörte. Er war der einzige, der sofort begriff, was vorgefallen war. Aber als er aufstand, um in Marals Zimmer zu gehen, stellte er trotzdem fest, dass seine Knie schlotterten und seine Zähne vor innerer Kälte klapperten. Neda, die unruhig und traurig auf der Treppe hinter Maral stand und mit feuchten Augen dem Wimmern ihrer Mutter zuhörte, sah ihn für einen Augenblick, wie er mit eingefallenen Schultern und dunkelblauen Lippen in ihrer Tür erschien und wie ein Gespenst zwei Schritte weiter hinter Marals Zimmertür verschwand. Auf seiner breiten, hohen Stirn waren zwei dicke Adern – den Narben einer Wunde gleich – angeschwollen. In jenem Getöse des Geschreis, Schmerzes, Jammers und Gebells hob er stumm seine kalte Pfeife hoch und legte sie als Zeichen des Schweigens auf seine von Schmerz durchzuckte Nase. Vor Kummer hing sein Kopf etwas nach rechts. Neda verstand die Botschaft ihres Vaters und sagte mit einer Stimme, die niemand wahrnahm: »Papa ist nichts passiert, aber von nun an kann ihm alles passieren.« Neda wusste nicht, wie sie auf diesen Gedanken gekommen war. Sie war aber davon überzeugt, dass sie recht hatte. Als der Doktor die Tür leise hinter sich schloss, sah er das Wildtaubenmännchen auf der Fensterbank, wie es verängstigt mit den Flügeln schlug, sich um unsichtbare Kreise drehte und kurze, traurige und angstvolle Laute ausstieß. Der schreckliche Knall der Kugel hatte die kleine Wildtaube in Angst und Bangen versetzt. Der Umstand, dass die Eintracht und die Harmonie der Natur plötzlich mit jenem wahnsinnigen Schreckensknall zusammengebrochen waren, ließ ihr Herz wild schlagen. Als platze das Dröhnen jenes fremden Donners genau mitten in ihr sicheres Nest, zerstörte es den Einklang der Natur und erfüllte ihre kleine, friedliche Welt mit Zerstörung, Angst und Entsetzen. Die Welt konnte nicht mehr harmonisch sein. Diese aufgewühlte Natur war nicht mehr zuverlässig. Jener verheerende Donner hatte die Welt in Fieberwahn gestürzt. Das Wildtaubenmännchen lief in Erwartung seines Weibchens verschreckt und zitternd im Kreis und betete mit seinem kleinen, bebenden Kropf für die Heilung der Natur. Nur Augenblicke später, nachdem das Weibchen verwirrt und benommen endlich aus dem dichten, feinen Geflecht des Netzes herauskam und wegflog, sah der Doktor die beiden im milchfarbenen Morgenhimmel auf die Sonne zufliegen, die wie eine gelbe Orange am Horizont hing.
Dr. Danesch trat auf Spiegelscherben, Gipsbrocken, Drähte, Holzsplitter und Glasscherben, die auf dem Boden lagen, und ging ans Fenster. Er machte das aufgewühlte Nest der Wildtauben zurecht, das wie ein geflochtener Korb aussah. Mit ihren gewölbten Brüsten und langen Schnäbeln sahen die Wildtaubenjungen gelegentlich zum Himmel hinauf und piepsten traurig vor sich hin. Sie stießen sich mit ihren kurzen, grauen Flügeln an und wirbelten die Holzspäne des Nestes in die Luft, um tiefer im Nest zu versinken. Es waren vier Jungen, die an jenem lauwarmen, duftenden Frühlingsmorgen so schlaff und kraftlos zitterten, als hätten sie eine lange Winternacht hinter sich.