Vergiftete Zeit. Fahimeh Farsaie. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fahimeh Farsaie
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943941449
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hat oder nicht? Was wäre denn passiert, wenn du ihm geantwortet hättest?«

      Ihre Antwort entsprang einem Missverständnis. Sie hatte den Milchmann gemeint und er Dr. Sami.

      Plötzlich brach der Zorn, der Doktor Danesch innerlich aufwühlte, aus ihm heraus. Er schlug mit der Faust auf die Kühlerhaube des Autos. Mehr als von dem Schlag tat ihm die Hand von der Hitze des Metalls weh. Er schrie: »Nein! Das kann ich nicht über mich bringen!«

      Dann riss er die Tür des Autos so heftig und grob auf, dass sie wie eine Wiege noch eine Zeitlang hin- und herschaukelte. Er brummte noch einmal: »Nein! Ich bin bereit, zu sterben und dies nicht zu tun.«

      Während er startete, Gas gab und den Motor wieder ausschaltete, um erneut zu starten und Gas zu geben, fand er endlich den Grund, der es seinem Herzen ermöglicht hatte, sich die grauenvollen Worte seines Freundes anzuhören, ohne ein Wort herauszubringen. Als er merkte, dass das Auto angesprungen war, sagte er in normalem Ton: »Nein! Ich kann es nicht. Für mich ist ein Freund tausendmal wertvoller als eine Revolution.«

      Als Mehri die zitternden Hände, den bebenden Schnurrbart und die farblosen Lippen ihres Mannes wahrnahm, begriff sie plötzlich, dass ein Missverständnis vorlag. Aber sie zog es vor, still zu bleiben, nicht weil sie glaubte, dass der Milchmann nun schon längst sein Haus erreicht hatte, sondern weil sie darüber nachdachte und zu der Ansicht kam, dass sie dem Doktor aus Versehen eine Antwort gegeben hatte, die sie ihm auch dann gegeben hätte, wenn es nicht zu diesem Missverständnis gekommen wäre. Deshalb gab sie sich Mühe, ihren innerlichen Zorn nicht der Verwunderung weichen zu lassen.

      Es kam ihr so vor, als ob alles, was Dr. Sami ihnen gesagt hatte, ebenso unglaublich wie wahr war. Auf dem ganzen Weg sah sie ihn vor sich, wie er vor ihnen stand und frei von jeglichem Zweifel, von Unsicherheit und ohne die geringste Rührung und Leidenschaft gesagt hatte: »Nun hat uns diese Revolution so weit gebracht, dass wir die Gegner unserer Standpunkte genauso behandeln wie unsere Feinde, auch wenn es sich bei ihnen um unsere Freunde handelt. Wir müssen entweder die Position der Mörder einnehmen oder den Platz der Opfer. In dieser Revolution, deren erstes und letztes Ziel das blinde, brutale und schonungslose Töten bildet, erwartet uns kein besseres Schicksal. Ich weiß nicht, warum ich in diesen Tagen im Gesicht jedes Freundes, den ich mir anschaue, entweder meinen Mörder oder mein Opfer sehe. Es ist schrecklich, nicht wahr? Was ich gesagt habe, ist aber doch die Wahrheit …«

      Als Mehri vier Jahre später mit jener zur Wirklichkeit gewordenen Erinnerung die Treppen in Dr. Samis Haus hinaufstieg, dachte sie mit Trauer daran, dass das Leben ungeachtet ihres Schicksals in seiner ganzen Unbarmherzigkeit weiterlief, während sie jede Erniedrigung und Entwürdigung auf sich nahm, um nur ein Lebenszeichen von ihrem Mann zu finden. Dieser Gedanke stürzte sie in eine so tiefe Wut und Demütigung, dass Tränen aus ihren Augen quollen. Frau Sami nahm dieses stumme Weinen als Tränen der Freude über eine abgebrochene, wiedergefundene Freundschaftsbeziehung.

      Deshalb glaubte sie, eine günstige Gelegenheit gefunden zu haben, um die ganzen Klagen und Beschwerden auszuschütten, die vier Jahre lang auf ihrem Herzen gelastet hatten. Sie vergaß gänzlich, ihrer Verwunderung darüber Ausdruck zu verleihen, dass Mehri sie so früh am Morgen aufgesucht hatte.

      Zufrieden vom süßen Gefühl der Erleichterung von der Last ihres inneren Unfriedens, den sie nun endlich laut kundtun konnte, sank sie tief in ihren Sessel und ließ Mehri von dem Leid berichten, das ihr und ihrer Familie widerfahren war. Obwohl sie das alles bis ins letzte leidvolle Detail kannte, tat sie so, als würde sie es zum ersten Mal hören. Als Mehri den Zweck ihres unzeitigen, aber verspäteten Besuchs darlegte, sagte sie ruhig: »Liebe Freundin, hoffentlich wirst du nicht uns die Schuld für das geben wollen, was deinem Mann widerfahren ist. Es gibt ja bekanntlich das Sprichwort: Wer Honigmelonen isst, muss auch das Zittern in Kauf nehmen‹!«

      Mehri zügelte ihre Phantasie, um nicht das Mörder-Opfer-Bild, von dem Dr. Sami gesprochen hatte, im Gesicht ihrer Freundin zu sehen. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich nicht so elend gefühlt. Im gleichen Moment begriff sie, dass sie vergeblich versuchte, zwischen dem Scheitern ihrer Bemühungen und dem Zusammenbruch ihres Stolzes eine Distanz herzustellen. Sie nahm einen Ausdruck an, als säße sie ohne jede Erinnerung da, und sagte verständnisvoll: »Meine Freundin, du hast recht. Ich bin aber nicht gekommen, um über Honigmelonen und Zittern zu diskutieren. Ich möchte nur wissen, ob du oder der Doktor weiß, wo die Leute, die das Zittern der Honigmelonen in Kauf genommen haben, inhaftiert sind? Wo kann man sie besuchen?«

      Frau Sami stand auf. Sie ging zu Mehri und sagte in einem traurigen, aber entschlossenen Ton: »Nein! Den Grund weißt du selber besser! Oder hast du gar vergessen, dass die Revolution, die dein Mann bis zu den letzten Minuten seiner Freiheit in ihrer Gesamtheit verteidigte, ihn verhaften und verschwinden ließ? Wir haben ja schon lange erklärt, dass wir es tausendmal bereuen, die Revolution durchgeführt zu haben! Ihr wart es doch, ihr, die die Verantwortung für Recht und Gerechtigkeit in dieser Revolution übernommen haben! Warum wollt ihr nun nicht akzeptieren, dass ihr nach dem gleichen Recht und derselben Gerechtigkeit zur Vernichtung verurteilt seid, meine liebe Freundin?«

      Mehri fühlte das gleiche Stechen in ihrem Herzen wie damals, als sie mit ihrem Mann diskutierte und ihn mit den gleichen Argumenten nicht überzeugen konnte. Sie überließ sich ihrem Zorn und ihrer Verzweiflung. Aber sie konnte auch nach langem Suchen in den verlassenen Winkeln ihres Herzens nichts finden, um ihre Freundin zu verurteilen, nicht weil sie die Wahrheit gesagt hatte, sondern weil sie sie unbarmherzig ausgesprochen hatte. Entschlossen stand sie auf und von der milden, zarten Brise jenes Frühlingmorgens zitternd, brach sie auf. Während sie daran dachte, dass sie jene endlosen Tadel ergrauen lassen würden, sagte sie: »Weißt du, liebe Freundin! Ich kann nur sagen, ›Scheiß auf diese Revolution!‹«

      Einen Monat bevor Dr. Danesch ermordet wurde, lud man ihn wiederholt zu einem Verhör vor, damit er den Inhalt des Briefes widerrufe, den er vor etwa einem Jahr verfasst hatte. Vom ersten Momentan, in dem er diesen formal an Ayatollah Montazeri, aber in Wirklichkeit an die Öffentlichkeit gerichteten Brief aufgesetzt hatte, erwartete er diesen Augenblick. Er hatte sogar mehrmals davon geträumt. Er war immer nur mit größter Mühe und mit bleiernem Kopf und vor Schmerz zerschmettertem Körper von jenem lähmenden Alptraum losgekommen. Außer an die riesige, dichtverzweigte Platane, die immer ihren Schatten auf seine Kindheitserinnerungen warf, wollte er sich an nichts anderes aus jenem grässlichen Traum erinnern: nicht an die Folter, nicht an das Blut, nicht an das Grauen und nicht an den Sandsturm, der immer unvermittelt losbrach, ihn und die Platane blitzartig mitriss und in die finstere Tiefe des Tages warf, der mit grellem Sonnenschein begonnen hatte und durch den schwarzen Sturm in einem Wirbel aus Sand, Staub und Dorngesträuch verschwunden war. Monate später, als er zur Bezwingung des schrecklichen Schicksals, zu dem ihn jener unheilvolle Alptraum ausersehen hatte, beschlossen hatte, nicht mehr zu schlafen, stellte diese Platane das letzte Bild dar, das ihm von jenem Alptraum im Sinn blieb. Alle seine langen, traurigen, schlaflosen Nächte verbrachte er unter dem Schatten oder auf den dicken, dicht belaubten Zweigen jener einsamen Welt seiner Kindheit, bis er wieder in seiner Zelle landete.

      In seinen Erinnerungen sah er sich als Fünf- oder Sechsjährigen, hager und blass, mit den dunklen, anziehenden Augen seiner Mutter und der Hautfarbe sowie der Mundpartie seines Vaters. Er war der älteste Sohn einer verarmten aristokratischen Familie, der vom Glanz früherer Jahre nur der fast vergessene Name und ihr Stolz geblieben waren. In einer verlassenen, mit Baumwollpflanzungen übersäten Ecke des Landes, die von drei Seiten von der Einöde einer dürren, glühenden Wüste umgeben war, kam er mitten in einer Winternacht mit demselben Leid und Schmerz auf die Welt, mit denen er sie 58 Jahre später verließ. Als die Wehen der vierzehnjährigen werdenden Mutter einsetzten, wütetet Orkan und der Schneesturm so heftig, dass niemand, nicht einmal ihrathletischer Mann, Anstalten machte, die alte Hebamme aus der Stadt zu holen, nicht weil sie sich geweigert hätte mitzukommen, sondern weil sie überhaupt nicht sicher waren, ob sie selbst ankommen würden. Deshalb übernahmen die jungen Tanten die Aufgabe der Geburtshilfe und bereiteten mit derselben Genauigkeit, Pedanterie und dem gleichen Ehrgeiz die Geburt des Babys vor, mit denen sie ein Leben lang beim Spitzenhäkeln mit übereinandergeschlagenen Beinen ans Werk gingen. Wenn ihre Großmutter, die in ihrem Stolz, die Amme einer Kadjaren-Prinzessin gewesen zu sein, ihren Kopf hoch erhoben hielt, durch