Fahimeh Farsaie
Vergiftete Zeit
Aus dem Farsi von
Kaweh Parand
Roman
Der Roman erschien 1991 im dipa Verlag, Frankfurt.
ISBN 978-3-943941-44-9
© Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2013
Umschlag unter Verwendung eines Bildes von Bella Rosa C.N.
… aber gewiss für die liebe S., da sie nicht wollte, dass dieses Buch rechtzeitig fertig wurde, was dann auch geschah
Alle Personen dieses Romans sind wirklich, wenn
auch ihre Handlungen, ihre Gedanken sowie ihre
Empfindungen das Werk der Autorin sind.
Inhalt
Im Grunde wussten alle, dass Dr. Danesch getötet würde. Die einzige, die von der bevorstehenden Katastrophe nichts ahnte, war seine Tochter Maral. Und dies nicht, weil sie sich nicht sonderlich für ihren Vater und sein Schicksal interessierte, sondern weil die anderen sich viel zu viele Gedanken um sie und ihre Zukunft machten. Sie hielten sie deshalb mit allerlei Lügen in absoluter Ahnungslosigkeit und ließen sie sich den Kopf mit den Längs- und Quermaßen des Dick- und Dünndarms, der Form des Hammerknochens im Mittelohr oder der Anzahl der Membranzonen einer Nervenfaser vollstopfen und sich auf ihr Physikum vorbereiten. Maral war so sehr in »Magengeschwülste« vertieft, dass sie das Flüstern in ihrer Umgebung, das sich bei ihrem Auftauchen sofort in flüchtiges und vorgetäuschtes Lächeln verwandelte, nicht wahrnahm. Selbst das bange Gefühl und die Sorge, die sich wie ein vergrößertes Bild in den schwarzen Augen ihrer Tante Jasmin spiegelten, sah sie nicht. Vielleicht auch deswegen, weil Jasmin neuerdings ihre Frisur verändert hatte. Sie kämmte ihre schwarzen, glatten Haare nicht mehr mit Hilfe von Widdern, Haargel oder Sprays hoch, sondern ließ sie sanft und frei in ihr Gesicht fallen. So konnte sie die Trauer und den Kummer, die ihrem Gesicht einen verwirrten Ausdruck verliehen, besser verheimlichen. Als Maral eines Tages über das verzweigte Netz des Nervensystems der Haarwurzel nachdachte, fiel ihr plötzlich der weinrote Glanz auf, der über die dichten, weichen Haare ihrer Tante fiel. Jasmin hatte sich unter dem gelben Licht des Flurs gebückt, um die Schnürsenkel ihres Sohnes zu binden. Der Sohn hielt keine Sekunde still und suchte beständig nach einer Gelegenheit, seiner Mutter zu entwischen. Maral hatte sich an den Türrahmen gelehnt und in einem arglosen Ton gefragt: »Liebe Tante, färbst du deine Haare?«
Während Jasmin an den Schnürsenkeln hantierte und murmelnd auf ihren Sohn schimpfte, sagte sie mit dumpfer Stimme: »Nein Liebes, ich habe Henna darauf getan …«
Als sie ihren Kopf hob, kam sie Maral in ihrem schwarzen, an den Schultern mit Schaumstoff gepolsterten Mantel noch kleiner vor. Maral sah sogar den Glanz einer Träne, die ihre schwarzen Augen trübte, fragte sie aber nicht nach dem Grund, um zu verhindern, dass ihre Tante völlig die Fassung verlor. Als sie später erfuhr, dass Jasmin sich an jenem Tag nach einem zweiwöchigen inneren Kampf darauf vorbereitet hatte, sie über den bevorstehenden Mord an ihrem Vater in Kenntnis zu setzen, verfluchte sie sich tausendmal, dass sie in jenem Augenblick nicht vom kristallklaren Glanz der Träne im Gesicht ihrer Tante, sondern vom weinroten Schimmer ihrer hennagefärbten Haare verzaubert worden war. Jasmin flehte zu Gott, Maral möge ihr die Verwirrung und den Gram nicht anmerken, denn sie hatte mit einem Schlag ihren ganzen Mut verloren, Maral die Wahrheit zu erzählen.
Ihre Abschiedszeremonie dauerte an jenem Tag im Gegensatz zu sonst nicht sehr lange. Denn sobald Jasmin fühlte, dass Maral sie nun nach dem Iran und der Situation dort fragen würde, hob sie ihre Hand und schlug ihren Sohn, der nun ausnahmsweise still stand und mit seinen Jackenknöpfen spielte, hart ins Gesicht und schrie: »Halt doch still, Kind! Musst du mich immer ärgern?« Dann nahm sie ihn unter den Arm und verschwand in der Dunkelheit des Flurs. Danach wollte sie kein Wort mehr davon hören, dass sie verpflichtet sei, Maral von diesem unheilvollen Ereignis in Kenntnis zu setzen. Verzweifelt starrte sie auf die rosafarbenen Ohrläppchen ihres Sohnes, die von Flaum bedeckt waren, und sagte sich: »Nein! … Das kann ich nicht mehr über mich bringen.«
Die anderen meinten, es sei sehr ungerecht, dass alle über die Hinrichtung von Dr. Danesch Bescheid wussten außer seiner Tochter. Selbst der dreizehnjährige Sohn Jasmins, Siamak, war dieser Meinung, obwohl niemand ihn danach fragte. Auch wenn er nur an sein Aussehen dachte und jeden Tag drei Hemden verschiedener Größen und Modelle so anzog, dass jedes etwa zehn Zentimeter unter dem anderen hervor sah, lief er eines Tages direkt nach dem Aufstehen in die Küche, wo seine Mutter über den kochenden Milchtopf gebeugt stand. Er erzählte ihr, dass er gerade von Maral geträumt hatte, wie sie in einer endlosen roten Sandwüste hinter einem überproportional großen braunen, hässlichen Holztor, das niemand aufzumachen wagte, stand und mit ganzer Kraft unaufhörlich an es klopfte …
Außer an den weitentfernten Lärm und das beständige Klopfen, die roten Sandkörner jener endlosen Wüste und jenes hässliche braune Tor, das ohne Kabinen und Riegel mitten in jener roten Einöde stand, konnte er sich an nichts anderes erinnern.
Obwohl Siamak im Traum gar nicht anwesend war, hatte er geschrien: »Maral! Maral! Klopf doch nicht dauernd an das Tor! Komm einen Schritt weiter rüber, und schon gibt es kein Tor mehr!«
Obwohl Siamak sicher war, dass er im Schlaf keinen einzigen Ton herausgebracht hatte, hatte er sich mehr als Maral vor dem schrecklichen Widerhall seines Schreies erschreckt, war plötzlich aufgewacht und hatte festgestellt, dass sein Hemd ganz von Schweiß durchnässt war.
Um das Zittern ihrer Hände zu verheimlichen, fing Jasmin an, ohne Grund die Milch zu rühren. Während sie allmählich im eintönigen und kreisenden Geräusch des Rührens im Milchtopf sowie im dünnen Dunst und Geruch der Milch versank, fuhr sie ihren Sohn an, der noch wartete: »Geh schon! Geh schon! Wahrscheinlich hast du gestern Abend wieder zu viel gegessen. Zieh dich an, sonst kommst du zu spät in die Schule! Außerdem brauchst du den Unsinn nicht Maral zu erzählen.«
Als Jasmin eine halbe Stunde später die abgekühlten Milchgläser auf den Tisch stellte, war sie von Gewissensbissen völlig niedergedrückt. Obwohl es an jenem Tag kalt war und regnete, glaubte sie vor lauter Hitze zugrundezugehen. Sie schwitzte so sehr und der Atem stockte ihr so oft, als ob ein Ofen in ihrer Brust glühte. Als Maral sie später fragte, warum die Tante sie nicht früher vom Tod ihres Vaters informiert habe, antwortete sie: »Die ganze Zeit habe ich in jener dürren, glühenden Wüste nach einem guten Omen gesucht!«
Nach jenem Morgen rief sie aber trotzdem mehrmals am Tag zu unterschiedlichen Uhrzeiten Maral an, zerrte sie aus tiefem Schlaf oder holte sie aus ihrem Schwanken zwischen »Lethargie« und »Hyperaktivität« heraus, fragte sie nach ihrem Wohlbefinden und ihren Prüfungen und flehte sie an, weniger Kaffee zu trinken und ab und zu spazieren oder ins Kino zu gehen. Wenn sie nichts mehr zu erzählen oder zu fragen hatte, musste sie ungewollt husten, räusperte sich oder stöhnte laut auf. Vor dem Abschied lastete immer eine schwere Stille auf ihren sinnlosen, sich wiederholenden Gesprächen, die keine der beiden so leicht zu durchbrechen vermochte. Es war einmal mitten in solch einer quälenden Stille, als die Vorahnung einer Katastrophe Marals Herz wie Funken durchzuckte. Anfangs wurde sie von solch ungeheuren Vorstellungen überwältigt, dass sie ihre Fassung völlig verlor. Der Schrecken verschlug ihr die Sprache. Obwohl ihr Kopf von einer Flut von Fragen erfüllt war, blieb sie weiter stumm. Als Jasmin nach ihrem letzten Husten sagte: »Also dann bis später, tschüs«, versuchte sie noch zu antworten. Die unverständlichen Laute, die aus ihrem Rachen herausquollen, versetzten sie selbst in tiefe