Vergiftete Zeit. Fahimeh Farsaie. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fahimeh Farsaie
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943941449
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Unrecht konnte nur einem von Hass und Feindseligkeit erfüllten Herzen entspringen und nicht einem schmerz- und leiderfüllten. Als Grund für die Absage der Gedächtnisveranstaltung wurden in dem Schreiben »der unermessliche seelische Kummer der Familie, der unter den jetzigen Umständen die Durchführung jeder anderen Veranstaltung unmöglich macht«, angeführt. Ein Bekannter, der versuchte, sein Mitgefühl zum Ausdruck zu bringen, sagte später zu Frau Sami: »Es war das Recht des Doktors, als Märtyrer geehrt zu werden. Wir hätten nicht zulassen dürfen, dass man ihm dies vorenthält!«

      Frau Sami, die es nach Monaten noch nicht geschafft hatte, das blutige, hirnlose Bild ihres Mannes an den Tagen, als er um einen einzigen Tropfen Leben mit dem Tod rang, aus ihren Gedanken zu vertreiben, rieb vor Kopfschmerzen ihre Schläfen mit den Fingern und antwortete: »Oh, was soll das schon wieder … Sie haben ihm selbst das Recht zum Leben versagt – geschweige denn alles andere.« Frau Sami hatte recht. Obwohl dieser Bekannte später ihre Worte hier und da so wiedergab, dass alle dies als Verwirrung infolge einer starken, aber verlorenen Gattenliebe auslegten, hatte sie dennoch recht.

      Das Herz Dr. Samis schlug noch, wenn auch sehr schwach, in seiner Brust, als die Regierung ihre kaum verdeckte Feindseligkeit gegenüber dem Doktor durch gezielte Verbreitung von Gerüchten vor den Augen der Bevölkerung in eine offen freundschaftliche und einträchtige Beziehung umzuwandeln versuchte. Plötzlich entdeckten Sekretärinnen hochrangiger staatlicher Persönlichkeiten in den Terminkalendern ihrer Vorgesetzten Notizen über die Treffen, die sie mit Dr. Sann gehabt haben wollten. Diese Treffen sollten alle in einer sehr kameradschaftlichen und verständnisvollen Atmosphäre stattgefunden und immer zu sehr fruchtbaren und erfolgreichen Ergebnissen geführt haben. Denn Dr. Sami sollte immer bereit gewesen sein, mit seinen konstruktiven und wohlwollenden Vorschlägen und Empfehlungen der Regierung, der Bevölkerung und seiner Heimat zu dienen. Manche sagten sogar, dass seit der Destabilisierung der Position des Regierungschefs in den nichtreligiösen politischen Kreisen Teherans von Dr. Sami öfters als künftigem Ministerpräsidenten gesprochen worden sei. Als der Innenminister offiziell erklärte, dass Dr. Sami in den letzten Monaten eine »sehr enge, umfangreiche Zusammenarbeit mit der Regierung« gehabt habe, erreichten Frau Samis Kopfschmerzen, die in jenem Augenblick zum ersten Mal in ihrem Leben begonnen hatten, als sie sich schreiend und hastig an den Wänden jener kalten, gekachelten Toilette hochriss, ihren Höhepunkt. Während sie ihren bleischweren Kopf in die Hände nahm und in einem Zimmer auf- und abging, dessen Wände genau wie die Fenster von dicken blauen Vorhängen bedeckt waren, entrüstete sie sich mit wachsender Empörung: »Die Unverschämtheit hat doch wohl auch ihre Grenzen!«

      Als Frau Sami zu dem Schluss gelangte, dass die Regierung, um das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen, sich selbst vor der Missachtung der Ehre und Würde der Toten nicht genierte, war schon der Winter hereingebrochen. Sie hatte schon so viele Tränen vergossen und so viel unter den unerträglichen Kopfschmerzen gelitten, dass sie alles doppelt und verschwommen sah. Deshalb sah sie auch ihre Schwäche und Ohnmacht vor dem Elend, das sie doppelt so vernichtend empfand, unklar und verschwommen. Obwohl es ihr nicht gleichgültig sein durfte, dass so viele hoffnungsvolle Augen auf ihre Tür gerichtet waren, kam ihr jedes Unternehmen absurd und sinnlos vor. Deshalb wandte sie sich um, als ihr ein Mitglied von »DJAMA« das Manuskript eines Flugblattes vorlegte, und ging ans Fenster, ohne einen Blick darauf zu werfen. Die verschwommene Erinnerung an diesen Tag lag im Schein des quälenden weißen Lichts vom ersten schweren Schnee in diesem ersten Winter ohne ihren Mann vor ihr. Der Mann las vor: »Die Erklärung des Innenministers, Mohtaschami, über die Zusammenarbeit von Dr. Sami mit der Regierung in den letzten Monaten ist reine Lüge.« Während Frau Sami sich dachte: »Oh, es hat sechzig Zentimeter geschneit. Selbst die Natur ist verrückt geworden«, löste sie eilig das Kopftuch, um sich des erstickenden Gefühls zu entledigen, das ihren Hals würgte. Der Mann las weiter: »Außerdem wurde Dr. Sami ins Monat Aban (Oktober) im Revolutionsgerichtshof vorgeladen und mit geschlossenen Augen einem Verhör unterzogen.« Während Frau Sami plötzlich zitterte und es ihr schien, als würde der Strom in diesen Tagen länger abgeschaltet, drückte sie mit den Handflächen gegen ihre Schläfen, um deren unaufhörliches Pochen etwas zu beruhigen, und schloss ihre auf die schmale Straße gerichteten Augen, die unter dem verdeckten Himmel in einem Leichentuch aus Schnee ruhte. Der Mann fuhr fort: »… und am Montag, dem 18. Mehr 1367, als Dr. Sami von der religiösen Veranstaltung zum 28. Safar, die im Gebäude der Nehzat-e-Azadi (»Freiheitsbewegung«) stattfand, nach Hause fuhr, wurde er von Personen in einem Auto mit staatlichem Kennzeichen verfolgt und, während er hinter einer Ampel am Haft Tir Platz angehalten hatte, brutal von diesen angegriffen und schwerverletzt. Er konnte nur mit Hilfe der Bevölkerung aus den Händen der staatlichen Angreifer befreit werden.« Während es Frau Sami vom salzigen Geschmack des Blutes, der sich vom Biss in die Lippen in ihrem Mund ausbreitete, übel wurde und sie nicht mehr bereit war, sich noch einmal in den Strudel jener unheilvollen Erinnerungen zu begeben, schrie sie plötzlich: »Ihr habt dann alle davon gewusst und ihn trotzdem alleingelassen? Ihr Heuchler! Verschwindet! Verlasst mein Haus!«

      Nachdem Mehri von den mysteriösen Umständen dieses Mordes erfahren hatte, dessen Akte ohne die Klärung der rätselhaften Einzelheiten seitens der Regierung für abgeschlossen erklärt und aufgrund des Selbstmords des Täters und des Versiegens dieser wichtigen Informationsquelle in den spinnennetzumwobenen Regalen des Justizministeriums abgelegt wurde, überwältigte sie eine so tiefe Trauer und Verzweiflung, dass sie es nicht einmal wagte, Frau Sami ein Beileidstelegramm zu schicken. Sie schaffte es nicht, nicht nur weil alle Beziehungen Frau Samis von den Sicherheitsorganen des Regimes strengstens kontrolliert wurden und jede Kontaktaufnahme mit ihr die Lage Dr. Daneschs gefährden konnte. Nein, auch deshalb nicht, weil sie keine Worte fand, um ihren starken Empfindungen Ausdruck zu verleihen. Sie fühlte, dass jeder Versuch, Frau Sami ihr Mitgefühl mitzuteilen, eigentlich überflüssig war. Zu ihren Freundinnen sagte sie: »Was kann ich machen? Dieser Schmerz ist so groß, dass man sie überhaupt nicht trösten kann!«

      Aber manche, die Politik mit Klatsch und Tratsch verwechselten, zweifelten an ihren Worten. Während sie in Klatschbasenmanier ihre Augenbrauen hoben und ihre Lider langsam und vieldeutig senkten, ließen sie absichtlich Mehris Wohlwollen außer Acht und riefen ihr die letzte frostige Begegnung mit Frau Sami in Erinnerung. Nun konnte sich Mehri über jede Kränkung und Beleidigung hinweg an jenen Tag erinnern. Sie sah Frau Sami, die unruhig auf dem Sofa am Fenster saß und ihr zuhörte. Sie war bei ihrer sinnlosen Suche nach dem Aufenthaltsort Dr. Daneschs, die sie drei Monate zuvor angetreten hatte, dorthin gelangt. Als sie die Türklingel drückte, die sie seit vier Jahren nicht betätigt hatte, waren nur die Lampen des einzigen Milchgeschäfts in der Straße erleuchtet. Sie wollte nicht, dass irgendjemand sie in das Haus eintreten sah. Seit die Revolution die beiden Freunde entzweit hatte, waren ihre Beziehungen abgebrochen. Aber sie wussten einerseits aufgrund der Zuneigung, die sie seit ihrer Kindheit in einer versteckten Ecke ihrer Herzen füreinander bewahrt hatten, und andererseits aus Neugier über ihr jeweiliges Schicksal Bescheid, das ihr Alltagsleben in einen endlosen Kampf um den Beweis der Richtigkeit ihrer Standpunkte verwandelt hatte. Während sie nach dem Klingeln ihren rechten Arm noch hochhielt, erinnerte sie sich an die Glut des Zornes, die beim Heraustreten aus jener Tür in ihren Wangen entbrannt war.

      Dr. Danesch ging mit den Händen in der Tasche pfeifend vor ihr im Schatten eines riesigen Mandelbaumes, der seine Blütenpracht zur Schau stellte, auf und ab. Er versuchte, sich ruhig und sorglos zu zeigen. Aber je weiter er sich von jener Tür entfernte, um so schwerfälliger und trauriger wirkte er. Als er dann endgültig das Pfeifen vergaß, nahm er die Hände aus den Taschen und löste gereizt und nervös seinen Krawattenknoten. Sie standen schon vor dem Milchgeschäft. Sein Besitzer war gerade dabei, sich über seinem runden, dicklichen, müden Schatten aufzuraffen, um den Rollladen herunterzuziehen. Der Milchmann hatte sich gerade wie eine Feder über seinen Schatten gebeugt, als er Dr. Danesch sah und ihm mit seinen verschlafenen Augen zublinzelte. Dr. Danesch begriff seine Geste nicht sofort. Und dies nicht, weil der flüchtige Blick des Mannes, der vor lauter Schlaf dem Blick eines Wahnsinnigen ähnlich war, ihn für einen Moment erschaudern ließ, sondern weil er in der Finsternis seiner Verwirrung und Verzweiflung unter der Sonne jenes Frühlingsmittags nach einem erlösenden Lichtstrahl suchte. Deshalb blieb er plötzlich stehen, drehte sich um und fragte Mehri: »Glaubst du, dass er mich gemeint hat?«

      Mehri, die sich vor Wut am Rande der Hilflosigkeit