Vergiftete Zeit. Fahimeh Farsaie. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fahimeh Farsaie
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943941449
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ihn in die Hoden treten könnte, hätte sie die Gelegenheit, zu ihrem Arbeitstisch zu laufen, den Stiftebehälter aus Marmor zu nehmen und gegen seinen Kopf zu werfen. Vielleicht würde sie seinen Schädel treffen! Wenn der Mann sich vor Schmerz noch auf dem Boden wälzte, hätte sie das Briefmesser aus der Schublade holen und, bevor der Mann zu sich käme, schnell zu ihm laufen und das Messer immer wieder in seine Halsschlagader stechen und herausziehen können … hineinstechen und herausziehen … hineinstechen und …

      Aber in jenem Augenblick tat sie nichts von alledem. Als sie später ihren Freunden jenes ungeheure, blutige Ereignis erzählte, hatte sie schon aufgehört, sich selbst Vorwürfe zu machen. Sie hatte oft von dem Racheakt geträumt, dessen Heldin sie selbst war, und war dann immer mehr von der Sinnlosigkeit dieser rachsüchtigen Anstrengung überzeugt. Sie sagte: »Alles wäre sinnlos gewesen. Der Doktor wäre ja doch nicht wieder lebendig geworden!«

      Während sie dumpf, benommen und aufgeschreckt betete, sah sie den Mörder plötzlich auf halbem Weg kehrtmachen und zum Waschbecken laufen. Sie versuchte, ihren Speichel, der wie ein dünnes Rinnsal an ihren Lippen hinunterlief, hinunterzuschlucken. Ihre Augen sahen alles verschwommen, und ihre Lider waren so schwer, dass sie sie nur mit großer Mühe aufschlagen konnte. Sie fühlte die mächtige Brandung eines aufgewühlten Meeres an ihre Schläfen schlagen. Das Gestöhn Dr. Samis hörte sie nicht mehr. Als sie allmählich alles vergaß, sah sie den Mörder, der den Wasserhahn zudrehte und mit der linken Hand die glänzende Klinge des Dolches an seinem Hosenbein abtrocknete. Hierüber erzählte sie später einer Freundin: »Ich habe mich eigentlich gefreut. Ich dachte, dass ich nun zumindest erfahren würde, wie der Doktor ermordet wurde.«

      Aber der Mörder hatte gar nicht vor, sie umzubringen. Als er plötzlich blitzschnell zurückkam, weil er irgendetwas vergessen zu haben schien, lief er schnell zu ihr, packte sie an der Hand und zog sie zur Abstellkammer. Er warf seinen Dolch in eine Ecke, denn mit dem Dolch in der Hand konnte er die Tür nicht öffnen. Auch in diesem Moment sagte Frau Sami nichts und leistete keinen Widerstand. Sie wurde nur wie ein schwerer Sack Reis hinter ihm hergezogen. Die Abstellkammer war dunkel, feucht und voller Krimskrams. Der Mörder zerschlug zuerst die Deckenlampe, stieß dann die scharfen Glassplitter vorsichtig zur Seite und sagte zynisch: »Wenn du nicht vor Hunger und Durst sterben willst, bring dich vorher mit diesem Zeug um! Schneid dir die Halsschlagader durch, wenn du auf mich hören willst!« Er fing an zu kichern.

      Aber die Kammer erwies sich als ungeeignet, denn ihr Schloss war kaputt. Der Mörder spuckte auf den Boden, trat gegen die Tür und zog die Frau so brutal hinter sich her, dass ihre rechte Wange gegen den Türrahmen prallte. Ein Schmerz, der ihr senkrecht in die Wangenknochen stach, brachte sie plötzlich wieder zu Bewusstsein. Sie fühlte, dass sich noch ein Rest an schwacher Lebenskraft in ihrem Körper regte, der ihre Hände und Füße bewegte und ihr Blut zum Sieden brachte. Dann fing sie zu toben an. Sie schrie, trat um sich und spuckte dem Mann in den Nacken, der einem alten braunen und dicken Baumstamm glich. Während er sie hinter sich herzog, schrie sie ihn an: »Mörder, du bestialischer Mörder, du grausamer, bestialischer Mörder!« Sie schüttete den ganzen Hass und Zorn aus, der sich unter den Wogen der Angst, Verzagtheit und Fassungslosigkeit in ihrem Herzen aufgestaut hatte. Sie hatte ihrer Freundin gesagt: »Wenn ich das nicht getan hätte, wäre mein Herz zerplatzt!«

      Aber Frau Sami war zu spät zur Besinnung gekommen. Denn sie hatte erst dann zu schreien begonnen, als der Mörder sie in der Toilette eingesperrt hatte und mit seinem blankgeputzten Dolch geflohen war. Die einzige Spur, die er hinterlassen hatte, war der leblose Körper Dr. Samis, der mit aufgeschlitztem Schädel und zerdrücktem Hirn neben dem Untersuchungstisch auf dem Boden lag, Die dichten Schlingen des grünen Teppichbodens hatten wie ein Schwamm das ganze Blut aufgesogen, das aus den aufgeschnittenen Adern seines Hirnes herausgespritzt war. Die Ärzte stellten in ihrem Obduktionsbericht fest, dass der Mörder ihn mit achtzehn Dolchstichen ermordet hatte. Die rechte Hand des Doktors war wie ein Bratenstück regelrecht in Stücke geschnitzelt worden.

      Nach der Rekonstruktion des Falles stellten die Ärzte fest, dass der Doktor nach den ersten Schlägen, die den Schädel zertrümmert und den Zugang zur weichen Hirnhaut erleichtert hatten, seinen rechten Arm gehoben und zu seinem Schutz auf den Schädel gelegt hatte. Der Mörder hatte anscheinend nichts gegen diese Abwehrhaltung unternommen und statt dessen die Wucht seiner Hände noch gesteigert, die aufgrund einer lebenslänglichen Praxis mit der Handhabung von Zangen, Schraubenziehern und -schlüsseln vertraut zu sein schienen. Die nächsten Stiche drangen durch die Bindehaut zwischen dem Zeige- und dem Mittelfinger hindurch, durchbohrten den Schädel und gelangten bis zu zwei Zentimeter tief in die weiche Schicht des Hirns.

      In diesem Augenblick muss Dr. Sami jenes herzzerreißende Geschrei mit der Kraft seines ganzen Leibes herausgestoßen haben, das Frau Sami später zwischen der achten und neunten Treppe gehört haben wollte. Denn genau in diesem Augenblick muss die scharfe Spitze des Dolches die erste Nervenfaser, die sich wie eine Spinnwebe über das ganze Gehirn ausbreitet, zerrissen haben und in die senkrechten Kreise des vegetativen Nervensystems eingedrungen sein. Bis zum achten oder neunten Stich muss der Arm in dieser Haltung auf dem Schädel gelegen haben, und dies nicht, weil der Doktor selbst die Hand über den Kopf gehalten hätte, sondern weil sein Oberarm, der zufällig über der Lederlehne seines Arztsessels lag, wie ein Anker seinen Arm und sein Handgelenk abstützte und sie gestreckt hielt. Diese Haltung trieb den zügellosen Mörder, der vom Anblick des Blutes und vom Eindruck der krachenden, brechenden Knochen und der herzzerreißenden Schreie des Doktors noch gereizter und tollwütiger geworden war, bis an die Grenze des Wahns. Er fügte deshalb mit einem noch größeren bestialischen Hass seinem Schädel ununterbrochen noch schnellere, wuchtigere, tiefere Stiche zu. Als der Mörder kurz zum Atemholen innehielt, sah er verwundert, dass der Doktor mit größter Mühe, voller Qual und Schmerz vom Stuhl aufstand, um die Überreste seines Lebens vor seinen blinden, brutalen Attacken und dem Tod zu retten. Der Mörder muss in dieser Situation angesichts des Muts und der Hartnäckigkeit des Doktors den Höhepunkt seines animalischen Zorns erreicht haben. Denn nach Einschätzung der Fachärzte nahmen die Schläge an Tiefe und Wirkung zu, auch wenn sie in Tempo und Intensität nachließen, und dies nicht nur weil der Mörder nach acht oder neun erbarmungslosen Stichen in den Schädel des Doktors ziemlich erschöpft war, sondern auch weil ihm plötzlich einfiel, dass er mit dem Zerstückeln und Herausholen des Hirns seines Opfers sein Ziel eher erreichen konnte. Deshalb stach er danach jedes Mal, wenn er wie ein Wahnsinniger mit der Klinge auf den Schädel des Opfers einschlug, mit der scharfen Spitze des Dolches wiederholt die weiche, milchgraue Substanz des Hirns, die das ganze Wissen und die ganzen Erinnerungen des Doktors beherbergte, in kleinen Kugeln heraus und warf sie wie einen Walnusskern, den man von seiner Schale trennt, auf den Boden.

      Als Frau Sami den bewusstlosen, blutigen, zerschmetterten Körper und den eingeschlagenen Kopf ihres Mannes sah, erkannte sie ihn nicht wieder. Nur der offenstehende Mund, in dem die Zahnreihe des Unterkiefers unter einer lilafarbenen Zunge versteckt war, kam ihr bekannt vor, denn der Doktor hatte wegen seinem schiefen Nasenbein die Gewohnheit, mit offenem Mund zu schlafen.

      Als Frau Sami mit ihrem Geschrei, ihren herausfordernden und kämpferischen Schimpftiraden aufhörte, merkte sie plötzlich, dass sie inmitten der vier Wände jener weißgekachelten Toilette, die ihrer Stimme einen klaren und hellen Klang verlieh, ganz einsam war und ihr Herz unter der Last eines erdrückenden Grams und Kummers zu schlagen aufhörte. Vor Ohnmacht und Verzweiflung fing sie an zu zittern. Sie starrte auf den quälenden weißen Glanz der Kacheln und versuchte, sich den Doktor in seinem weißen Kittel ganz vertieft in die Untersuchung vorzustellen. Vergeblich. Der Doktor lag vor ihren Füßen auf dem kalten Fußboden, und ein Messer steckte bis zum Knauf in seinem Herzen. Sie wandte sich um, schaute auf den bleifarbenen Heizkörper der Toilette, der seit Monaten wegen Heizölmangel nicht angestellt worden war, und versuchte, sich ihren Mann in seinem grauen Anzug, vornehm und elegant, bei der Eröffnung der politischen Versammlung seiner Organisation – der Organisation der Nationalen Islamischen Bewegung Irans (DJAMA) – in Erinnerung zu rufen. Vergeblich. Sie sah den Doktor mit auf die Schultern gesenktem Kopf, dunkelblau angelaufenem Gesicht und vor Angst weit aufgerissenen Augen schlaff und matt in seinem Vorsitzendensessel versunken, während die Abdrücke zweier dicker Daumen auf seinem Adamsapfel rot schimmerten.

      Frau Sami hielt sich die Hände vor den Mund, um nicht vor Angst aufzuschreien.