Vergiftete Zeit. Fahimeh Farsaie. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fahimeh Farsaie
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783943941449
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noch unter einem spärlichen Haufen von Stroh und dünnen Zweigen, und ihre gewölbte, vom weichen, hellen Flaum bedeckte Brust klopfte noch heftig. Der Doktor hatte nicht länger als einen Augenblick in ihre verängstigten, besorgten Augen schauen können. Denn sobald er gesehen hatte, dass sie in grauenvollem Schrecken ihre Flügel eng aneinander schmiegten, sich gegenseitig den Kopf unter dem Schwanz und unter den Flügeln zu vergraben und sich in einem sinnlosen Eifer in der Tiefe des Nestes zu verstecken suchten, schmerzte ihn das Herz.

      Nachdem die Revolutionswächter mit großem Lärm in das Haus eingedrungen waren und die Glastür zu den angeketteten Hunden abgeschlossen hatten, ging Mehri in ihre Zimmer, stand einen Moment an ihren Betten und flüsterte, als gäbe sie ein Geheimnis preis: »Steht auf! Die Revolutionswächter sind gekommen!«

      Unverzüglich lief sie in ein anderes Zimmer und wiederholte jene unheilvolle Zauberformel. Sie wusste selbst nicht mehr, wie oft sie in acht Quadratmeter Zimmer schaute und jenen verdammten Satz wiederholte. Aber als die Revolutionswächter sie alle in der Küche versammelt und eingesperrt hatten, um in Ruhe das ganze Haus zu durchsuchen, sagte Dr. Danesch, während er gelassen Tee einschenkte und seine Wangen von der Wärme und dem Samowardampf ein bisschen rot angelaufen waren, mit Gewissheit und einem Lächeln: »Mindestens fünfmal habe ich selbst gezählt. Glaub mir, Mehri!«

      Verwirrt und besorgt schaute sich Mehri um und legte ihre zitternde Hand auf die Stirn. Sie sah auf Maral und Neda, die sich traurig und blass an die Küchenschränke gelehnt hatten und mit feuchten Augen auf die glänzenden Fliesen des Bodens starrten. Während er den Frühstückstisch deckte, stand Dr. Danesch leicht auf den Zehenspitzen, imitierte Mehris Gang und flüsterte jeder von ihnen mit hoher Stimme jene unheilvolle Botschaft zu. Angewidert und verärgert schrie Mehri: »Mensch! Hör doch auf! Jetzt ist doch wirklich nicht die richtige Zeit für Scherze und Unsinn!«

      Mehri konnte sich ihr ungerechtes Verhalten dem Doktor gegenüber bei ihrem letzten gemeinsamen Frühstück nicht verzeihen. Als Maral von den Vorgängen jenes Morgens erzählte, erklärte sie zur Rechtfertigung des Verhaltens ihrer Mutter: »Ich glaube, sie war so schlecht gelaunt, weil sie am Morgen ihren so begehrten Blumenstrauß nicht pflücken konnte.« Der Doktor aber nahm Mehri ihr ungerechtes Verhalten nicht übel. Mehri schnitt den Kuchen auf, den Neda in der Nacht zuvor gebacken hatte, und bot ihn allen an. Niemand rührte ihn an. Der Doktor war der einzige, der ein großes Stück in den Mund nahm. Nachdem er einen Schluck Tee getrunken hatte, sprach er vergnügt und erheitert, als spiele er eine Rolle: »Priiiima! Was für ein leckerer Kuchen! Liebe Neda, ich muss dir sagen, dass die Zeit deiner Heirat herangereift ist.«

      Neda legte die Hände aufeinander, wiegte den Kopf und brachte ein vages Lächeln über die Lippen. Es war eines jener Lächeln, das nach mühseliger Auflösung einer Physikaufgabe ihre Lippen schmückte. Sie sagte aber nichts, und ihre Kiefer mahlten weiter. Seit sie plötzlich aufgewacht, in den Gang gesprungen war und dort ihren Vater in Begleitung von zwei bewaffneten Revolutionswächtern die Treppen hinaufsteigen sah, ließ sie ihren Vater auch nicht eine Sekunde lang aus den Augen. Sie schrie aus trockenem Hals: »Papa! Papa! Was ist denn los?« Aber aus ihrem Rachen war kein Ton zu vernehmen. Plötzlich erschien ein Revolutionswächter hinter ihr und befahl in rauem Ton: »Gehen Sie rein, Frau … Ziehen Sie sich Strümpfe an. Kommen Sie mit ihrem Mantel und Kopftuch raus! Machen Sie keinen Lärm!«

      Auch jetzt am Frühstückstisch schaute sie nicht von ihrem Vater weg. Nur wenn ihre Augen von den Tränen oder vom starken Pfeifenrauch des Doktors brannten, schloss sie die Lider und flehte die in ihren Adern zirkulierenden Tausende von Ameisen an, mit dem Krabbeln aufzuhören. Es kam ihr so vor, als ob sie mit jenem heftig brennenden Gefühl in ihren hohlen Herzkammern ihre wahre Lage nicht begreifen konnte. Als sie später einem Abgeordneten des Deutschen Bundestages von jenem Tag berichtete, sagte sie: »Mir schien, als sähe ich der durchlöcherten Leiche meines Vaters zu.«

      Der Bundestagsabgeordnete fragte verwundert: »Wieso? Was glaubten Sie denn, was ihr Vater getan hatte?«

      Maral schüttelte den Kopf und erwiderte: »Es war nicht wichtig, was mein Vater gemacht hatte, sondern nur das war wichtig, was die anderen, ich meine die Revolutionswächter, glaubten, dass er es gemacht hatte.«

      Aber Dr. Danesch war so sehr von seiner Unschuld überzeugt, dass er nicht wie seine Tochter denken wollte. Gerade deshalb lachte er, als der Hadji, ein ihm befreundeter Basarhändler, der noch nie nierenkrank gewesen war, als Patient in seine Praxis kam, vor ihm stand und seinen Oberkörper freimachend ihm ins Ohr flüsterte: »Lieber Doktor! Es sieht wirklich nicht gut aus. Du solltest abhauen!«

      Dr. Danesch entgegnete: »Was glaubst du denn, wer ich bin? Ich habe nichts verbrochen, um – wie du sagst – abzuhauen.«

      Sein Freund legte den Finger auf die Nase und sagte: »Pssst! Sprich doch leiser. Hast du etwa einen Lautsprecher verschluckt?«

      Verängstigt blickte der Hadji nach allen Seiten. Er fasste an die Tischkanten, starrte eine Zeitlang auf den Kristalllüster, der von der Decke hing. Er öffnete die Telefonmuschel und beobachtete durch die dünne weiße Gardine die Straße. Dann flehte er Dr. Danesch weiter in jenem freundschaftlichen Ton an und bat ihn, ihm zu glauben. Er solle weiter so tun, als untersuche er ihn, denn man wisse nicht, ob im gegenüberliegenden Fenster nicht eine Kamera installiert sei, um seine Kontakte ständig zu beschatten …

      »Doktor, ich schwöre bei meinen Ahnen, ich schwöre beim Leben meiner beiden Kinder, dass es für dich nicht gut aussieht. Glaub mir, Doktor!« Dr. Danesch steckte sein Stethoskop in die Tasche und sagte: »Was bist du doch für ein Phantast geworden, lieber Freund! Man sollte nicht deine Nieren, sondern dein Hirn untersuchen.«

      Der Hadji erwiderte temperamentvoll und fließend, während er sein Hemd in die Hose steckte: »Gut, Doktor … Ich akzeptiere alles, was du sagst Ich bin sogar bereit, mich drei Monate lang in die Heilanstalt Chehrasi zu legen, nur unter der Bedingung, dass du sofort deine Sachen packst, wie ein braver Mensch in mein Auto einsteigst und abhaust! Ich kenne ein sicheres Versteck, das nicht einmal der Teufel finden kann. Und wenn dann die Sachen mit deinem Pass, dem Schlepper und alles andere geregelt sind, verlässt du das Land. Abgemacht? Ist es nicht schade, dass du dein so geliebtes Leben diesem Pöbel in die Hände legst? Ich will nur dein Bestes, Doktor! Wenn sie dich festnehmen, kann ich mir nie verzeihen. Ich weiß, dass du unschuldig bist, aber …«

      Aber Dr. Danesch gab ihm die gleiche Antwort, die jener Bundestagsabgeordnete sechs Jahre später als Frage an Maral richtete. Als sich der Hadji später mit derselben Beharrlichkeit entschloss, Maral anstelle des Doktors zur Flucht zu verhelfen, wurde er von einem derart erbarmungslosen Mitgefühl befallen, das normalerweise von einem schlechten Gewissen herrührt und das Herz des Menschen aufwühlt. Wo immer er hinging und wen immer er traf, er sprach ohne die geringste Vorsicht mit dem gleichen Temperament und derselben Beharrlichkeit von Dr. Danesch als einem »armen Dickschädel: »Ein Dickschädel, der nie seine Augen auf die Realität richten wollte.«

      »Ich sagte ihm: ›Bruder, die Gefahr lauert vor deiner Tür. Komm, hau ab!‹ Aber wollte er etwa kapieren?! Ich sagte ihm: ›Mensch, diese Barfüßigen sind es nicht wert, dass du ihnen dein geliebtes Leben opferst. Es sind ja nur eine Handvoll Gauner und gerissene Pilger von Imam Reza. Auch wenn du ihnen alle deine fünf Finger voller Honig in den Mund steckst, beißen sie sie dir ab. Es sind dreiste, unverschämte Lastesel und Bestien, diese Hundesöhne. Ich kenne sie. Ich habe jeden Tag mit ihnen zu tun. Du sitzt hier in deiner Praxis von morgens bis abends und wühlst in den Innereien von diesem oder jenem rum. Wenn ich selbst einem dieser Halunken, derentwegen du dich so aufregst, ein G-3 in die Hand drücke und ihm sage, dass du ein Gottloser bist, wird er dich im Nu erledigen? Aber wollte er etwa kapieren? Er quatschte nur unentwegt davon, was weiß ich, von unserer Pflicht, diesen armen Kreaturen Bewusstsein zu vermitteln. Lauter solchen Unsinn. Ich pfeife auf diese Pflicht!«

      Der Hadji hatte recht. Dr. Danesch erkannte sofort seinen Patienten, den hageren, bärtigen Revolutionswächter, der lärmend heruntergekommen war und wie eine Statue in der Küchentür stand. Die Farbaufnahme seiner rechten Niere, eingehüllt in fettiges lymphatisches Gewebe, die mit ihren malpighischen Körperchen in Eiter und Blut versunken war, stieg sein Bauchfell hoch und füllte in einem rechteckigen Dia das ganze Gesichtsfeld des Doktors. Dann