Sie sah ihn nicht aufstehen, denn sie ging schon in entgegengesetzter Richtung zur Tür. Sie glaubte zunächst, das Echo ihrer eigenen Schritte auf dem Mosaikboden des Wartezimmers zu hören. Als sie aber stehenblieb, um ihre Haare unter dem Kopftuch zu ordnen, stellte sie fest, dass noch immer das Geräusch hastiger, überstürzter Schritte in ihren Ohren widerhallte.
Als sie später an diese schicksalhaften Augenblicke mit all ihren scheinbar banalen Details dachte, machte sie sich Vorwürfe wegen ihrer schrecklichen Naivität und Unachtsamkeit, die jenes beispiellose Verbrechen ermöglicht hatten. Sie erzählte einer ihrer besten Freundinnen – die zuerst schwören musste, ihr Geheimnis nicht zu verraten – von ihren quälenden Gewissensbissen und Schuldgefühlen. Sie sagte zu ihr: »Ach, wenn mir doch nur aufgefallen wäre, warum einer, der den ganzen Tag sang- und klanglos rumgesessen und sogar auf seinen Platz in der Reihenfolge verzichtet hat, es zum Schluss plötzlich so eilig hat, als würden seine Kinder in klirrender Kälte auf der Straße stehen!«
Wenn sie mit einem Bruchteil jenes Verdachts, der den Mann plötzlich in ihren Augen in einen Dieb verwandelt habe, an diese einfache Möglichkeit oder Annahme gedacht hätte, wäre sie bestimmt zurückgekehrt und hätte in Wirklichkeit den Mann gesehen, der über die Schwelle des Untersuchungszimmer lief und dabei einen langen, scharfen, glänzenden Dolch wie einen Degen aus dem Futter seiner Jacke herauszog.
Sie tat es aber nicht. Sie ging durch den Haupteingang hinaus und zog die Tür sanft hinter sich zu, ohne sich dabei umzudrehen. Dann stieg sie die paar Treppen hinunter, die sie ein Leben lang hinauf- und hinuntergegangen war und die sie aus Gewohnheit immer unbekümmert gezählt hatte. Und sie fing an, sie wieder zu zählen. Das Treppenhaus war kalt und dunkel und wurde nur von dem dämmerigen Lichtschein, der vom bedeckten Himmel herabfiel, etwas aufgehellt. Der duftende, angenehme Geruch von angebratener Pfefferminze stieg die Treppen hoch. Nun konnte sie mit Gewissheit sagen, dass es an jenem Tag nicht geschneit, sondern geregnet hatte. Denn sie erinnerte sich noch recht gut daran, dass am Rande des frischen flachen Fladenbrotes, das noch dampfte und das ein Nachbar in der gegenüberliegenden Bäckerei gekauft hatte, einige Regentropfen zu sehen waren. Der Nachbar war den ganzen Weg gerannt, damit das Brot nicht nass wurde. Nun zog er sich atemlos auf der Treppe zur Seite, um sie durchzulassen. Als er seine Wohnungstür hinter sich schloss, stellte sie fest, dass der Pfefferminzgeruch aus seiner Wohnung kam. Sie schloss ihre Augen und atmete tief ein. Doch bevor sie sich gewohnheitsgemäß sagte: »Wie wunderbar schmeckt Suppe bei dieser Kälte«, hörte sie die herzzerreißenden Schreie Dr. Samis. Sie wusste nicht mehr, wie viele Treppenstufen sie hinabgestiegen und wie gehetzt sie nach den schmerzerfüllten Schreien wieder hinaufgerannt war.
Den Rest dieses blutigen Geschehens wissen nun schon alle. Obwohl am Tatort des Verbrechens außer dem brutalen Mörder und seinem unschuldigen Opfer, die nun beide – der eine gewaltsam und der andere freiwillig – das Reich der Toten erreicht haben, sonst niemand anwesend war, erklärten die Verantwortlichen des Regimes einen Monat später, nach dem ersten schweren Winterschnee, plötzlich, dass der Mörder identifiziert worden sei, sich aber vor der Verhaftung im Brillant-Bad in Ahwas das Leben genommen habe. Die Lüge war so offensichtlich und grotesk, dass niemand sie glaubte. Deshalb versuchten die offiziellen Blätter in ihren späteren Berichten, die sie angeblich aufgrund umfangreicher Recherchen zuverlässiger Quellen verfasst hatten, den Mörder als einen Psychopathen hinzustellen, der seit Jahren an chronischen Wahnanfällen leide. Dr. Samis Frau wagte es als einzige Person, die den Mörder nach jenem brutalen, schrecklichen Mord gesehen hatte, nicht, dieser Version offiziell zu widersprechen.
Sofort nach den herzzerreißenden Schreien ihres Mannes, die sich allmählich in dumpfes Gestöhn verwandelten, war sie hastig in die Praxis gerannt und dem Mörder begegnet, der mit der Lässigkeit eines Metzgers die Ärmel hochgekrempelt hatte und im Waschbecken seine blutbefleckten Hände und seinen Dolch wusch. Vor Grauen verschlug es ihr die Sprache. Ihr Herz pochte in wahnsinnigem Tempo. Auch mit größter Mühe gelang es ihr nicht, die Luft auszuatmen, die ihr auf halbem Wege im Hals steckengeblieben war. Sie hatte aber das Gefühl, als ob ihre Eingeweide in einer spiralförmigen Bewegung aus ihrem Rachen herausrutschten. Sie hörte das herzzerreißende Gestöhn ihres Mannes, schaute auf das verdünnte Blut, das von der glänzenden Dolchspitze des Mannes heruntertropfte, atmete den Geruch des Schweißes ein, der nach der wilden Anstrengung noch auf der engen Stirn des Mannes klebte, und fühlte sich trotzdem in der gelähmten, tauben, stummen Welt der Toten. Als sie nach größter Überwindung versuchte, in das Untersuchungszimmer zu gehen, herrschte der Mann sie an: »Bleib stehen! Rühr dich nicht vom Fleck! Was suchst du hier überhaupt? Woher kennst du den Doktor?«
Sie antwortete aus Angst, Berechnung oder Gewohnheit, jedenfalls mühselig: »Ich bin seine Sekretärin …«
In jenem Augenblick wusste sie selbst nicht, dass sie mit der Preisgabe der halben Wahrheit und der Verheimlichung ihrer anderen Hälfte ihr Leben gerettet hatte. Ihr fielen nun aber plötzlich der kräftige Körperbau und die in den Muskelpaketen verborgene animalische Kraft des Mörders auf, und sie wunderte sich darüber, dass sie ihn für einen normalen Menschen gehalten hatte. Sie dachte, dass er an die neunzig Kilo wiegen konnte. Als die Regierung später erklärte, dass der flüchtige Mörder sich an einer Aluminiumdusche im Brillant-Bad in Ahwas aufgehängt und Selbstmord begangen habe, wunderte sie sich noch mehr. Ihre Verwunderung galt nicht der Frage, wie solch ein brutaler, hartherziger Mensch, der in der kurzen Zeitspanne, in der sie sieben oder acht Treppen hinuntergestiegen war, dem Schädel Dr. Samis hasserfüllt achtzehn Dolchstiche zufügen konnte, sich das Leben genommen haben sollte. Nein, ihre Verwunderung galt vielmehr dem Umstand, wie eine so leichtgebaute Dusche seinem neunzig Kilo schweren Körper standhalten konnte.
Frau Sami, die vor Angst und Schrecken noch am ganzen Leib zitterte, wollte den Mörder fragen: »Ich beschwöre Sie bei Gott, was haben Sie dem Doktor angetan?« Sie bekam aber keinen einzigen Ton heraus.
Eigentlich verzichtete sie Sekunden später auf diese sinnlose, blöde Frage. Aber der Mörder, der anscheinend solche Szenen in Wirklichkeit oder in der Welt der Phantasie öfter erlebt hatte oder jedenfalls wusste, dass er auf diese erste Frage eine Antwort geben musste, sagte: »Ich habe ihn getötet … Ich habe ihn endlich getötet!«
In seinem Ton schwebte mehr das Gefühl der Erleichterung nach Erledigung einer unangenehmen Aufgabe mit als Böswilligkeit. Dann trocknete er ganz gelassen seine Hände, schlug die Ärmel herunter und knöpfte geduldig und konzentriert zuerst seinen rechten und dann seinen linken Ärmel zu. Im weißen Licht des Waschbeckens schienen seine von dichten schwarzen Haaren bedeckten Hände aufgedunsen und erschöpft. Er sagte noch einmal: »Ich habe ihn getötet …« und hob die Schultern. Anstatt an das Waschbecken zu gehen und das Wasser, das noch weiter über die saubere, glänzende Dolchklinge floss, abzudrehen, lief er zu ihr. In der Aufregung, die in ihrem Inneren entflammte, dachte sie sich, dass sie nun an der Reihe sei. Bevor der Mann sie erreichte, bereitete sie sich schon auf den Tod vor. Sie sprach ihr Todesgebet, segnete den Propheten Mohammed und seine Anhängerschaft und bat Gott um Vergebung ihrer bewussten und unbewussten Sünden. Sie wünschte sich inbrünstig, dem Doktor – und sei es auch nur für ein einziges Mal – in der anderen Welt zu begegnen und sich bei ihm für ihre Schwäche und Hilflosigkeit seinem Mörder gegenüber zu entschuldigen. In diesem Augenblick wusste sie selbst, dass sie schreien und die Nachbarn alarmieren musste. Sie hätte den Mörder angreifen und mit Zähnen und Klauen gegen ihn ankämpfen müssen. Sie hätte mit ihrem