In jenen Tagen litt Mehri, die Ehefrau Dr. Daneschs, in der unerbittlichen Glut der Sommersonne Teherans unter einer anderen Art von Ungewissheit: sie wusste nicht, wo sich ihr Mann befand. Sie war vor kurzem von Deutschland nach Iran zurückgekehrt und hatte vom ersten Augenblick ihrer Ankunft an bei jedem, der die geringste Nachricht von ihrem Mann haben konnte, nach ihm gefragt. Das war kein leichtes Unterfangen. Stundenlang wartete sie in den kahlen, ausgetrockneten Straßen Teherans auf ein Verkehrsmittel, das sie an ihr Ziel bringen konnte. Wenn sie dann erschöpft, verzweifelt und verschwitzt den Flur eines Hauses betrat und Dr. Daneschs Namen erwähnte, stieß sie auf eine so undurchdringliche Front von Kälte und Gleichgültigkeit, dass sie sofort kehrtmachte und neben Kopfschmerzen und einem gebrochenen Herzen eine große Last an Leid und Schmerz mit sich zurückschleppte. Einige, die etwas freundlicher waren, ließen Mehri bis zum Gästezimmer vortreten und wimmelten sie dort gesenkten Kopfes mit einem im Teppichmuster herumirrenden Blick ab. Die Abschiedsszenen an der Tür waren dann völlig anders. Sie verabschiedeten sich so laut und in einem so groben Ton von ihr, dass jeder, der ihren Eintritt bemerkt hatte, nun auch ihre Abweisung sehen konnte. Bevor sie die Tür hinter ihr zuknallten, hielten einige kurz inne und flüsterten ihr ins Ohr: »Entschuldigen Sie, Frau Doktor. Aber wir müssen auch irgendwie leben.« Aber auch dort, wo sie mit Freudentränen und Lächeln empfangen wurde, bekam sie nichts als einige Erfahrungen und vertröstende Worte zu hören. Sie saßen zusammen und trauerten den freudigen Erinnerungen und dem kurzlebigen Glück nach, das sie nicht zu schätzen gewusst hatten. Der zitternde, gelbe Kerzenschein ließ diese Szene noch trauriger erscheinen. Wenn sie dann nichts mehr zu erzählen hatten, blickten sie mit ausgetrocknetem Mund stumm und unruhig in Erwartung der baldigen Wiedereinschaltung des elektrischen Stromes, der täglich sechs bis neun Stunden abgestellt wurde, auf den monotonen, traurigen Tanz der Kerzenflamme und wischten unentwegt die dicken Schweißperlen von Mund, Hals und Gesicht. Sie lächelten sich zu, um in ihren Herzen das Licht der Ausdauer und Geduld aufleuchten zu lassen. Während der ganzen Zeit hatten sie weder etwas gegessen noch getrunken. Obwohl Mehri vor Hunger manchmal ein Schwächeanfall überkam und vor Durst ihre Speiseröhre zusammenklebte, rührte sie weder das verwelkte Obst an, das in einem schiefen Korb auf dem Tisch lag, noch nahm sie das Angebot der Gastgeberin zu einer Tasse Tee oder einem Glas Sirup an. Sie sagte: »Nein, danke! Ich kann weder etwas essen noch trinken.« Die Gastgeberin wusste, dass sie nicht die Wahrheit sagte. Mehris Stimme klang ihr mehr nach Höflichkeit als nach Ehrlichkeit. Sie beharrte aber nicht weiter darauf. Man vollzog jene schlichte und bescheidene Zeremonie so aufrichtig, dass weder der Gast noch die Gastgeberin auch nur für eine Sekunde daran dachten, dass sie gegen die tausendjährigen Bräuche der Gastfreundschaft ihres Volkes handelten.
Die meisten Menschen, die Mehri aufsuchte, wussten, dass man Dr. Danesch töten wollte. Einige wussten sogar über die geplante Art des Mordes Bescheid. Als Mehri nach fast drei Monaten nach Deutschland zurückkehrte, ohne irgendetwas über ihren Mann herausgefunden zu haben, hörte sie von der Ermordung Dr. Samis und fiel plötzlich in einen Abgrund von Verzweiflung. Die Freundschaft der beiden Ärzte ließ in Mehri die Angst entstehen, dass ihr Mann auch das schreckliche Schicksal seines Freundes teilen könnte. Während sie diese Möglichkeit mit Zweifel und Skepsis zu betrachten suchte, um nicht gänzlich in Verzweiflung zu versinken, versuchte sie, etwas über den mysteriösen und rätselhaften Fall der Ermordung Dr. Samis herauszufinden. Das einzige, was sie nach einer Woche herausbekam, war die Tatsache, dass der Mörder sein Opfer mit einer solchen Bestialität abgeschlachtet hatte, wie sie nur von einem Berufskiller zu erwarten war. Die offizielle Presse stellte den Täter als einen einfachen, aber unbequemen Angestellten der Telefonvermittlung des Gesundheitsministeriums in Dobai vor, der in der kurzen Zeit der Übernahme des Ministerpostens durch Dr. Sami in der provisorischen Regierung des Ministerpräsidenten Basargan entlassen worden war. Obwohl alle Massenmedien versuchten, als Motiv des Täters persönliche Rache in den Vordergrund zu stellen, schenkte niemand dieser Version Glauben. Deshalb vermischten sich Wahrheit und Phantasie. Jeder schuf sich eine zuverlässige Quelle, aufgrund derer er die Einzelheiten der Katastrophe »haargenau, so wie sie sich ereignet hatte«, wiedererzählen konnte. Einige Leute konnten sogar ruhigen Gewissens behaupten, dass sie mit, »eigenen Ohren« von anderen, die mit »eigenen Augen« den Vorfall gesehen hatten, davon gehört hatten. Das war nicht möglich, aber sie nahmen es als eine unbestreitbare Tatsache hin. Die einzige, die den Mörder gesehen und mit ihm nach diesem blutigen Mord gesprochen hatte, war die Frau des Doktors, die sich ihm gegenüber als Dr. Samis Sekretärin vorgestellt hatte. Auch einige Patienten, die an jenem unheilvollen Tag einen Termin hatten, konnten den Mörder im Wartezimmer gesehen und eventuell ein paar Worte mit ihm gewechselt haben, aber zweifellos vor diesem brutalen Mord.
Nach Aussagen von Dr. Samis Frau, die ein paar Tage in der Woche als Sprechstundenhilfe in der Praxis ihres Mannes arbeitete, hatte der Mann schon vor acht Uhr vor der Tür gewartet. Obwohl seit jenem erschütternden Verbrechen nicht so viel Zeit vergangen war, konnte sie sich nicht daran erinnern, ob es an jenem Tag geschneit oder geregnet hatte. Sie wusste nur, dass es kalt und der Himmel bedeckt war, denn als sie an jenem Morgen ihr Auto starten wollte, sprang es nicht an. Und weil sie es so eilig hatte, gab sie so viel Gas, dass der Motor völlig absoff. Sie stieg zornig aus dem Wagen und trat so fest gegen die Tür, dass ihr Zeh Stunden später noch schmerzte. Als sie dann mit einem Taxi zur Praxis fuhr, brannten noch die Straßenlaternen, denn der Himmel war dunkel und verhangen.
Abgesehen von einer flüchtigen Begrüßung beim Aufschließen der Praxis wechselte sie erst gegen neun Uhr die ersten Worte mit dem Mörder. Ohne ihn anzuschauen, fragte sie ihn nach seinem Vor- und Familiennamen und danach, ob er schon einmal dagewesen war.
Der Mann antwortete ruhig und normal: »Nein, es ist das erste Mal.« Dann hatte sie ihren Kopf gehoben, um ihn sich zum ersten Mal anzusehen. Es war nichts Auffälliges in seinem Gesicht zu erkennen. Als sie einige Stunden später den Revolutionswächtern sein Aussehen schildern wollte, erklärte sie: »Es war eines dieser normalen Gesichter, die man hundertmal am Tag auf der Straße sieht.«
Kurze schwarze Haare, niedrige Stirn, dunkle glanzlose Augen, platte, fleischige Nase, dichter schwarzer Schnäuzer und ein Dreitagebart, der hier und da weiß schimmerte … Sie konnte sich an keine Details mehr erinnern. Sie betonte sein unauffälliges Aussehen so sehr, dass die Revolutionswächter die meisten Leute in ihrer Umgebung verdächtigten. Einige wurden sogar ohne jeglichen Beweis nur aufgrund ihrer Unauffälligkeit festgenommen und monatelang, das heißt bis zur sogenannten Identifizierung des eigentlichen Mörders, eingesperrt. Als Frau Sami diese Geschichte vertrauenswürdigen Freunden erzählte, fügte sie leise hinzu: »Als ich ihm eine Akte anlegte, tat mir der Typ irgendwie leid. Ich dachte mir, wieder so ein armer Schlucker, der vor der Last des Lebens Schutz bei Tabletten gesucht hat …«
Gegen zehn Uhr hatte sie wieder einen flüchtigen Blick auf den Mann geworfen und in trockenem, offiziellem Ton gesagt: »Ins Zimmer eins bitte! Sie sind dran.«
Der Mann hatte sich aber nicht von der Stelle gerührt. Während er sich umschaute, sagte er in einem um Entschuldigung bittenden Ton: »Wenn Sie erlauben, möchte ich als Letzter zum Doktor. Ich habe auch ein privates Anliegen und möchte nicht die Zeit der anderen Damen und Herren in Anspruch nehmen …«
Alle Patienten sagten ohne Ausnahme bei der Vernehmung zu den Revolutionswächtern: »Nach diesen Worten habe ich ihn mir genauer angesehen. Er sah redlich, scheu und etwas verrückt aus … Jedenfalls dachte ich, dass er für unsere Gesellschaft nicht geeignet sei.«
Als die Untersuchungsrichter nach dem Grund dieser Einschätzung fragten, argumentierten alle: »Wer verzichtet heutzutage schon auf sein Recht zugunsten anderer?«
Als sich gegen zwölf Uhr kein Patient mehr im Wartezimmer befand und sie ihre Teetassen und die ihres Mannes gespült, die Küche und ihren Arbeitstisch aufgeräumt und sich selbst etwas zurechtgemacht hatte, stand sie auf der Schwelle des Untersuchungszimmers, von wo sie sowohl ihren Mann als auch seinen Mörder sehen konnte, und sagte: »Ich gehe die Kinder abholen.«