Ich wollte nicht eher in die Heimat zurückkehren, als bis jeder Schatten eines Verdachts von mir abgewaschen war. Jahre habe ich für den reinen Überlebenskampf gebraucht und den habe ich gewonnen! Aber was er meiner Seele angetan hat, das schlummert immer noch in mir.«
Ben hatte ihr schweigend zugehört. Er musste ein paar Mal tief Atem holen, um ruhig antworten zu können. »Es ist unfassbar, was er dir angetan, Marie! Wenn ich ihn jetzt in die Finger bekäme …, ich könnte für nichts garantieren! Dieser Mistkerl hat dein Leben zerstört und nachhaltig dafür gesorgt, dass du es sehr schwer hast, wieder irgendjemandem zu trauen.«
»Oder zu lieben«, fügte Marie mit dünner Stimme hinzu. Sie konnte Benjamin jetzt nicht in die Augen schauen. »Fabian hat gesagt, dass er mich liebt. Bis zu der Stunde, in der er zum letzten Mal vor mir stand, hat er es gesagt. Und ich habe es ihm immer geglaubt.«
»Marie, bitte, wenn es dir hilft, deinen Frieden zu finden, dann verspreche ich dir, dass ich niemals sagen werde, dass ich dich liebe!«, rief Ben verzweifelt aus.
Das klang so absurd, dass Marie ungewollt lachen musste. Es war ein Lachen unter Tränen, aber es kam aus einem Teil ihres Herzens, der bisher verstummt gewesen war. »Du!«, sagte sie. Sie nahm sein Gesicht zwischen beide Hände und verlor sich in seinem Blick. »Du«, wiederholte sie leise, »du bist etwas ganz anderes. Dir vertraue ich. Glaubst du, sonst hätte es unsere Nacht auf dem Sternwolkensee gegeben? Wenn ich dich anschaue und du mich in deinen Armen hältst, dann fühle ich mich sicher und geborgen.«
»Aber im Alltag nicht so sicher, dass wir zusammenziehen und ein gemeinsames Leben beginnen können?«, fragte Benjamin. In seiner Stimme schwang ein Unterton von Bitterkeit, den er nicht ganz unterdrücken konnte.
Marie schwieg und fühlte sich innerlich zerrissen zwischen ihrer Liebe und überängstlichen Vorsicht. »Ich habe einmal den Fehler gemacht, mich schnell zu binden«, erwiderte sie. »Und ich hatte immer geglaubt, meinem Gefühl trauen zu können. Dieses Gefühl ist nicht mehr da. Es ist, als ob ich über schwankenden Boden gehe und nicht mehr weiß, woran ich mich halten kann. Immer versuche ich, alles aus unterschiedlichen Gesichtspunkten zu sehen und frage mich, welche Wege und Entscheidungen welche Reaktionen bei dir auslösen könnten.«
Ben hörte schweigend und sehr konzentriert zu. Er war betroffen von Maries Gefühlschaos und, wenn er ganz ehrlich sein sollte, auch ein wenig ungeduldig. »Liebste Marie!«, sagte er mit einem tiefen Seufzer. »Was ist das nur für eine komplizierte Geschichte mit all diesem: ich dachte … und dann denkt er, dass ich dachte …! Entschuldige bitte, aber ich finde, du machst es jetzt wirklich unnötig kompliziert! Dabei ist es doch so einfach.«
»Ach, ist es das?«, antwortete Marie verletzt.
»Ja! Ich lie…, äh, …« Er unterbrach sich und fuhr dann mit fester Stimme fort: »Ich mag dich von Herzen gern, und ich vertraue dir, und dir geht es mit mir doch genauso! Bisher verstehen wir uns in allem, was wir tun, als ob wir uns schon ewig kennen! Wir sind ein Paar, das zusammengehört, weil es ganz einfach passt. Wo also ist das Problem?«
»Es …, ich …«, stotterte Marie, »ich weiß nicht, ob es so bleiben wird.«
»Das weiß niemand!«, antwortete Ben hart. Er war müde und abgearbeitet und sein Bein schmerzte an einer Stelle, wo er sich eine kleine Verletzung zugezogen hatte. Dieses Gespräch führte zu nichts, und er wollte jetzt nur noch ins Bett und schlafen. »Du scheinst unserer gemeinsamen Zukunft ja wenig zu trauen! Dann vertrau doch wenigstens der Gegenwart, anstatt auch die immer wieder in Frage zu stellen! Hör auf, ständig einen Schritt nach vorn und wieder zwei zurück zu gehen!««
Marie schluckte. Ihr Blick irrte durch den stillen Garten, in dem die Windlichter warme Lichtinseln bildeten und der vom Duft des blühenden Geißblatts durchzogen war. Es war ein so friedliches Bild, aber … »Wir sitzen hier und streiten?«, fragte sie hilflos.
»Scheint so«, brummte Ben. »Und zwar um nichts und wieder nichts!« Er stand auf und streckte sich, um die Müdigkeit aus seinem Körper zu vertreiben. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich jetzt fahre. Es war ein langer Tag, und morgen muss ich die neuen Türstürze einpassen. Ich bin früh wieder hier, aber für heute lass uns gute Nacht sagen.«
»Gute Nacht, Ben«, antwortete Marie leise. Sie stand in seiner vorsichtigen Umarmung und hob ihr Gesicht zu ihm empor. Aber er küsste sie nicht.
»Willst du denn noch, dass wir ein Paar sind?«, fragte er.
»Natürlich will ich das!«, rief Marie erschüttert. Und hörte irgendwo in ihrem Kopf die Worte: Aber ich weiß nicht, ob ich dem trauen kann …
Ben nickte leicht, fast so, als ob auch er diese Worte gehört hatte. Sein Abschiedskuss streifte leicht ihren Mundwinkel, und die Wärme seiner Umarmung verlor sich sofort, als er sich abwandte und zu seinem Auto ging. »Gute Nacht, Marie!«
Langsam fuhr er vom Hof, und Marie blieb ratlos und erschöpft allein zurück. In einer hilflosen Geste umarmte sie den Ebereschenbaum neben ihrer Tür und suchte Trost in seiner unerschütterlichen Standhaftigkeit. Mit geschlossenen Augen legte sie ihr Gesicht gegen die kühle Rinde und dachte an Bens Atemzüge und den ruhigen Herzschlag in seiner Brust, den sie eben noch gespürt hatte. Jetzt war er fort, und sie spürte den bitteren Geschmack der Einsamkeit auf ihrer Zunge.
Wahrscheinlich war es tatsächlich zu viel von Ben verlangt, wenn sie Verständnis für ihre wirren Gedanken von ihm erwartete. Es wäre besser, das erst mit einer anderen Person zu besprechen, die Meinung einer Freundin zu hören. Vielleicht wusste Lisa einen Rat, wie sie ihre belastende Vergangenheit hinter sich lassen und unbeschwert ihr Glück mit Ben genießen konnte?
Morgen wollte Marie Doktor Seefelds Angebot annehmen, sich einige der neuen Einbauten anzusehen. Wenn sie schon unten im Dorf war, dann konnte sie auch gleich bei Lisa vorbei schauen. Vielleicht hatte die Freundin Zeit für ein vertrauliches Gespräch.
*
»Hallo!«, rief Emilia fröhlich zu Marie hinüber. Die junge Frau stand vor dem privaten Eingang zum Doktorhaus, und Emilia wollte gerade mit dem Fahrrad losfahren. »Gehen Sie ruhig rein, der Papa und die Traudel warten in der Küche auf Sie.« Sie winkte und war dann um die Ecke verschwunden. Marie betrat das Haus und wurde gleich von der warmen und gemütlichen Atmosphäre eingenommen. Durch die geöffnete Küchentür strömten Sonnenschein und der Duft nach frischem Kaffee in die Diele.
»Kommen Sie, setzen Sie sich zu uns!«, rief Doktor Seefeld und winkte die junge Frau neben sich an den großen Esstisch. »Schauen Sie sich nur in aller Ruhe um, diese schönen Küchenmöbel hat Benjamin Lauterbach entworfen und passgenau für uns eingebaut.«
Obwohl es Marie zunächst peinlich war, sich in den privaten Räumen des Arztes so offensichtlich interessiert umzuschauen, überwand sie ihre Scheu allmählich. Wie schön sich die weißen Möbel mit ihren schlichten Zierleisten und den Glasvitrinen in das alte Haus einpassten! Unter dem großen Fenster war ein weißer Spülstein eingebaut, sodass sich beim Arbeiten ein herrlicher Blick nach draußen ergab. An der linken Wand schlossen sich ein großer Einbauherd, weitere Schränke und Arbeitsplatten an. Die Küche war modern und funktional, der vorhandene Platz bis in den letzten Winkel der Schrägen und Wandvorsprünge hinein perfekt genutzt. Und doch war sie kein kalter Neubau, der nach ganz anderen Gesichtspunkten entworfen worden war als die Bauernküchen früherer Zeiten. Sie hatte Charakter und passte genau in dieses alte Haus und zu dieser Familie, die mit drei Generationen unter einem Dach lebten. Über Maries Gesicht spielte ein zärtliches Lächeln, sie erkannte Benjamins Handschrift. Auch in diesem Haus hatte er verstanden, was den Bewohnern zum Leben wichtig war, und es in seiner Arbeit umgesetzt.
Über den Rand ihres dampfenden Kaffeebechers hinweg schaute sie in die Ecke, in der noch der alte, mit Holz beheizte eiserne Kochherd stand. Die Klappen aus weißer Emaille glänzten seidig, die Griffe und Stangen aus Messing waren poliert, und auf der säuberlich geschwärzten