Erleichterung darüber, dass die große Nähe und ihr Zurückschrecken davor nicht in eine peinliche Situation umgeschlagen waren, breitete sich in Marie aus. Dankbar nickte sie Benjamin zu und watete zu der Stelle hinüber, wo sich Kiesel unterschiedlicher Größe angesammelt hatten. Sie lagen knapp unter der Wasseroberfläche, und trotz der Kälte war es angenehm, die seidige, vom Wasser glatt geschliffene Oberfläche der Steine zu berühren.
Während Marie noch spielerisch den einen oder anderen Kiesel in die Hand nahm und mit einem leisen Plumpsen wieder ins Wasser fallen ließ, hatte Ben einen gefunden, den er längere Zeit aufmerksam betrachtete. Dann reichte er ihn der jungen Frau. »Schau mal, Marie, woran erinnert dich dieser Stein?«, fragte er.
»An ein Haus«, antwortete Marie sofort. Sie legte den eigenwillig geformten Kiesel in ihre Handfläche und betrachtete ihn eingehend. Der Stein war verhältnismäßig flach und hatte eine rechteckige Grundform. Die Seiten seines oberen Drittels liefen aufeinander zu und trafen sich in einer vom Wasser abgerundeten Spitze. Der Kiesel erinnerte tatsächlich stark an die schlichte Vorderansicht eines Hauses mit einem spitzen Dachgiebel.
»Du hast ein Haus gefunden«, sagte Marie und strahlte Ben an. »Und das genau jetzt, wo ich wieder hier bin, und wir den Ebereschenhof umbauen wollen! Mein Zimmermann steigt um Mitternacht in einen Bach und kommt mit einem Haus zurück; wenn das kein gutes Zeichen ist!«
Sie hat mein Zimmermann gesagt, dachte Benjamin erfreut. Er war gerührt von Maries kindlicher Freude an dem überraschenden Fund und mehr noch von ihren Worten mein und wir. Sie vibrierten in ihm wie die leisen Anklänge einer wunderschönen Zukunftsmusik.
Er räusperte sich und deutete erst auf den Kiesel und dann in den Himmel hinauf. »Ich finde es schön, dass du diesen Stein als gutes Zeichen für die Zukunft nimmst«, sagte er. »Aber da wir gerade über Zeichen reden, hast du mal nach oben geschaut?«
»Was meinst du? Oh …!« Maries erstaunte Frage beantwortete sich von selbst. Unbemerkt hatten sich dicke, gewitterschwere Wolken zusammengeballt, die mit aufkommendem Wind immer schneller über den Himmel jagten und den Mond verdunkelten. Noch war er als unvollständige, blasse Scheibe zu erkennen, aber die Wolkendecke wurde zusehends dichter. In weiter Ferne jenseits des Dorfes flackerte erstes Wetterleuchten.
»Jetzt aber rasch!«, drängte Marie. Mit drei, vier Schritten hatte sie das Ufer erreicht und trat auf den sicheren Wegesrand. »Wie gut, dass wir schon so weit gelaufen sind!«, sagte sie und streifte hastig ihre Sandalen über.
Auch Ben war schnell in seine Schuhe geschlüpft. »Wir haben nur noch den Hang vor uns, auf dem dein Hof liegt; das schaffen wir, ehe das Gewitter losbricht.«
Wie selbstverständlich ergriff Marie seine Hand, und die beiden machten sich eilig auf den Rest des Heimwegs. Aus einem romantischen Mondscheinspaziergang wurde nun ein hastiges Voranstolpern über eine Wiese mit unebenem Grund und hohem Gras. Heftige Windböen, die Marie immer wieder die Haare ins Gesicht trieben, und vor allem die Finsternis erschwerten das schnelle Gehen. Wegen der dicken Wolkendecke erhellten weder Mond noch Sterne die Landschaft, und weit und breit standen keine Häuser mit erleuchteten Fenstern oder Eingängen. Dennoch war Marie nicht verängstigt, im Gegenteil, sie konnte diesem energischen Ausschreiten und immer wieder Stolpern sogar eine komische Seite abgewinnen. »Wie gut, dass diese Grünfläche jetzt nicht beweidet ist. Stell dir vor, wir hätten zwischen den Rindviechern hindurch gemusst!«, kicherte sie.
»Ganz großartig wäre eine Schar Jungbullen gewesen und die noch nervös gemacht durch das aufziehende Wetter!«, spann Benjamin den Faden weiter.
»Ja, das wäre dann wie im Film gewesen«, japste Marie, ein wenig atemlos vom raschen Anstieg. »Der Mann lenkt die Viecher ab, und die Frau rennt mit flatternden Röcken um ihr Leben.«
»Was?! Und überlässt den armen Helden seinem Schicksal? Herzloses Weibsstück!«, tat Ben empört. Er warf ihr aus lachenden Augen einen Blick zu. »Außerdem trägst du gar keine Röcke sondern Shorts.«
»Und du bist kein Held«, konterte Marie grinsend.
»Ach, nein? Dann zeig doch mal, wie du allein in der Dunkelheit nach Hause kommst!«, rief Ben und ließ ihre Hand los.
»Gern, du verhinderter Held! Das hier ist nämlich meine Wiese, und ich kenne jedes Grasbüschel!«, antwortete Marie lachend und setzte zum Endspurt an. Es waren nur noch wenige Hundert Meter bis zum Hofplatz, und die junge Frau war schnell. Nicht nur das Gewitter, auch der Spaß an der harmlosen Kabbelei mit Benjamin trieb sie an. Als mit einem gewaltigen Donnerschlag der Himmel aufriss und seine Regenfluten freisetzte, spurtete sie gerade über den gepflasterten Hofplatz und warf sich unter dem schützenden Vordach gegen die Hintertür. Kurze Zeit später stand Benjamin neben ihr, schwer atmend vom Endspurt und mit dem feuchten Schimmer des Sommerregens auf Haut und Haaren. Lachend platzten beide in die einladende Küche hinein und ließen sich am Esstisch auf die Bank fallen.
»Und? Brauche ich nun einen ritterlichen Helden, der mich sicher nach Hause geleitet?«, grinste Marie den Zimmermann an.
»Jede Prinzessin sollte einen Ritter haben«, antwortete Ben mit einer Stimme, die noch tiefer klang als gewöhnlich.
Maries Herz machte einen Satz.
Aber sie antwortete: »Dann ist es ja gut, dass ich keine Prinzessin bin!« Mühsam löste sie sich aus Benjamins intensivem Blick, stand auf und bewegte sich zu den Fenstern hinüber, um dort die Lampen anzuzünden. Sie starrte hinaus in den heftigen Regen. »Wie, äh, wie kommst du jetzt wieder nach Bergmoosbach zurück?«, überlegte sie laut.
Benjamin betrachtete ihren schmalen Rücken und die Wolke dunkler Haare, die ihre Schultern umspielten. Wo führt das hin?, dachte er erstaunt. Ich kenne sie doch erst seit kurzem und dennoch fühle ich mich mit ihr verbunden, als wären wir uns vor einer Ewigkeit schon begegnet.
Er räusperte sich irritiert und schlug dann vor: »Vielleicht kannst du mir deinen Wagen leihen? Ich bringe ihn dir in der Früh zurück. Mein Freund Niklas kommt mit, und mit seinem Wagen fahren wir dann weiter.«
Marie drehte sich um und musterte ihn nachdenklich. »Dieser ganze Aufwand lohnt sich doch kaum. Außerdem hast du bestimmt noch Alkohol im Blut, sodass du nicht fahren solltest, besonders nicht bei diesem Wetter. Wenn du möchtest, kannst du gern hier bleiben.« Sie schaute Ben nicht in die Augen, sondern fixierte einen Punkt haargenau über seinem linken Ohr. »Ich fahre dich dann morgens ins Dorf hinüber.«
Benjamin räusperte sich schon wieder. »Du meinst, ich kann über Nacht bei dir bleiben?«
»Ja. Im Haus sind so viele freie Zimmer, die auf Besucher warten. Betrachte dich als meinen ersten Gast«, antwortete Marie. Sie hatte jetzt wieder zu mehr Sicherheit zurückgefunden und lächelte Ben an. Die kleine innere Stimme, die sie davor warnte, einen eigentlich Fremden zum Übernachten ins Haus zu holen, hatte sie kurzerhand zum Schweigen gebracht.
»Dann nehme ich gern an«, antwortete er. »Es waren ein langer Tag und eine lange, schöne Nacht. Aber nun habe ich auch nichts dagegen, mich schlafen zu legen.«
»Fein, dann gehen wir nach oben«, sagte Marie scheinbar ganz unbefangen. Sie löschte die Lampen in der Küche, holte frisches Bettzeug und Handtücher und zeigte Ben sein Zimmer. »Du kannst gern noch duschen, wenn du magst. Das Wasserrauschen stört mich nicht, mein Zimmer liegt am anderen Ende des Flures.« Sie schaute zu ihm auf. »Es waren ein schöner Tag und ein noch schönerer Abend. Dank dir dafür, Ben. Ich wünsche dir eine gute Nacht.«
»Gute Nacht, Marie«, antwortete er leise.
Ben zog sich ein sein Zimmer zurück. Er öffnete das Fenster, ließ sich aufs Bett fallen, und versuchte, seine Gedanken und Gefühle zu ordnen.
Er empfand Marie als eine außergewöhnliche Frau; außergewöhnlich hübsch und attraktiv und außergewöhnlich empfindlich, ohne aber launenhaft zu sein.