Als Ben am nächsten Morgen aufwachte, ging es seinem Kopf und seinem Bein nicht besser, obwohl er für ausreichend Ruhe und Kühlung gesorgt und ein starkes Schmerzmittel genommen. Hunger verspürte er zwar keinen, aber er zwang sich, ein kleines Müsli zu essen, um eine Grundlage für die nächsten Medikamente zu schaffen
Lange starrte er auf die beiden weißen Tabletten in seiner Handfläche. »Warum nur gibt es keine Medizin gegen Herzschmerz?«, murmelte er bitter. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen die Gefühle von Trauer und Verlassenheit, die ihn überrollten, sowie er an Marie dachte. Wie sie ihn angesehen hatte, als er in der Küchentür stand! Alleine, diese Erinnerung trieb ihm die Tränen in die Augen, und er musste hart schlucken. Am liebsten würde er jetzt mit Vollgas zum Ebereschenhof rasen, Marie in seine Arme schließen und nie wieder von seiner Seite lassen. Er liebte und vermisste sie so sehr, dass es wehtat. Aber ebenso schmerzte ihn die Erkenntnis, dass sie ihm nicht genug vertraute, um an ein gemeinsames Leben zu glauben.
»Was kann ich denn nur tun, dass du mir wirklich vertraust?«, fragte er verzweifelt in die Stille hinein. Mit einer hilflosen Geste wischte er sich die Tränen aus den Augenwinkeln und schüttelte über sich selbst den Kopf. Jetzt fing er wahrhaftig schon an, Selbstgespräche zu führen! Er riss sich zusammen und konzentrierte sich auf die Arbeiten, die heute vor ihm lagen. Das einzige, was er für Marie – und vielleicht für sie beide als Paar – tun konnte, war, stetig und zuverlässig seine Aufgaben beim Hausbau auszuführen. Wenn Marie erlebte, wie verantwortungsvoll er sich um die Arbeiten kümmerte, vielleicht gewann sie dann genug Vertrauen, um der Beständigkeit seiner Liebe zu glauben.
Als er auf den Hof kam, empfing ihn Stille. Marie schien nicht hier zu sein oder noch zu schlafen. Da er einen eigenen Schlüssel besaß, kam er ohne Probleme ins Haus und machte sich an die Arbeit. Naturgemäß war die laut, und wenige Zeit später öffnete sich Maries Zimmertür. Zögernd trat die junge Frau in den Flur. Ben ließ den Zollstock sinken und schaute Marie stumm an.
Sie schien in ihren Kleidern geschlafen zu haben, und das schöne, dunkle Haar hing wirr und stumpf um ihr Gesicht. Tiefe Schatten lagen unter ihren Augen, und sie war geradezu geisterhaft blass. »Ben!«, sagte sie. Ihre Stimme klang heiser, so als ob über Nacht die Worte in ihr eingerostet waren.
»Guten Morgen, Marie«, antwortete er. Zu mehr war er nicht fähig.
Die junge Frau machte eine hilflose Geste, fast sah es so aus, als wolle sie die Hände nach ihm ausstrecken, aber dann strich sie sich doch nur die wirren Haare aus dem Gesicht. »Ich will Kaffee kochen, möchtest du auch einen?«, fragte sie leise.
»Nein, danke, nicht jetzt«, murmelte Ben. Ihm war übel, und irgendetwas schien mit dem Licht im Raum nicht zu stimmen, Maries Umrisse begannen zu verschwimmen. Er konnte sie nicht klar erkennen. Die Hitze und das Pochen in seinem linken Bein beherrschten jetzt seinen ganzen Körper. Er musste unbedingt hier raus, draußen an der frischen Luft würde es ihm bestimmt besser gehen. »Ich …, das Windbrett hinten am Giebel …, ich muss es richten«, murmelte er.
»Ben?« Beunruhigt durch sein seltsames Verhalten, schaute Marie ihn genauer an und erschrak: er schwankte und schien vor Fieber zu glühen. »Ben! Was ist passiert, du siehst furchtbar aus!« Sie wollte ihn in die Arme nehmen, aber der Mann machte eine abwehrende Handbewegung.
»Lass gut sein, Marie, ich komm schon klar!«, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
»Nichts ist gut! Du bist krank, Ben! Bitte, lass dir doch von mir helfen!«, sagte Marie angstvoll.
»Aber gern doch …, Senta!«, stieß er spöttisch hervor, drehte sich um und stieg langsam die Treppe herab. Es war nicht zu übersehen, wie schwerfällig und unsicher seine Schritte waren und dass sie ihm Schmerzen bereiteten.
Marie war wie gelähmt von seiner Reaktion. Noch nie hatte er sie verspottet! Und so, wie er aussah und wirkte, ging es ihm sehr schlecht. Egal, was sich dahinter verbarg, Benjamin brauchte einen Arzt!
Mit zitternden Fingern wählte Marie die Nummer von Doktor Seefeld. Die erfahrene Sprechstundenhilfe Gertrud hörte schon an der Stimme, dass es sich nicht um einen hysterischen Anruf, sondern um einen dringenden Notfall handelte, und stellte Marie sofort zum Arzt durch, obwohl dieser in einem Patientengespräch war.
»Bitte, entschuldigen Sie, das hier scheint sehr dringend zu sein!«, sagte er zu seiner Patientin und konzentrierte sich dann ganz auf Maries Anruf.
Sein Gesicht wurde während des Zuhörens sehr ernst, und er stellte einige knappe Frage. Mit einer weiteren, kurzen Entschuldigung gegenüber seiner Patientin war er schon zur Tür hinaus gestürzt. »Informieren Sie meinen Vater, er muss hier übernehmen!«, rief er Gertrud zu, griff seine einsatzbereite Arzttasche und den Notfallkoffer und rannte zu seinem Wagen.
So schnell es ging, fuhr er durchs Dorf und auf die Landstraße, die aus dem Ort hinaus führte. Dabei ging er im Kopf die Symptome durch, die ihm Marie geschildert hatte. Auch von einem rostigen Nagel war die Rede gewesen. Alles in allem hörte sich das nach einer schweren Blutvergiftung an. Wenn dieser Zustand wirklich schon seit Tagen andauerte, war höchste Eile geboten!
Sebastian Seefeld gab Gas und überschritt ohne mit der Wimper zu zucken die Geschwindigkeitsbeschränkung auf Landstraßen, wurde aber gleich hinter der nächsten Kurve ausgebremst: eine Viehherde wechselte von einer Weide zur nächsten über die Landstraße, Kuh an Kuh zog gemächlich an seinem Wagen vorbei und die eine oder andere blieb auch mal stehen, um freundlich durch sein Fenster zu ihm herein zu schauen.
Sebastian konnte Kühe gut leiden, und vor allen Dingen liebte er das Landleben, aber jetzt wünschte er sich in eine Großstadt, wo er mit Blaulicht und Sirene jedes Hindernis hätte aus dem Weg fegen können! Hier blieb ihm nur übrig, die Zeit abzuwarten, bis Rind um Rind und schließlich der Huber Bauer mit einem freundlichen »Pfuiat Eana, Doktor!« an ihm vorüber gezogen waren. Und das konnte dauern … Der Landdoktor biss die Zähne zusammen und übte sich in Geduld.
Auf dem Ebereschenhof hatten sich die Ereignisse inzwischen dramatisch zugespitzt.
Trotz seiner schlechten Verfassung war Ben auf dem Weg zum rückwärtigen Giebel, um dort ein loses Windbrett zu befestigen. Jeder Schritt schmerzte unerträglich, und das Tragen der Leiter stellte ihn vor eine kaum lösbare Aufgabe. Aber Stolz und Sturheit hielten ihn aufrecht.
Nachdem Marie ihr Telefonat mit Doktor Seefeld beendet hatte, machte sie sich voller Angst auf die Suche nach Ben. Was hatte der Mann vorhin gesagt? Etwas von einem Windbrett? Marie stockte der Atem! Benjamin würde doch wohl nicht so leichtsinnig sein und hoch bis unters Dach steigen? Er konnte sich doch kaum noch auf den Beinen halten!
Sie rannte nach draußen, laut seinen Namen rufend. An der östlichen Giebelfront hatte sich ein Windbrett gelockert, deshalb wandte Marie sich sofort dieser Seite des Gebäudes zu. Als sie um die Ecke bog, sah sie zu ihrem Entsetzen, dass sich ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiteten: an der Giebelseite lehnte eine Leiter, und langsam arbeitete Benjamin sich Sprosse für Sprosse in die Höhe.
»Ben! Was tust du! Bitte, bitte, komm wieder runter! Du bist krank, du schaffst es nicht bis oben!«, rief Marie verzweifelt.
Als Ben ihre Stimme hörte, blieb er keuchend stehen. Sein Herz raste, und sein Mund war wie ausgedörrt. Erschöpft ließ er seine fieberheiße Stirn gegen die nächste Leitersprosse sinken. Er hörte ihr Rufen, konnte aber die einzelnen Worte nicht verstehen. Das seltsam hohe, metallische Klingeln in seinen Ohren übertönte alle anderen Geräusche. Und die Leiter schwankte, er konnte nichts dagegen tun. Sie schwankte, und er schwankte mir ihr, die ganze Hauswand bewegte sich, bewegte sich weg von ihm. Er hörte einen unfassbar lauten Schrei, der für einen Sekundenbruchteil seine Benommenheit zerriss, und dann wurde alles schwarz.
Marie stand wie gelähmt, als sie den beginnenden