Der neue Landdoktor Paket 1 – Arztroman. Tessa Hofreiter. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Tessa Hofreiter
Издательство: Bookwire
Серия: Der neue Landdoktor
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783740980672
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ich hab mir gestern Abend schon einige Gedanken zu diesem Auftrag gemacht, und da wurde mir klar, dass wir mehr Zeit für das Aufmaß brauchen werden. Wenn es Ihnen also recht ist, machen wir einfach so lange weiter, bis alles geklärt ist«, schlug Ben vor. »Und wenn es bis in die Nacht hinein dauert.«

      »Das will ich nicht hoffen!«, entgegnete Marie spontan. Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, wäre sie vor Verlegenheit am liebsten im Erdboden versunken. Wie hatte das denn geklungen! Abwehrend und unfreundlich und so, als wollte sie den Zimmermann so schnell wie möglich wieder vom Hof haben.

      Marie wich zurück. »Ich wollte nicht unhöflich klingen«, erklärte sie steif. »Und ich danke Ihnen, dass Sie sich spontan so viel Zeit nehmen.«

      »Hm«, machte Ben, »das sagen Sie vielleicht nicht mehr, wenn Sie meine Rechnung gesehen haben.«

      Darauf fehlten Marie die Worte, sie starrte ihn einfach nur erschrocken an. Plötzlich tat sie Ben leid. Was musste diese Frau in der Vergangenheit durchgemacht, wie hart musste sie gekämpft haben, dass sie sich so leicht verunsichern ließ?

      »Hören Sie, bitte«, sagte er sanft, und seine tiefe Stimme wurde zu etwas Warmen, Beschützenden, das über Maries verkrampfte Schultern glitt. »Das mit der Rechnung war nur ein Scherz, und ich weiß, dass Sie nicht unhöflich klingen wollten. Das können Sie gar nicht! Wir wissen doch schon, dass wir gut zusammenarbeiten werden, nicht wahr? Aber dann dürfen Sie auch nicht so leicht erschrecken und sich in ihr Schneckenhaus zurückziehen und mich mit so großen, traurigen Rehaugen anschauen, dann bekomme ich nämlich gar nichts mehr richtig auf die Reihe.« Er streckte ihr behutsam seine Hand entgegen. »Wollen wir es nicht ein bisschen weniger förmlich mit einander versuchen? Ich bin Benjamin, für meine Freunde einfach Ben.«

      Zögernd legte die junge Frau ihre Hand in die des Mannes. Ihr Blick war ernst und gleichzeitig erfüllt von einem feinen Leuchten. »Marie!«, sagte sie schlicht.

      Für einen Moment stand sich das Paar so gegenüber, Hand in Hand, und verbunden durch einen Blick, in dem unauslotbare Tiefe mitschwang.

      Was tue ich hier?, dachte Marie verschwommen. Das klingt ja fast wie ein Versprechen, das wir uns geben. Es fühlt sich so gut an, so seltsam vertraut – aber was soll das? Ich weiß doch, dass ich niemandem mehr vertrauen kann.

      Langsam zog sie ihre Hand zurück, aber ihre Augen suchten immer noch den intensiven Blick des Mannes. »Dann werden wir wohl den ganzen Tag mit einander verbringen«, sagte sie endlich.

      »So ist es, Marie«, antwortete Ben sanft und trat einen Schritt zurück, um den geheimnisvollen Kreis zu verlassen, der sich eben um sie geschlossen hatte. Wäre er länger so nah bei ihr geblieben, berührt vom Bann ihrer dunklen Augen und der widerstreitenden Gefühle, die er darin erkannte –, dann hätte er sie geküsst. Und das wäre im Augenblick so ziemlich das Verkehrteste, was er tun konnte, dessen war Ben sich sicher! Also konzentrierte er sich auf die nächsten Schritte seiner Arbeit und folgte der jungen Frau durch ihre Pläne, maß, berechnete und füllte Seite um Seite seines Notizbuches.

      Bis auf eine Pause für Kaffee und einen kleinen Imbiss arbeiteten sie wirklich so lange durch, bis das Abendläuten aus dem Dorf verstummt war. Dann hatten sie alles erfasst, und mit hörbarer Genugtuung klatschte Ben sein Buch auf den Küchentisch neben Maries Pläne. »So, genug getan für heute! Jetzt haben wir uns den Feierabend redlich verdient.«

      »Recht hast du!«, stimmte Marie ihm bei. In Gedanken überschlug sie den Inhalt ihrer Speisekammer und stellte fest, dass es nicht für zwei Hungrige reichen würde. Zu einem größeren Einkauf war ihr nicht die Zeit geblieben. »Ich kann dir leider nur Brezen und Bier anbieten, und das ist nun nicht wirklich toll nach einem langen Arbeitstag«, sagte sie betrübt.

      Ben lachte. »Hast du denn auch so großen Hunger wie ich?«

      »Leider ja«, antwortete die junge Frau, »und noch nicht einmal eine Pizza im Kühlschrank.«

      »Hm, das wirft aber kein gutes Licht auf dich als angehende Pensionswirtin!«, neckte er Marie.

      »Ich werde eine Frühstückspension führen, und zum Frühstück gibt’s bei mir keine Pizza!«, erinnerte ihn die junge Frau resolut.

      »Recht so«, schmunzelte Ben. »Was hältst du denn davon, wenn du hier jetzt Fenster und Türen schließt, wir beide fahren runter ins Dorf, setzen uns in den Biergarten und haben einfach ein gemütliches Abendessen zusammen?«

      »Gute Idee! Während ich meine Autoschlüssel hole, setzt du dich auf die Hausbank und isst als kleine Vorspeise die restlichen Brombeeren.« Marie reichte ihm die Schüssel hinüber und lief dann durchs Haus, um Fenster und Türen zu schließen. Mit einer leichten Strickjacke und ihrer Tasche in der Hand trat sie schließlich hinaus zu dem Mann, der gemütlich an der Hauswand lehnte, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen halb geschlossen.

      »Schön hast du’s hier, Marie«, sagte er bedächtig. Sein Blick glitt über das sanfte Grün des Hügels unterhalb des Hofes, umfasste die beiden Sternwolkenseen und das Dorf, das sich dazwischen erstreckte. Abgesehen vom leisen Geräusch des Windes in den Ebereschen und den hellen Vogelstimmen war es absolut still hier oben. Das Blau des unendlichen Himmels spiegelte sich im Blau der Seen und dem schmalen Fußverlauf am Rand des Dorfes. »Wirklich schön«, wiederholte er und fügte dann behutsam hinzu: »Und auch – ein wenig einsam, so ganz allein abseits des Dorfes?«

      Marie setzte sich neben ihn. Sie zog die Beine auf die Bank, umschlang sie mit ihren Armen und wiegte sich gedankenverloren vor und zurück. »Weißt du, einsam kann man auf so viele verschiedene Arten sein«, begann sie tastend. »Als ich jetzt zum ersten Mal in mein Elternhaus zurück kam und niemand war mehr hier, das war schon schlimm. Ich stand abends auf dem Hofplatz, sah unten im Dorf die erleuchteten Fenster, und hinter mir war alles totenstill und dunkel. Da hab ich mich schon sehr einsam und verloren gefühlt.

      Aber in Frankreich, wo wir eine eigene Firma hatten und ich ein sogenanntes großes Haus mit vielen Einladungen führte, da war ich immer von vielen Menschen umgeben und habe mich dennoch einsam gefühlt. Man kann mit vielen Menschen reden, essen, vielleicht tanzen und lachen, und dennoch begegnet man ihnen nicht wirklich. Da ist es mir lieber, ich bin lebe hier alleine, und wenn ich Menschen treffe, dann begegne ich ihnen wahrhaftig.«

      Ben suchte Maries dunklen Blick. »So wie wir uns begegnen?«, fragte er behutsam.

      Marie nickte, und wieder war ihre Antwort Ernst und Lächeln zugleich. »Ja, so wie wir uns begegnen«, wiederholte sie seine Worte.

      Dann schüttelte sie den Kopf, als wolle sie etwas Bestimmtes vertreiben, und lachte leise auf. »Vielleicht sollte ich nicht so schwärmerisch vom Alleinsein sprechen«, meinte sie leichthin. »Bald wird eine Menge Handwerker für eine Menge Unruhe auf dem Hof sorgen, und über zu wenig Gesellschaft kann ich mich dann nicht beklagen. Und übrigens werde ich einen Hund und mindestens eine Katze haben!«

      »Recht so!«, lächelte Ben. »Und bis es so weit ist, nimmst du da mit meiner Gesellschaft vorlieb?«

      »Sehr gern!«, rief Marie und sprang auf die Beine. »Und jetzt lass uns bitte fahren, sonst übertönt noch das Knurren meines Magens unsere tiefsinnigen Gespräche!«

      *

      Im Biergarten waren schon etliche Plätze belegt. Schmale Tische und Bänke wechselten sich ab mit anderen Sitzgruppen, Lampionketten schaukelten in den alten Bäumen, und zwischen Küche und Garten herrschte reger Betrieb. Lisa und Ben entschieden sich für den Tisch, an dem schon die beiden Seefelds und Traudel mit ihrer Freundin Regina, der Haushälterin des Pfarrers, saßen.

      »Grüß Gott! Schön, dass Sie sich zu uns setzen«, wurden sie freundlich begrüßt.

      Marie lächelte schüchtern. Sie kannte vor allem Benedikt Seefeld gut, seit ihrer Kindheit war er der Arzt der Familie Höfer gewesen. Es war schön, nach so vielen Jahren der Abwesenheit wieder Aufnahme in den vertrauten Personenkreis zu finden, und gleichzeitig machte es sie befangen. Was, wenn sie nach ihren Jahren in Frankreich gefragt wurde? Sie mochte nicht über ihr so unglücklich verlaufenes Leben sprechen, das war nichts für die Öffentlichkeit.