»Ich kann mir gut vorstellen, dass die Arbeit unter diesen Umständen eine Menge Spaß macht«, lachte Ben.
»Schon«, stimmte Sebastian schmunzelnd zu. »Nur war es am anderen Tag, als die Straßen wieder befahrbar waren, ein hartes Stück Arbeit, den guten Mann zur Verlegung ins Krankenhaus und zur dringend nötigen OP zu bewegen. Durch die starken Medikamente war er praktisch wie im Vollrausch und er meinte, es ginge ihm ja so gut!«
Gerade wurden für Marie die bestellten Alpenmakrönli und für Ben Allgäuer Kässpatzen serviert. Der junge Zimmermann griff nach der Gabel und drehte sie nachdenklich in der Hand.
»Das mit dem Rausch unter Schmerzmitteln kann ich gut verstehen«, sagte er. »Wie jeder in meiner Zunft habe auch ich einmal einen etwas zu intensiven Kontakt mit der Kreissäge gehabt.«
Marie stockte der Atem.
Ben bemerkte ihr Erschrecken und lächelte sie beruhigend an. »So schlimm war es dann doch nicht«, erklärte er. »Es handelte sich zwar um einen sehr tiefen Schnitt, aber alle Finger waren noch dort, wo sie hingehörten. Trotzdem kam mir die Zeit, bis der Notarzt da war, wie eine Ewigkeit vor. Und nach der ersten Spritze hab ich erst vor Erleichterung geheult und dann jede Menge Blödsinn erzählt.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Der Notarzt war eine Notärztin, und ich glaube, ich habe ihr erst einen unsittlichen Antrag und dann einen Heiratsantrag gemacht. Darauf hat sie mir noch eine Spritze gegeben, und ich war weg.«
Marie stimmte in das Lachen der Runde mit ein und sie spürte, wie ihr Herz sich Stück für Stück immer weiter öffnete: dem Leben, der Unbeschwertheit und auch diesem Mann. Sie bewunderte, wie offen Benjamin von seinen Gefühlen sprechen konnte. Er schämte sich seiner Schmerzen nicht, nicht seiner Tränen und auch nicht wegen seines Verhaltens, als er offenbar nicht ganz zurechnungsfähig gewesen war. Das beeindruckte Marie, und insgeheim wünschte sie sich auch etwas von dieser Selbstsicherheit.
Unbewusst streckte sie ihre Finger und berührte Bens Hand an der Stelle, an der eine breite Narbe von der alten Verletzung erzählte. Marie spürte Bens Lächeln mehr, als dass sie es sah, und sie wusste, dass es ihr und der flüchtigen Zärtlichkeit ihrer Berührung galt.
Mit Schwung wurden neu gefüllte Maßkrüge auf den Tisch gestellt, und der kleine, intime Augenblick flog davon. »Ja, wen seh‘ ich denn da? Die Marie ist wieder im Lande!« Offenbar hatte das Personal Schichtwechsel gehabt, und die neue Kellnerin musterte Marie mit überdeutlicher Neugier. Die Frau war jünger als Traudel und ihre Freundin und längst nicht so freundlich. Sie hieß Afra, betrieb seit Jahren den Zeitungskiosk von Bergmoosbach und hörte das Gras wachsen, ehe sich überhaupt eine Halmspitze aus dem Boden hervorwagte. Offensichtlich arbeitete sie jetzt auch als Kellnerin für die Brauerei Schwartz. »Ich mochte es ja kaum glauben, was mir die Lisa vorhin im Salon erzählt hat! Daheim bleiben willst du, den Hof umbauen und eine Pension betreiben? Und das alles ohne deinen Mann, den Fabian?«
Marie zuckte zusammen, aber dann erinnerte sie sich an das, was Ben über sie und ihr Schneckenhaus gesagt hatte. Sie reckte das Kinn in die Luft und schaute Afra genau in die Augen. »Ja, genau!«, sagte sie fest.
»Aber übernimmst du dich damit nicht? Soviel Arbeit und soviel Verantwortung und das ganz allein, das kann doch nicht gut gehen!« Missbilligend kniff die Frau ihre Lippen zusammen.
»Afra, eure Kässpatzen haben mir nicht gereicht. Bring mir bitte noch den Wurstsalat mit dem Sauerteigbrot!«, meldete Ben sich zu Wort.
Die Kellnerin nickte, richtete ihre Aufmerksamkeit aber weiterhin auf Marie. »Selbstständig machen willst du dich also?«, fuhr sie ungerührt fort. »Wenn daraus man was wird! Und dabei könntest du doch ein gutes Stück Geld verdienen, wenn du den Hof verkaufst.«
»Ich verkaufe nicht und damit Schluss der Diskussion!«, sagte Marie energisch. »Und übrigens kannst du uns zwei Portionen Wurstsalat bringen, ich bin auch nicht satt geworden.«
Afra sammelte die leeren Bierkrüge ein und hielt immer noch an ihrem Thema fest. »Du solltest dir das mit dem Hof gut überlegen, Madel! Eine falsche Entscheidung hast du ja bereits getroffen, und Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall!«
Ben räusperte sich bedrohlich, und Benedikt Seefeld setzte seinen Maßkrug mit einem deutlichen Knall auf den Tisch. »Überleg‘ dir, was du redest, Afra!«, sagte er streng. »Wann ist Marie jemals hochmütig gewesen?«
»Ich mein‘ ja nur, es musste ja unbedingt dieser Franzose sein, mit all seinem Geld und dem Schloss bei Paris und …«,
»Es war kein Schloss!«, unterbrach sie Marie genervt. »Und wenn du dich jetzt nicht sofort um unsere Bestellung kümmerst, gehe ich rüber zum Wirt und beschwere mich über die schwatzhafte Bedienung!«
»Pah! Ich und schwatzhaft! Keinen Respekt hast du, Madl!« Wütend rauschte Afra davon.
Sebastian Seefeld hob seine Maß. »Na, dann auf einen gemütlichen Abend im Biergarten!«, sagte er ironisch.
Zu ihrem eigenen Erstaunen hörte Marie sich lachen. »Was kümmert mich das Gerede? Wir haben doch wirklich einen schönen und gemütlichen Abend miteinander!«
»Haben wir!«, bestätigte die tiefe, warme Bassstimme neben ihr, und der peinliche Auftritt Afras geriet in Vergessenheit.
Die Dämmerung war in das sanfte Blau der Nacht übergegangen, und im Laub der alten Lindenbäume leuchteten die Lampionketten, welche den Biergarten umspannten. Der fast vollständig gerundete Mond wanderte über das Dorf, schien die Kirchturmspitze zu berühren und überzog die Dächer mit seinem blau-silbernen Licht.
Erfüllt von ihrem erfolgreichen Tag und diesem schönen Abend, reckte Marie ihre Arme weit über den Kopf und sagte in die Runde: »Wisst ihr, was? Es ist eine so wunderschöne Nacht, ich habe große Lust, zu Fuß nach Hause zu gehen.«
»Da haben Sie sich aber einiges vorgenommen«, meinte Sebastian Seefeld. »Das dauert doch sicher gut eine Stunde von hier bis zum Ebereschenhof.«
»Und es gibt keine Straßenlaternen außerhalb des Ortes«, erinnerte sein Vater. Die beiden Männer hatten bezahlt und waren im Aufbruch, Traudel und ihre Freundin hatten sich schon früher verabschiedet.
»Ich brauche keine Laternen«, meinte Marie verträumt. »Der Mond scheint doch ganz hell. Ich gehe einfach immer die Landstraße entlang, und dann bei mir den Hügel hinauf.«
Ben musterte sie interessiert. »Ein Mondscheinspaziergang? Das klingt gut. Wenn es dir recht ist, begleite ich dich nach Hause.«
»Und wie kommst du dann wieder zurück ins Dorf?«, überlegte Marie. »Du könntest meinen Wagen nehmen.«
»Das klärt ihr jungen Leute unter euch, ich jedenfalls muss jetzt ins Bett. Gute Nacht, alle miteinander!«, sagte Benedikt Seefeld. Er und sein Sohn verabschiedeten sich und gingen gemeinsam hinüber zum Doktorhaus.
Marie und Ben schlenderten zum Ausgang des Biergartens. Rechts musste man abbiegen, um zum Ebereschenhof zu gelangen, links ging es zu Benjamins Wohnung. Der Mann stand so nahe bei Marie, dass sie seine Wärme spüren konnte.
»Willst du wirklich den ganzen Weg laufen?«, fragte er leise. »Die zeitliche Einschätzung des Doktors stimmt sicher, zumal jetzt in der Dunkelheit. Soll ich dich nicht lieber fahren?«
»Wie viel haben wir getrunken? Jeder eine Maß und danach noch Federweißer!«, erinnerte ihn Marie. »Jetzt Auto zu fahren ist keine gute Idee.«
»Hm, da hast du recht«,