»Bitte setzen Sie sich«, forderte Marie den Zimmermann auf. »Kann ich Ihnen eine Tasse Kaffee anbieten?«
Ben nahm das freundliche Angebot dankend an, und kurze Zeit später saßen er und die junge Frau vor Bechern mit aromatisch duftenden Inhalt und einer dicken Mappe mit Unterlagen am Tisch.
Marie holte tief Atem und sagte: »Der Tod meiner Eltern hat in jeder Hinsicht zu großen Veränderungen geführt. Ich werde den Hof nicht weiter wie bisher bewirtschaften, sondern in eine Pension umbauen. Ich biete Übernachtungsmöglichkeit mit Frühstück an. Dafür sind größere Umbaumaßnahmen nötig, denn ich möchte den Gästebereich vom Privaten trennen. Für mich selbst möchte ich hier im Erdgeschoss eine kleine Wohneinheit einrichten, während das obere Stockwerk den Gästen gehört. Außerdem brauche ich einen Anbau für das Frühstückszimmer. Ich dachte an einen schönen Wintergarten aus Holz und Glas in süd-östliche Richtung, damit meine Gäste die Morgensonne genießen können. Ich habe einige Entwürfe gezeichnet …«, hier stockte sie und wurde ein bisschen rot. »Natürlich sind das laienhafte Zeichnungen, die nicht für Ihre Baupläne taugen. Aber vielleicht bekommen Sie so einen kleinen Einblick in das, was ich mir vorstelle.«
Aufmerksam begutachtete Ben die großen Papierbögen, welche Marie ihm reichte. Schnell erkannte er, was diese Auftraggeberin von ihm erwartete, und nickte zufrieden. Als er die letzte Seite umgeblättert hatte, schaute er die junge Frau mit einem leisen Lächeln an. »Das, was Sie vorhaben, ist schön«, sagte er schlicht.
In Maries dunklen Augen erwachte ein vorsichtiges Leuchten. »Sie verstehen, was ich meine?«
Der Zimmermann nickte. »Ja! Sie lieben dieses Haus und wollen seine Seele erhalten. Der Wintergarten, zum Beispiel, könnte ein kaltes Ding aus Metall und Beton sein, das überhaupt nicht zu dem alten Hof und in die Landschaft passt. Sie werden hier etwas verändern, aber Sie tun es behutsam und so, dass es sich richtig für Sie anfühlen wird.«
Marie wandte den Kopf ab und tat so, als gäbe es draußen vor dem Fenster etwas ungeheuer Interessantes zu sehen. Das war nur ein Vorwand, denn sie wollte nicht, dass der Mann die Tränen sah, die in ihren Augen glitzerten. Seine Worte hatten sie mitten ins Herz getroffen. Noch nie hatte ein Mann sie so verstanden. Es waren doch nur Striche auf dem Papier, und er hatte darin ihre Seele erkannt.
Sie blinzelte die Tränen weg, räusperte sich und sagte: »Es freut mich, dass Sie es ebenso sehen. Der Umbau eines alten Hauses ist nicht einfach und oft kommen wahre Scheußlichkeiten dabei heraus. Sie sind der Fachmann, und ich bin auf Ihre Ratschläge angewiesen. Wenn wir in ein und dieselbe Richtung denken, werden wir sicherlich gut zusammenarbeiten.«
Das waren nüchterne und sachliche Worte, und sie passten zu einem Arbeitsgespräch. Warum fühlte es sich dann gleichzeitig so an, als sei Maries Herz kein harter Klumpen mehr, sondern etwas Weiches, Warmes, das ihre Brust mit Leichtigkeit erfüllte? Das ein Gefühl von Hoffnung und leise aufkeimender Freude hervorrufen konnte?
Ben blätterte noch einmal durch die Zeichnungen, schaute sich prüfend in der Küche um und warf Marie einen fragenden Blick zu. In seinen klaren blau-grünen Augen funkelte ein Ausdruck, der sich in seinem verschmitzten Lächeln fortsetzte. »Für die Küche haben Sie keine Pläne gezeichnet?«, fragte er.
»Nein, die bleibt, wie sie ist!«, antwortete Marie nachdrücklich. »Sie ist das Zentrum meines Hauses und wird nicht verändert.«
Ben lachte leise. »Genau das habe ich erwartet«, sagte er.
»Ich muss einiges umorganisieren, weil ich wegen der Gäste mehr Geschirr benutze, und ich brauche auch einen größeren Kühlschrank, aber das war’s dann auch«, erklärte Marie.
Ben schaute sie interessiert an. Wie sehr sie sich im Laufe des Gesprächs verändert hat, dachte er. Die Traurigkeit, die ich zuerst gespürt habe, ist in den Hintergrund getreten. Jetzt ahnt man viel mehr von der Lebensfreude und Energie, die in diesem Persönchen stecken.
»Darf ich Sie etwas Persönliches fragen?«, wagte er sich vor. »Ich habe gehört, dass Sie erst vor kurzer Zeit nach Bergmoosbach zurückgekehrt sind. Eigentlich leben Sie in Frankreich? Diese Pläne, die Sie mir gezeigt haben, sind sehr ausgereift. Haben Sie sich schon länger damit beschäftigt? Und bleiben Sie jetzt gleich hier oder kehren Sie erst wieder nach Frankreich zurück?«
Über Maries Gesicht huschte ein schmerzerfüllter Schatten, und ihre Augen wurden dunkel. »Meine Eltern und ich hatten schon vor längerem von der Zukunft des Ebereschenhofs gesprochen und beschlossen, ihn eines Tages in eine Pension umzuwandeln. Sie wollten hier aufs Altenteil gehen, und ich würde den Betrieb bewirtschaften. Dass es dann so schnell ging, erst mit Mutters Tod und dann dem des Vaters, damit hatten wir nicht gerechnet.« Maries Stimme, die eben noch voller Lebensfreude geklungen hatte, war jetzt sehr leise und füllte sich bei den nächsten Worten mit Bitterkeit. »Und ich war in Frankreich gebunden und musste warten, bis … ich bestimmte Dinge erledigt hatte.«
Ben spürte den Schmerz hinter diesen Worten und hätte gern tröstend nach Maries Hand gegriffen, aber er wusste auch, dass man mit fremden Schmerz sehr behutsam umgehen muss. So blieb es bei seinem Blick, klar und anteilnehmend, der Marie über diese Hürde hinweghalf.
»Aber das liegt nun hinter mir, und ich kann hier in meinem Heimatort neu beginnen«, sagte sie ruhig. »Ein erster Schritt in die Zukunft sind die Gespräche mit Ihnen und Ihr Kostenvoranschlag.«
Ben überlegte. »Die Begehung der Gebäude und das genaue Aufmaß werden mehr Zeit in Anspruch nehmen, als ich für heute eingerechnet habe. Ist es Ihnen recht, wenn ich morgen früh wiederkomme und wir den ganzen Vormittag für die Einzelheiten einplanen?«
»Sehr gern!« Marie wusste es nicht, aber ihr Gesicht leuchtete bei diesen Worten.
»Gut, dann bin ich also morgen in der Früh wieder hier; sagen wir, um acht Uhr?«, fragte Ben.
»Ich freu‘ mich drauf und …«, Maries Antwort wurde von einem Paar unterbrochen, das durch die Hintertür in die Küche trat und freundlich grüßte. Die beiden Besucher waren der junge Doktor Seefeld und Hebamme Anna Bergmann.
»Wir kommen von unserer Runde mit den Hausbesuchen, und ich dachte, auf dem Heimweg möchte ich auch nach meiner Patientin auf dem Ebereschenhof schauen«, erklärte Doktor Seefeld.
Ben horchte auf. Patientin? War Marie denn krank?
Die junge Frau seufzte leicht. »Hatten wir uns nicht gestern darauf geeinigt, dass ich nicht Ihre Patientin bin, Herr Doktor? Es geht mir gut, und außer ein paar blauen Flecken erinnert nichts an meinen Sturz.«
»Sie sind gestürzt?«, erkundigte sich Ben besorgt. »Wie kam es denn dazu?«
Marie wurde rot. »Doktor Seefeld hat mich übersehen, ich bin mit einem Stapel Konservendosen zu Boden gegangen, dabei hat es ein paar blaue Flecken gegeben und Ende der Geschichte. Reden wir bitte von etwas anderem! Möchte noch jemand einen Kaffee haben?« Sie schaute auffordernd in die Runde.
Die Hebamme und der Arzt wechselten einen fragenden Blick. Doch, für eine kleine Pause vor den nächsten Terminen reichte die Zeit. »Danke, einen Kaffee nehmen wir gern an«, antwortete Sebastian Seefeld, und Anna nickte mit einem freudigen Lächeln.
Im Handumdrehen stellte Marie zwei weitere Becher auf den Tisch und zauberte einen herrlichen Allgäuer Apfelkuchen hervor, den sie gegen das Gefühl der Einsamkeit im stillen Elternhaus gebacken hatte. Er schmeckte genauso herrlich, wie er duftete und aussah. Die Einsamkeit löste sich in Nichts auf, als Marie in der alten Küche saß, die endlich wieder von lebhaften Gesprächen und Gelächter erfüllt war. »Klopf, klopf!«, mischte sich plötzlich eine weibliche Stimme in das Gelächter der gut gelaunten Runde. »Na, ich muss schon sagen, ihr habt’s aber gut hier!« Mit diesen Worten betrat Lisa die Küche. Flink liefen ihre Augen über die Anwesenden und kehrten dann wieder zu dem gut aussehenden Zimmermann zurück. »Schön,