»Sollten Sie sich entscheiden, als klassischer Landarzt zu arbeiten, so wird Ihnen vielleicht die Frage gestellt: ist das nicht langweilig? Ein langes, hartes Studium über sechs Jahre, anschließend noch die fünfjährige Ausbildung zum Facharzt – und wofür? Um Erkältungen zu kurieren, eine Nagelbettentzündung zu heilen und Kompressionsstrümpfe gegen Krampfadern zu verschreiben? Stundenlang über abgelegene Straßen zu kurven, um Hausbesuche zu machen? Und das alles auf dem Land, ohne die attraktiven Freizeitangebote und Ablenkungen einer städtischen Umgebung!«
»Genau das frage ich mich auch!«, raunte einer der jungen Studenten seiner Nachbarin zu.
Diese zuckte mit den Achseln. »Es wird schon was dran sein«, flüsterte sie zurück, leicht genervt von der Ablenkung. »Oder glaubst du, jemand, der an diesem berühmten Klinikum in Toronto gearbeitet hat, gibt das auf für nichts und wieder nichts?«
»Keine Ahnung; für mich ist das jedenfalls nichts!«, kam die geflüsterte Antwort. Es klang ein wenig geringschätzig.
Die junge Frau warf ihm einen kurzen Blick zu. Funkelte da eine Prise Spott in ihren klaren grau-grünen Augen? »Das glaube ich dir gern!«, sagte sie trocken und richtete dann wieder ihre volle Aufmerksamkeit auf Doktor Seefeld.
»Unser Beruf hat so viele unterschiedliche Seiten«, sagte er gerade. »Und bitte, glauben Sie mir: das, was davon in diesen amerikanischen Arztserien gezeigt wird, entspricht in den seltensten Fällen der Wirklichkeit. Obwohl es schon Spaß macht, sich anzuschauen, wie Ärzte die Wohnung eines Patienten, der mit unklaren Symptomen im Krankenhaus liegt, stürmen, alles auf den Kopf stellen und unter den Füßen des Bettes genau den Erreger nachweisen, der eigentlich gar nicht existieren dürfte.«
Die Studenten grinsten. Sie wussten genau, wovon der Doktor sprach.
Freundlicher Applaus der Studenten begleitete Sebastians Abgang aus dem Seminarraum. Neben ihm ging Susanna, eine leitende Oberärztin hier im Haus, die ihn zu diesem Vortrag eingeladen hatten. Als kleine Kinder hatten Sebastian und Susanna gemeinsam die Schule in Bergmoosbach besucht.
»Hast du Lust, noch auf einen Kaffee mit in mein Büro zu kommen?«, lud Susanna ihn ein. Im Stillen fragte auch sie sich, weshalb ein so erfahrener und vielseitiger Mediziner (und nebenbei bemerkt, ein äußerst charmanter Mann) wie Sebastian Seefeld diesen Weg einschlug. Susanna hatte sich für den Vortrag ein wenig freie Zeit organisiert, und es wäre doch nett, das mit einem kleinen privaten Zusammentreffen abzuschließen.
»Tut mir leid, Susanna, danke für die Einladung, aber ich habe jetzt keine Zeit mehr. Ich muss gleich zurück nach Bergmoosbach fahren«, antwortete Sebastian.
Susanna bemühte sich, ihre Enttäuschung zu verbergen. »So schnell schon? Ich dachte, dein Vater übernimmt am Donnerstag die Praxis für dich.«
»Das schon«, erwiderte der Mann, schon halb auf dem Absprung. »Aber da ist vieles, worum ich mich kümmern muss. Bye, Susanna.« Der fremdsprachige Abschiedsgruß war herausgerutscht, ehe Sebastian es verhindern konnte. Entschuldigend zuckte er die Achseln. »Macht der Gewohnheit! Ich wollte natürlich sagen: pfiat di, Sannerl.« Er verabschiedete sich mit einem Augenzwinkern und verschwand um die Biegung des Ganges.
Aha, er musste sich also kümmern, der Sebastian … Am liebsten hätte Susanna jetzt ein Gesicht gezogen, aber sie besann sich gerade noch rechtzeitig darauf, wo sie war und wer sie war. Auf gar keinen Fall das kleine Schulmädel, das zornig wurde und Sebastians Ranzen aus dem Fenster pfefferte, weil der Bub nicht mit ihr zum Schwimmen an die Sternwolkenseen gehen wollte!
Und was das betraf, worum er sich in seinem neuen Leben kümmern wollte – nun, das ließe sich herausfinden. Susanna beschloss, Bergmoosbach beizeiten einen Besuch abzustatten und das Leben im Doktorhaus ein wenig unter die Lupe zu nehmen.
*
Die Heimfahrt konnte Sebastian trotz der sorgenvollen Gedanken, die um seine Tochter Emilia kreisten, genießen. Er liebte den Anblick der sattgrünen Wiesen und Weiden, die Berge im Hintergrund, welche wie blau verschleiert wirkten, und die Ruhe, welche über der Landschaft lag. Er fuhr bewusst langsam, mit geöffnetem Fenster, um den unvergleichlichen Duft der Heumahd tief in sich aufzunehmen. Glockenblumen leuchteten blau neben dem Gelb von Arnika und Gämswurz, Kamille und leuchtender Klatschmohn wiegten sich im Sommerwind. Hinter den Zäunen jenseits des Weges weideten Milchkühe oder lagen dösend in der Sonne. Von den Hügeln grüßten vereinzelt alte Höfe zu ihm herab, er konnte den tiefroten Geranienschmuck an den hölzernen Balkonen erkennen. Obwohl Sebastian gut zwei Jahrzehnte lang im Ausland gelebt hatte, spürte er, dass seine Wurzeln hier lagen. Zwar liebte er nach wie vor die Großartigkeit der kanadischen Natur und auch das pulsierende Leben in der Millionenstadt Toronto am Ontariosee, aber hier war er geboren und aufgewachsen. Die Landschaft, das Brauchtum, die Wesensart der Menschen hier lagen ihm im Blut. All das begrüßte ihn wie ein alter Freund.
Aber Emilia kann es nicht so empfinden, dachte der besorgte Vater, für sie ist Kanada die Heimat. Das Einleben hier fällt ihr sichtlich schwer; was ist nur aus dem fröhlichen, strahlenden Mädchen geworden! Und nun schmeckte auch das Essen nicht mehr.
American Pancakes, das ist es! Diese kleinen amerikanischen Pfannkuchen mit Blaubeeren und Ahornsirup, dazu hauchdünn geschnittenen und kross gebratenen Speck, überlegte Sebastian. Wann hat sie das zum letzten Mal gegessen? Bis auf den Ahornsirup hat Traudel die Zutaten bestimmt im Haus, und um den Rest kümmere ich mich.
Voller Vorfreude auf das Essen hielt Sebastian vor einem kleinen Supermarkt, griff sich einen der Einkaufskörbe und machte sich schwungvoll auf die Suche nach dem Ahornsirup.
Vielleicht ein wenig zu schwungvoll, denn als er um das Regal mit dem Zwieback und anderen Backwaren bog, rannte er eine Frau buchstäblich um! Und weil Sebastian Seefeld ziemlich groß und breitschultrig war und die Frau klein und zart, verlor sie das Gleichgewicht und landete unsanft auf einem Podest mit gestapelten Konservendosen, welche mit beachtlichem Getöse zu Boden gingen und durch den Laden kullerten.
»Um Himmels willen, haben Sie sich verletzt?« Besorgt kniete Sebastian sich vor die junge Frau.
Sie saß leicht benommen auf dem Podest, auf dem sich eben noch jede Menge Ananas- und Pfirsichdosen befunden hatten, und schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht«, murmelte sie. »Das mag ein paar blaue Flecken geben, die Ränder der Konservendosen sind nicht gerade weich, aber das ist nicht wirklich schlimm.«
»Und ob!«, widersprach Sebastian. »Es können Prellungen dabei sein, die sehr unangenehm sind. Lassen Sie sich vorsichtshalber untersuchen. Ich bin Arzt, meine Praxis ist gleich die Straße hinauf.«
»Kommt nicht infrage!«, antwortete die junge Frau energisch. Das Aufsehen, das sie mit dem lauten Gepolter erregt hatte, war ihr schon mehr als peinlich. Wie neugierig schon wieder alle herschauten! »Wer wird denn wegen einiger blauer Flecken zum Arzt gehen.« Sie war schon wieder auf den Beinen und sammelte ihre Lebensmittel ein, die aus dem Einkaufskorb gefallen waren. »Ich möchte jetzt nur nach Hause!«
»Bitte, nehmen Sie diesen Zusammenstoß nicht auf die leichte Schulter!«, warnte Sebastian. »Vielleicht sind …«
»Marie? Marie Legrand? Bist du das wirklich?« Eine hohe und etwas atemlose Klein-Mädchen-Stimme unterbrach den Satz des Arztes. Die Stimme gehörte zu einer jungen Frau mit langen superblonden Haaren, unter denen goldene Creolen schaukelten. Himmelblaue Augen, die von unnatürlich langen und tiefschwarzen Wimpern umrahmt waren, schauten mit einer Mischung aus Dramatik und überraschter Wiedersehensfreude auf die andere Frau. »Ja, da schau her! Die Marie Legrand ist wieder daheim!«
»Grüß dich, Lisa!«, konnte sie gerade noch antworten, ehe sie in einer heftigen Umarmung der Blondine verschwand. Unter allerhand Gekreisch und Begeisterungsrufen wurde sie von ihrer aufgeregten Freundin willkommen geheißen.
»Ja, grüß dich auch, Marie, grüß dich! Ja, ist das eine Überraschung, dich hier zu sehen, damit hab ich gar nicht gerechnet! Wir dachten alle, du bleibst in Frankreich mit deinem Fabian. Und schon bist du wieder hier, so kurz nach der