»Möchtest du ein Glas Wasser?«, erkundigte sich Anton.
»Danke, nein, ich wollte nur etwas abgeben, ich bin auch schon wieder fort.« Sie drückte Anton den Karton in die Hand und eilte aus dem Haus.
Sebastian befestigte gerade Emilias Fahrrad in der Halterung an der Rückseite des Geländewagens, als sie die Tür hinter sich zufallen ließ. Sie winkte ihm freundlich zu, als er sich noch einmal umdrehte, bevor er gleich darauf zu Emilia und Anna ins Auto stieg.
»Ade, Anna«, murmelte Miriam und lachte in sich hinein.
»Das ist ein Feldweg, keine Rennstrecke!«, rief Markus Miriam nach, die kurz nachdem Sebastian den Hof verlassen hatte, in ihren Wagen stieg und das Gaspedal so hart durchtrat, dass sie erst einmal ein paar Meter über den Sandweg schlitterte, bevor sie das Auto wieder abfing.
»Rücksichtsloses Frauenzimmer«, murmelte Pia, die mit den Zwillingen bei den Ziegen gewesen war, die hinter dem Haus auf der Wiese grasten.
*
»Harald, in zehn Minuten bei mir!«, rief Miriam in die Freisprechanlage ihres Telefons, das in einer Halterung am Armaturenbrett des Sportwagens steckte.
»Was ist los?«
»In zehn Minuten«, wiederholte Miriam und beendete das Gespräch.
*
Der Biergarten der Brauerei war wie jeden Abend gut besucht. Die Tische und Bänke standen im Hof des roten Backsteingebäudes direkt neben dem Bach, in dem sich schon so mancher nach einem langen Abend abgekühlt hatte.
Kurz vor sieben betrat Miriam den Biergarten. Sie trug ein cremefarbenes Dirndl mit rotem Schürzchen, ein rotes Samtband um den zarten Hals, und sie hatte ihr Haar zu einem Kranz geflochten, den sie am Hinterkopf festgesteckt hatte. Für das, was sie jetzt vorhatte, war sie perfekt zurechtgemacht. Sie steuerte auch gleich auf den Tisch des Landfrauenvereins zu, der an lauen Sommerabenden immer gut besucht wurde. Die Damen hielten sich gern über die Geschehnisse im Dorf auf dem Laufenden. An diesem Abend saßen aber erst zwei der Damen am Tisch, aber es waren genau die richtigen.
»Therese, meine Liebe, wie schön, dich zu sehen«, begrüßte Miriam die Vorsitzende des Landfrauenvereins, eine staatliche Frau um die fünfzig, die in ihrem dunkelblauen Dirndl und mit dem früh ergrauten Haar erschreckend streng aussah. »Darf ich mich zu euch setzen?«, fragte sie.
»Freilich, setz dich her«, forderte Elvira Draxler, die Therese gegenüber saß, sie auf.
»Schönes Dirndl, es passt zu dir«, sagte Miriam und schaute auf das graue Dirndl, das Elvira, die größte Tratsche im Dorf, trug. In Wirklichkeit stand ihr das Kleid überhaupt nicht, weil es ihre blasse Haut und ihr aschblondes Haar noch mehr unterstrich. Unscheinbar und blass, letztendlich passt dann doch alles zusammen, dachte Miriam.
»Danke«, erwiderte Elvira lächelnd, weil sie Miriams Kompliment ernst nahm.
»Ein kleines Weißes, bitte!«, rief Miriam der Kellnerin in dem grünen Dirndl zu, die genau wir ihre beiden Kolleginnen mehrere Maßkrüge auf einmal an die Tische schleppte. »Ich war vorhin übrigens auf dem Mittnerhof«, sagte sie und legte eine Kunstpause ein, während sie zuerst Therese und danach Elvira ansah.
»Wie geht es Sabine?«, erkundigte sich Therese.
»Den Umständen entsprechend.«
»Du weißt, warum der Rettungshubschrauber kommen musste?«
»Ihr wisst es nicht?«
»Nein, woher denn? Anton hat nur vor sich her gebrummt, wenn jemand ihn darauf angesprochen hat.«
»Es muss aber unter uns bleiben.«
»Selbstverständlich«, beteuerte Elvira mit glänzenden Augen, und sie und Therese rückten ganz dicht an Miriam heran.
»Ich sage nur Querlage.«
»Eine Querlage? Das kündigt sich doch vorher an. Sie hätte Sabine rechtzeitig ins Krankenhaus überweisen müssen«, stellte Therese entrüstet fest.
»Eben, stattdessen endete das Ganze in einem Notfallkaiserschnitt. Ohne Sebastians Eingreifen hätten Sabine und das Kind…«
»… es nicht überlebt«, vollendete Elvira den Satz, als Miriam innehielt, so als wagte sie es nicht, das Schreckliche auszusprechen.
»Sebastian befürchtet, dass sich solche Dinge wiederholen.«
»Er muss dieser Dame das Handwerk legen«, erklärte Elvira.
»Er wird es versuchen, aber er muss sich auch an die ärztliche Schweigepflicht halten.«
»Die Bergmann hat Leben gefährdet, da muss es Möglichkeiten geben, die Schweigepflicht aufzuheben.«
»Du hast recht, Therese, aber sie könnte den Fall auf andere Weise darstellen als Sebastian.«
»Dann muss Sabine gegen sie aussagen.«
»Sabine ist noch zu geschwächt, um über so etwas nachzudenken, und Anton ist erst einmal froh, dass beide überlebt haben. Außerdem…«
»Was?«, hakte Elvira nach.
»Anna Bergmann ahnt natürlich, was auf sie zukommen könnte, deshalb versucht sie, Sabine und Anton zu beschwichtigen. Sie besorgt ihnen Holz für die anstehenden Reparaturen auf dem Mittnerhof, sie kauft stapelweise Gutscheine in der Drogerie, die sie Sabine überlässt, und wer weiß, was sie sich sonst noch so ausdenkt.«
»Ein raffiniertes Weib«, murmelte Elvira.
»Richtig, deshalb müssen wir aufpassen, dass sie Sebastian nicht mit in den Sumpf zieht«, seufzte Miriam und spielte die Besorgte. »Vielleicht können wir das aber gar nicht mehr verhindern«, fügte sie nachdenklich hinzu und senkte den Blick.
»Wie meinst du das?«, fragte Therese.
»Ich befürchte, sie stellt ihm nach, um ihn auf gewisse Weise gütig zu stimmen. Wenn ihr versteht, was ich meine?«
»Sie schreckt wohl vor gar nichts zurück.« Elvira schüttelte fassungslos den Kopf. »Ach, Gott«, seufzte sie und betrachtete Sebastian, der gerade den Biergarten betrat, mit sehnsuchtsvollem Blick.
Und sie war nicht die einzige, die in diesem Moment nur Augen für den Mann in der dunklen Jeans und dem weißen figurbetonten Hemd hatte, der einmal mehr den Atem der weiblichen Gäste im Biergarten ins Stocken brachte.
Mit einer schnellen Bewegung strich er sein dunkles Haar aus dem Gesicht, als er sich nach freien Plätzen umschaute. Einige Damen, die dabei einen Blick auf seine hellen grauen Augen werfen konnten, starrten ihn hemmungslos an.
»Hallo, Sebastian, was für ein netter Zufall.« Miriam war ihm entgegengegangen, küsste ihn auf beide Wangen und erntete damit neidvolle Blicke.
»Hallo, Miriam«, antwortete er höflich.
»Bist du mit jemandem verabredet?«
»Ja, das bin ich, entschuldige mich«, sagte er, als er an einem Tisch mit Urlaubern noch freie Plätze entdeckte.
»Weißt du was, ich leiste dir ein bisschen Gesellschaft«, erklärte sie, nachdem er sich an den Tisch gesetzt hatte.
»Hörst du nicht zu? Ich bin verabredet.« Sebastian schaute auf den Bach, der hier in einem schmalen Bett durch das Dorf floss und von dem ihn nur ein grasbewachsener Abhang trennte. Wie klar das Wasser ist, dachte er.
»Sebastian, ich brauche deine Hilfe«, stöhnte Miriam, nachdem ihr Handy gesurrt hatte und sie die SMS gelesen hatte, die Harald ihr geschickt hatte:
»Anna ist unterwegs.«
»Was ist los?«, fragte Sebastian und wandte sich ihr zu.
»Mir ist nicht gut, der Kreislauf, weißt du. Sei bitte so nett und bringe mich nach Hause, ehe es schlimmer wird. Du bist doch