Er hatte es sagen müssen; eine unwiderstehliche Gewalt hatte ihn dazu gedrängt, als sei das Verfluchte fort von ihm, wenn er es ausspreche. Nun aber seine Stimme, fremd und sicher wie die eines Anklägers, der neben ihm stehe und alles wisse, in sein Ohr geklungen hatte, fühlte er einen Druck sich auf sein Hirn legen, der zunahm und so stark wurde, daß es war, als schrumpfe sein Kopf zusammen.
Vor seine Augen legte sich eine immer mehr verdunkelnde Wolke. Er mußte die Ofenkante krampfhaft hinter dem Rücken mit den Händen fassen. Alle Gegenstände in der Stube verschwanden, als wollten sie in die Luft aufschwanken.
Endlich war die Schwäche vorüber, und Exner sah wieder ganz deutlich den bunten Stieglitz im Käfig umherspringen. Das machte ihm ein so großes Vergnügen, daß er lachte und lachte, bis ihm die Tränen in die Augen traten.
Schließlich zwang er sich zum Ernste und sprach trocken:
»Na, Paule, komm, wir wern suchen gehen.«
Das Mädchen erhob sich und folgte ihm ins Haus. Dort drückte sie sich an dem Klumpen vorbei, sprang flüchtend zur Haustür hinaus und rief herein:
»Adje, Exner! Mich fängste nich!«
Der Lahme sah ihr nach und lachte wieder, aber nun klang es, als flattere ein geständertes Huhn zur Erde. Jäh brach er ab, sah sich erschrocken um und ging mit ernstem, bleichem Gesicht wieder in die Scheuer. Marie saß unbeweglich in der Stube und sah mit weit geöffneten Augen starr auf die Diele, als stehe dort eine unsichtbare Schrift, die sie ganz genau zu lesen vermöge, deren Inhalt aber so entsetzlich war, daß sie von einem Taumel erfaßt wurde.
Warum war ihr Mann nicht aufbrausend gewesen? Warum hatte er sich, entgegen seiner Gewohnheit, in ein langes Gespräch eingelassen? Warum hatte er so grauenvoll gelacht?
Die Antwort stand dort auf der Diele zwischen den Reihen schwarzer Nagelköpfe.
Über das Glück, das sie in sich trug, legte sich ein Schleier, der die schönen Bilder ihrer Hoffnung einhüllte und still entführte. Wie ein abgeerntetes Feld war ihre Seele, und hinter dem schwankenden Grau, das die Träume abräumte, blieb eine wüste, leere Fläche zurück, gleich dem umgebrochenen Stoppelfelde, das aussieht wie ein Friedhof, mit unzähligen, frisch aufgeworfenen Hügelchen.
»Alle meine Zukunft ist tot«, sann sie, »begraben und beginnt zu verwesen.« Ja, und plötzlich nahm sie wirklich jenen süßlichen, beklemmenden Geruch wahr, der von Leichen ausgeht. Hastig holte sie Atem, aber es verhielt sich so. Nun schmeckte sie ihn auch.
In Angst aufspringen, die Tür aufreißen und im Hause atmen war eins. Der Geruch lag auch hier.
Sie hielt den Atem in gespannter Brust an und das Herz mitten im Schlage, trat vor die Haustür und öffnete den Mund, um draußen in der frischen Winterluft diese schreckhafte Sinnestäuschung loszuwerden. Aber kaum hatte der kalte Strom ihre Zunge berührt, so rief sie mit gellender Stimme: »Karla! – Karla!«
Sein großer Kopf kam zögernd aus der niederen Scheunentür heraus. Auf seinem Gesicht malte sich verzweifelte Erwartung. Als er niemand als sein Weib sah, wollte er sich still wieder zurückziehen.
Allein Marie rief in höchster Aufregung:
»Karla, komm raus und riech!«
Er überlegte einen Augenblick, zwang dann ein Lächeln auf sein Gesicht, trat heraus und roch in die Luft. Er wollte einen Spaß machen; die Worte blieben ihm aber wie eine Rinde auf der Zunge sitzen. Mit Mühe zerrte er endlich die Frage hervor:
»Wonach soll's denn riechen?«
»Nu, riechst du nischt? 's riecht nach Toten!«
Dem Lahmen war es, als solle er umfallen. Doch in namenloser Anstrengung lächelte er immerzu, der Schweiß trat aus seiner Stirn, und hilflos ruhte sein erlöschendes Auge auf Marie. Die Zähne im Munde schlugen aufeinander, und gehaucht, als sage es seine Seele, ohne sich der Sprechwerkzeuge zu bedienen, kam es über seine Lippen:
»Der Schuster fault.«
Niemand hatte es gehört, selbst sein Ohr nicht. Aber an seinem Herzen war das Bekenntnis nicht spurlos vorübergegangen. Und merkwürdig, dieses Selbstgeständnis ward eine Befreiung. Der Taumel fiel in ihm zusammen, der Schreck verschwand, kein Hämmern auf den Nerven, sein Auge kalt und still.
Er warf seinem Weibe einen geringschätzigen Blick zu und kehrte, ohne weiter ein Wort zu sprechen, in die Scheuer zurück.
Dort legte er sich aufs Stroh und genoß die Wandlung seiner Natur. Das Gefühl unbeschränkter Sicherheit kam immer stärker über ihn. Er stand unerreichbar über allen Menschen. Hatte seine Seele früher nur eine undeutliche und sehr verschrobene Ansicht über Gut und Böse gehabt, so war dieser Unterschied jetzt ganz ausgelöscht. Nicht, als ob der Lahme das gewußt hätte; es zeigte sich nur, wie er darüber nachsann, den Verfolgern zu entgehen, die ihn umringten, und deren Zahl täglich wachsen mußte. Ohne die geringste Scheu begann er jetzt über seine Lage nachzusinnen.
Er hatte, wenn auch ohne die Hand zu rühren, den Säufer in den Brunnen getrieben. Anstatt sich darüber Vorwürfe zu machen, geriet er in einen Zorn über den Dämelack, der durch eine Ungeschicklichkeit ihn in eine solche Klemme gebracht hatte. Was mußte zunächst geschehen? Wie wär's, wenn er die Leiche herausholte und irgendwo im Walde verscharrte! – Das ging nicht. Seiner Frau konnte es kaum verborgen bleiben, wenn er in der Nacht herunterstiege, und dann die Gefahr für ihn. Ein Fremder? Nein, das hieße den Kopf bald in die Schlinge legen.
Das beste war, die Sache drauf ankommen zu lassen. Er schlug sich alle Bedenken aus dem Kopfe. Was hatte er auch zu befürchten! Niemand konnte beweisen, er habe den Tod des Schusters verschuldet oder den Menschen getötet oder die Grenzsteine vernichtet. Aber indem er das sann, stieß er auf einen Umstand, der ihn doch besorgt machte! –
Die Grenzsteine! – Wenn durch irgendeinen Zufall Klose im Brunnen gefunden würde, so mußte man auch die Grenzsteine dabei entdecken.
Das war wirklich die einzige Gasse, auf welcher das Verderben ihn erreichen mußte.
Er wühlte sich tiefer ins Stroh, nahm einen Halm zwischen die Zähne und grübelte, wie er dieser Gefahr entrinnen könne.
Es kostete ihn anfangs Mühe, die Möglichkeiten scharf zu erwägen und auseinanderzuhalten, weil er die geistige Arbeit gar nicht gewöhnt war. Allein die unausgesetzten Qualen der letzten zwölf Tage hatten seinen Geist auf einen Punkt zusammengerissen und geschärft. Es zeigte sich, daß er gar nicht der beschränkte Klumpen war, für den ihn die Leute hielten. Durch sein frühes Unglück am Ausflug gehindert, in eintöniger Umgebung und seinem trotzigen Vorsätze verkümmert, war er geistig zurückgeblieben. Dafür hatte sich sein Wille übermächtig entwickelt. Mit dieser unbeugsamen Hartnäckigkeit bestand er nun auf seiner Rettung. Nach langen Stunden war der Plan dazu fertig.
Er wollte Steine herbeischaffen und in den Brunnen schütten. Immer unter zwei Kastenkarren mußten ein oder zwei verwitterte Grenzsteine vermischt werden, die er auf einem fremden, entfernten Felde oder im königlichen Walde nächtlicherweise heraushob und ungesehen im Sack nach Hause trug. Damit wurde die Entdeckung der Leiche des Schusters, konnte er seine Frau zur Verschwiegenheit bringen, vereitelt. Stieg die Polizei, die bei der Aufregung der Umgegend dem Verschwinden des Schusters nachforschen mußte, dennoch in den Brunnen, nun, so fand man eben den Toten, und er konnte ruhig hundert Eide schwören, daß er sein Unglück nicht verschuldet habe. Gleichzeitig mußte das Vorhandensein so vieler Grenzsteine die Begebenheit des Grenzfrevels vollkommen verwirren. Und wenn er sich nicht gar zu tölpelhaft stellte, konnte er hoffen, wenn auch nicht ungerupft, noch einmal aus der ganzen Verwicklung herauszukommen. Befriedigt richtete sich Exner auf. Freilich würde seine Frau sich über die ganze Steinfahrerei wundern und mißtrauisch, wie sie schon einmal war, ihn mit allerhand Verdächtigungen quälen. Da wollte er ihr denn sagen, daß das teilweise