Er hatte die Absicht gehabt, den Lahmen zu verhaften, weil es ihm unabweislich sicher schien, die Leiche des Schusters liege im Brunnen. Im nächsten Augenblick war aber durch den Gedanken an eine Blamage, wenn eine Katze, ein Hund oder gar nichts da unten im Loche gefunden würde, seine sensenscharfe Sicherheit verschwunden, und er machte sich mit dem Vorsatz auf, erst die Veranlassung des pestilenzartigen Gestankes zu erforschen und dann mit zwingender Berechtigung zu tun, wozu ihm seine Hand juckte. Zudem war es elf, sein Magen leer und seine Kehle von dem vielen Sprechen rindetrocken. Mit eiligen, langen Schritten steuerte er der Schenke zu. Sein Säbel schlug an die Schäfte der langen Stiefel. Allmählich verlor sich das klirrende Klatschen in der Weite.
Der Lahme wagte nicht, sich zu rühren. Der weggeschaufelte Schnee kauerte wie eine Schar lauernder weißer Katzen um ihn, die bei jedem Schlag des Säbels aufsprangen, wild durcheinanderquirlten und sich wieder hinhockten. Wie die Schritte mit dem Geklirr immer undeutlicher wurden, beruhigte sich der Schnee, und als es ganz still war, lagen die tausend Weißen Schaufelbrocken regungslos um ihn und glotzten zu ihm hinauf wie die Totengesichter bis an den Hals eingegrabener Menschen.
Exner hatte eine Zeitlang die Gewißheit, daß sie alle anfangen müßten zu schreien, wenn er nur den Versuch mache, sich zu rühren.
Endlich wagte er sich umzudrehen und gewahrte Marie am Fenster stehen, das verfallene Gesicht an die Scheibe gedrückt, so, als sei sie längst gestorben, von einem Unbekannten aufgehoben und gegen das Licht gelehnt worden. Er wußte, sie sei vor dem Schließeisen des Wachtmeisters so erschrocken, und um ihr zu zeigen, daß das Erheben und Hinstrecken seiner Hände vorhin keinen andern Grund als den einer schrullenhaften Gewohnheit von ihm gehabt habe, hob er die Hände abermals gegen den Brunnen und besah sie sich genau, als wisse er gar nicht, daß sein Weib ihm zusehe. Dann begann er mit der Rechten den Schwengel zu bewegen und streckte die Linke unter das Ausflußrohr, damit es den Anschein habe, er wasche sich die Hände. Es kam kein Wasser. Er pumpte mit zwei Händen. Die Röhre blieb trocken. Nun riß er den Schwengel in wilder Hast auf und nieder. Das Brunnenhäuschen schütterte, die Kolbenstange ächzte auf und ab. Das Wasser blieb aus. Darum stellte er sich nach ein paar heftigen Schwüngen mit dem Schwengel dicht an das Häuschen und wusch sich die Hände in der Luft, trat zur Seite, schlug sie sich trocken, ging in die Stube, faßte Marie um den Leib und setzte sie auf die Bank an den Tisch.
Marie sagte kein Wort, sondern sah in der Richtung ihres Gesichtes gradeaus.
Dem Klumpen war es gar nicht mehr zweifelhaft, daß auch sie wisse, alles sei aus.
Nachdem er eine Weile mit zwischen die Knie geklemmten Händen gesessen hatte, waren ihm drei Pläne gekommen. Er mußte Steine in den Brunnen werfen, um seine Untat zu verbergen, es war notwendig, selbst die Auffindung des Schusters zu betreiben, um den Verdacht der Täterschaft von sich abzuweisen; er mußte ohne Auf- und Umsehen alles stehen- und liegenlassen, um nur sich in Sicherheit zu bringen.
Er erhob sich und schritt unverzüglich zu deren Ausführung.
Im Schuppen warf er den Reisigstoß vollends auseinander, trug die vier gestohlenen Grenzsteine heraus und zerschlug sie mit dem eisernen Pürdel in kleine Stücke. Diese lud er in einen Kastenkarren und fuhr sie an den Brunnen. Dort ließ er sie stehen, hob eine Feuerleiter vom Dach, holte die andere hinter dem Hause herbei und band beide mit Stricken aneinander.
Darauf trat er ins Haus, zog sich um und ging ins Dorf, kalt und steinern, wie ein harter Mann in unaufschiebbarem Geschäft einherschreitet.
Er fand den alten Freiwald bei seiner Winterarbeit, der Fabrikation von Wirtschaftsgeräten. Als der Klumpen in die kleine Stube eintrat, erhob sich der Greis betreten, rückte die große Brille auf seine Stirn hinauf und bot ihm einen Stuhl an. Kurz, ohne Umschweife trug Exner ihm seine Bestellung auf: der alte Brunnenbauer solle morgen früh einmal zusehn, was es für eine Bewandtnis mit seinem Born habe. Seit Tagen sei das Wasser ausgeblieben. Er, Exner, könnte ja den Brunnenbauer aus Petzdorf holen, aber Freiwald habe nun mal den Born getrieben und werde darum die Sache gründlicher machen als irgendein anderer. Die Feuerleitern seien aneinandergebunden, alles liege parat, er selbst könne nicht zugegen sein, weil er Termin habe.
Freiwald machte diese und jene Einwendungen. Der Lahme beschrankte sich darauf, seinen Auftrag zu wiederholen, gab dem Alten freundlich die Hand und ging. Auf dem Dorfwege wußte er plötzlich nicht mehr, was beginnen; es ging immerfort etwas wie ein sumsender Wind durch seinen Leib, und der Laut seiner Schritte schien von den Bergen umher auf ihn herabzufallen. Er nahm die Mütze ab, damit das Pochen von den Höhen her aufhöre. Das Kollern in der Luft über ihm dauerte an. So entschloß er sich, auf den Eschberg zu steigen. Das macht jeder, wenn ihm so was passiert. An der Wegscheide, wo ein Steig links jach emporklomm, der andere am Rande hin sich nach dem Fuchsloche abzweigte, hatte er seinen Vorsatz schon wieder vergessen und schritt seinem Vaterhause zu. Auf halbem Wege, unter den Erlen eines Tümpels, stand plötzlich sein Bruder Joseph vor ihm. Er trug einen halben Sack Brotgetreide auf der Schulter und wollte zur Mühle.
Nach der Begrüßung fragte der Jüngere:
»Nu, Karla«, wohin willst'n du?«
Der Lahme war versucht, seines Bruders weiche, hohe Stimme spöttisch nachzuäffen, unterdrückte aber den Drang und antwortete:
»Zu dir. Du wirst wohl wissen, wie's mit meiner steht, und da ich morgen in de Stadt zum Termin muß...«
»Ja'ch, wie weit is'n, wie stets'n mit'm Freirichter?«
Ohne auf seine Unterbrechung zu achten, fuhr der Lahme fort:
»Da möcht ich Marie nich alleene lassen, denn ma weeß immer nich, was mit'r wird, 's is schon zu nahe.«
»Nu denk, 's wird nich gut gehn, jedoch aber ...«
»Jedoch aber«, fiel der Klumpen ein und stieß ein häßliches Lachen aus. »Was denn, ›jedoch aber‹! Ha ich amal ›jedoch aber‹ gesagt, wenn de Zinse nich zum Punkte kam?«
»Nu, Karla, siehch och, mir han selber een kranke Kuhe, un drnach muß ich eigentlich morgen nach Rolling. Endlich is doch aso weit.«
»Ich bin kee Leiermann, un was geht mich deine Rollinger Geschichte an!«
»Du brauchst doch nich schon wieder wilde zu wern.«
»Nach, was is dir lieber, du gibst mir zu Johanni de tausend Taler, oder de Kathe kommt morgen un bleibt bei dr Marie.«
»Aber, Karla, wir sein doch Brüder. Muß mr denn immer Prügel reden.«
»Brüder! Ich kenn' dich! Dir war's am liebsten, ich hinge morgen schon am Galgen.«
Nach diesem Aufbegehren begann der sumsende Wind den Leib des Lahmen wieder auszuhöhlen. Eine nicht zu bemeisternde Angst bemächtigte sich seiner.
Mit erlöschender Stimme bat er:
»Joseph, um Himmels, Maria Christi willen! Tu mr den eenzigen Gefallen und schick mr de Kathe morgen. Du weeßt nischt, gar nischt, und ich kann dir nichts sagen.«
Dann wurde es grau um ihn, er hörte und sah nichts mehr.
Als er wieder aufschaute, saß er mutterseelenallein auf einem Stein und hielt einen Ballen Schnee in der Hand, den er mit steifen Fingern knetete. Ein leiser Wind blies da und dort Schleierchen aus der Schneedecke, die wie stumme Vögel eine Strecke hinflogen und sich dann wieder niederließen. Es war ein eiliges Huschen rund um ihn.
»Kommt och, immer kommt«, murmelte er drohend auf das Spiel des Schnees hin, »immer kommt!«
Nachdem er das dreimal gesagt hatte, fiel es ihm ein, sich seinem Bruder gegenüber verraten zu haben. Nun blieb ihm weiter nichts mehr übrig, als sofort zu fliehen. Durch den Wald eilte er nach Hause, warf sich auf die Radwer, fuhr sie ins Feld und überschaufelte sie mit Schnee. Dann band er die Feuerleitern auseinander. Den letzten Knoten konnte er nicht lösen, ließ alles liegen, lief auf die obere Stube, steckte das Sparkassenbuch in die Rocktasche und ging dann noch einmal auf den Heuboden, um zu sehen, wie lange er mit dem Futter reichen werde. Das Mondlicht hing durch die Dachluke, und bei dem Winde war es,