Das Verschwinden des Klose-Schusters reizte die Neugier der Leute am meisten, die, durch die Kälte in engen Wohnungen zusammengepfercht, gemeinsam an der Entwirrung des Rätsels arbeiten konnten.
Es bildeten sich die verschiedensten, widersprechenden Gerüchte: er sei im Walde erfroren, er sitze wegen Landstreichens im Gefängnisse. Diese Meinungen tauchten anfangs auf und waren einfach und natürlich. Aber sie vermochten das Interesse nicht dauernd zu fesseln, und da sich nichts Neues ereignen wollte, so begann man, das Ereignis immer verwickelter zu erklären. In irgendeinem Dorfe war irgend was von irgend jemand gestohlen worden, ohne daß man dem Dieb auf die Spur gekommen wäre. Damit brachte man den Schuster in Verbindung und meinte, er habe sich auf Nimmerwiedersehen mit dem Raube über alle Berge gemacht. Bald war man auch dieser Erklärung überdrüssig und gestaltete ein dramatisches Gerücht. Leise, daß es niemand erfahre, erzählten sich alle, der Lahme halte den Schuster gefangen, nachdem er ihn halbtotgeschlagen, denn er sei beim Ausgraben der Grenzsteine von ihm ertappt worden. Ein Mann vom Eschberge wollte in der Frühdämmerung, da er nach seiner entfernten Arbeitsstelle ging, gesehen haben, wie Klose von dem Lahmen am Genick über das Feld geschleift worden sei. Er habe, hinter der Mauer stehend, alles genau gesehen, sei aber aus Angst vor dem Klumpen eilig davongegangen.
Die Abenteuerlichkeit dieser Version zog alle an, und jeder fand Gelegenheit, in ihren weiten Maschen noch eine oder die andere Variante anzubringen. Als das Gerücht einigemal die Runde durch alle Stuben gemacht hatte, war es zu einem Roman angewachsen, an dem niemand mehr zu zweifeln wagte.
Jeder erinnerte sich plötzlich einer Grobheit und Roheit des Lahmen; alle fühlten sich bedroht und beunruhigt, das mißhandelte Rechtsbewußtsein forderte Aufklärung.
So stellte sich vierzehn Tage nach dem Verschwinden Kloses seine Schwester Pauline, Paule genannt, auf dem Höfchen am Freibusche ein, um nach ihrem Bruder zu fragen. Sie traf Marie allein in der Stube.
Dem Mädchen hatte die Kalte arg zugesetzt, und ihr Körper bebte unter der ärmlichen Bekleidung. Die heikle Mission, welche sie unternommen hatte, um zu sühnen, was sie durch ihren Fehltritt am Bruder gesündigt, verstärkte die Schauer, welche von Zeit zu Zeit ihren Leib schüttelten. Nur das abgehärmte Gesicht, das in der ersten Jugend wohl einmal nicht unschön gewesen sein mochte, war leicht gerötet.
Zögernd trat sie ein, grüßte und schlug die Augen nieder.
Marie nötigte sie, auf der Bank Platz zu nehmen, und ließ sich selbst auf einem Stuhl ihr gegenüber nieder.
Da der Besuch, welcher Marie ganz unbekannt war, keine Miene machte, zu sprechen, sondern seine großen Augen neugierig und ängstlich durch den Raum gehen ließ, fragte das junge Weib:
»Na, was bringen Sie denn Scheenes, Jungferla?«
Paule wurde verwirrt, senkte die Augen und antwortete dann feindselig:
»Sie kenn' mich wohl; aber Se tun natürlich au, als wenn's nich wahr wär.«
»Un was sollte denn nich wahr sein?«
»Ich bin de Paule.«
»Ja, warum sollte denn das nich wahr sein? Wenn Sie's sagen, da wird's wohl stimmen.«
»Ach, Sie versteh« mich nich. Vo mei'm Bruder...« Sie brach ab und sah Marie aufmerksam an.
»Ihr Bruder... ja, wer is'n das?«
»Da sieht ma's, daß alls wahr is! Mein Bruder kenn' Se nich, Gustan, a Schuster, der de da aus und ein gegangen is? – Ma sieht's. Aber verlassen Se sich of mich, ich geh nich ehnder, bis ich a nich gesehn hab'!«
Sie nahm die blaue Schürze herauf und hielt den Zipfel vor den Mund.
»Ja, aso!... Ihr Bruder is der Klose-Schuster... hm, hm...«
Marie wußte nicht, wie es kam, daß sie unsicher wurde. Aus den großen Augen vor ihr, die eben noch feucht gewesen waren und nun so entschlossen zu leuchten begannen, da sie stotternd abgebrochen hatte, sprach der feste Wille, ein Rätsel zu lösen, das auch sie nun schon seit Tagen verfolgte. Das Verschwinden des Schusters kam ihr plötzlich auch geheimnisvoll vor, daß sie sich darüber wunderte, wie sie bisher hatte so gleichgültig bleiben können.
Das ging in ihr vor, indem sie einige Sekunden zögerte. Dann setzte sie gewandt ihre Entgegnung fort:
»Mein Gott, wer wundert sich groß, wenn Ihr Bruder fort is! Der is doch bale da, bale dort; er war am, um a zwanzigsten vergangenen Monat bei uns, hat mit zu Mittag gegessen, is nausgegangen, und dann hab' ich'n nich meh gesehn.«
Paule sprang auf, und indem sie an den Tisch trat, schleuderte sie mit bebender Stimme Marie den Verdacht ins Gesicht, den Steindorf und die ganze Umgegend hegten.
»Ha'ch«, beendete sie, »Ihrem Manne is alls zuzutraun! Dem is egal, ob der eene Katze oder een Mensch halbtotschlägt.«
Da erscholl Räuspern aus rauher Männerkehle.
Erschrocken kehrten sich die Frauen um.
In der Tür stand der Lahme. Ein Krampf ging durch seinen Körper. Die Arme hingen straff am Leibe herab, als trage er schwere Gewichte an seinen Fäusten, die fest geschlossen waren, daß die Knöchel weiß schimmerten. Sein Gesicht war fahl, die Augen lagen tief in den Höhlen, um seine schmalen Lippen stand ein regungsloses Lächeln, mehr eine starre Verzerrung.
Leise und bedachtsam schloß er die Tür, leise und langsam, den Kopf etwas seitlich geneigt, kam er näher.
Marie klopfte das Herz vor diesem furchtbaren Anblick. Sie wußte, daß er sich im nächsten Augenblick auf das Mädchen stürzen würde.
Aber es geschah nicht.
Etwa zwei Schritte vor ihr machte er halt und sah sie lange stumm an mit seinen kalten, bohrenden Augen. Dazu lächelte er verzerrt und stumm.
Paule öffnete den Mund, um zu sprechen, allein sie war so in der Angst, daß sie nicht ein Wort hervorbringen konnte. Mit offenen Lippen starrte sie ihn an, und Tränen traten in ihre Augen.
Der Lahme weidete sich noch eine Weile an ihrem Schrecken; dann sprach er, anfangs mit tiefer Stimme, deren Wanken ihr einen weichen Klang verlieh:
»Ich hab' alles gehört. 's is gut. Aber – sag's nich mehr ein zweites Mal. Setz dich, Paule, sag's nich mehr! Siehch dir meine Hände an. Sag's nich mehr!«
Die Drohungen waren immer wilder geworden; aber er begleitete sie mit einem freundlichen Zug im Gesicht, dessen man ihn nicht fähig gehalten hätte.
Dann fragte er: »Is Guste nich mei Kamerad vo dr Schule her?«
Niemand antwortete.
»Wer hat'm unter de Arme gegriffen, wie du, Paule, am Frühjahre ei dr Schande heemkamst? Ei der Schande, ohne 'n Böhmen Geld, zu deiner armen Mutter ei dr Schande! Was?«
Dem Mädchen strömten die Tränen über das gequälte Gesicht, und sie mußte die Zähne aufeinanderbeißen, um nicht laut aufzuschluchzen.
»Ja nu, da sollte ich deinen Bruder haun! Weshalb ich denn?«
Exner lachte nach diesem Ausruf schreiend, rüttelte die erhobenen Arme nach der Seite und wurde noch bleicher.
Jetzt wagte es Paule, zu antworten:
»'s heeßt, weil er un hat zugesehen, weil du ...«
Es ging doch über ihre Kraft, dem Lahmen die Beschuldigung direkt ins Gesicht zu sagen, und sie bückte sich auf ihren Fuß, als sei da etwas zu ordnen.
Exner lachte wieder, aber es war, als sitze sein Hals in einem Schraubstock. Der Schweiß brach aus seiner Stirn, und er trocknete sie mit zitternder Hand.
»Nu«, antwortete er dann, »ich weeß alls, was a Steindorfer Leuten de Köppe mit solchen Madenfliegen füllt. Haha, ihr, ihr! Ausgemachte Esel seid'r alle, sonst nischt. Wenn Guste wird wiederkommen, da wird er's euch sagen,